Page images
PDF
EPUB

Da sich die hier dargestellte Ethik an Herbarts praktische Philosophie anschliefst, und diese wiederum von Kant ausgegangen ist und teilweise auf dessen Arbeiten beruht, ist es zwar sachlich nicht nötig, aber geschichtlich doch angemessen, zunächst die Reform der Ethik durch Kant und alsdann die durch Herbart zu erörtern.

Die Reform der Ethik durch Kant.

Um den Ausgang und Verlauf der kantischen und nachkantischen Ethik zu verstehen und würdigen zu können, wird es zweckmäfsig sein, einen kurzen Vorblick auf die Gestaltung derjenigen Ethik zu werfen, als deren Reformator Kant aufgetreten ist.

Den durchschnittlichen Charakter dieser etwa von der Mitte des 17. bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland herrschenden Ethik erkennt man am sichersten, wenn man sich nicht sowohl an die einzelnen hervorragenden Philosophen wendet, sondern an die untergeordneteren, bei denen sich dasjenige, was in die allgemeine Überzeugung übergegangen war, am deutlichsten ausspricht. 1)

Unter Philosophie überhaupt verstand man damals den Inbegriff aller Wahrheiten, welche aus der Betrachtung der Dinge selbst, abgesehen von der christlichen Offenbarung (praeter revelationem) erkannt werden können. Aber obwohl man die Wahrheit mit der blofsen Vernunft erforschen wollte, so ging man doch noch nicht sofort so weit, diese als die inhaltliche Quelle der Wahrheit anzusehen, so dafs man durch ein aprioristisches Denken das System der Philosophie hätte aufbauen wollen, sondern man wandte sich an die Erfahrung und verstand unter der Vernunft nur die Thätigkeit, das Gegebene aufzufassen, es mit einander zu vergleichen und daraus neue Schlüsse zu ziehen.

1) Vergl. hierzu und zu dem Folgenden Just, die Fortbildung der Kantischen Ethik durch Herbart 1876.

Allihn, Ethik. 2. Aufl.

1

Nach der von den Alten überkommenen und auch sachgemässen Unterscheidung teilte man die Philosophie in Logik, Physik und Ethik ein. In der Logik sah man einen Vorhof, in welchem der Geist durch die richtige Methode des Denkens zur Erkenntnis befähigt wird. Die Physik sollte die geschaffenen Dinge und vermittelst ihrer den Schöpfer erkennen, die Ethik aber den Willen lenken. Obwohl also der Wille auch zu den Dingen gehört, welche zu erkennen sind, so wird doch der Ethik nicht dieses Geschäft aufgetragen, sondern nur das, die Regel für denselben aufzustellen. Sie ist also ihrer Tendenz nach eine von der Physik disparate Wissenschaft, wenn sie auch, wie sich sofort zeigen wird, durch die Art, wie man die Prinzipien für die Lenkung des Willens suchte, in eine Abhängigkeit von derselben geriet.

Während nämlich in der alten Philosophie unter den formalen ethischen Begriffen, der Tugend, dem Gute und der Pflicht, die beiden ersteren die Hauptgesichtspunkte gewesen waren, unter denen man das Sittliche betrachtet hatte, war durch den Einfluss des Christentums der Pflichtbegriff in den Vordergrund getreten; denn dieses fand die Norm des sittlichen Lebens in den göttlichen Geboten, und stellte noch dazu den Abstand des wirklichen Lebens von dem Ideale desselben in grofser Schärfe zu Tage. Freilich hatte man nun in der Philosophie von dem Inhalte der christlichen Offenbarung abstrahiert, aber die durch dasselbe eingewurzelte Form der ethischen Ansicht behielt man um so mehr bei, als die Erfahrung auch zunächst auf die Frage, wodurch der Wille gelenkt werden soll, mit dem Gesetze oder Gebote antwortet, welches den Willen bindet. Daher war in dieser ganzen Periode der Begriff des Gesetzes (als Korrelatbegriff der Pflicht) der oberste, welcher die Form der Ethik beherrschte. Hatte man nun die empirisch vorhandenen Gesetze in göttliche und menschliche geschieden und jene der Theologie, diese der positiven Jurisprudenz zugewiesen, so mufste die philosophische Ethik, dem allgemeinen Begriffe der Philosophie gemäfs, ihre Gesetze aus der Betrachtung der Dinge erkennen. (Man nannte sie daher anfangs Naturrecht, sogar auch jurisprudentia naturalis ein Name, welcher erst später auf einen Teil der Ethik, den Inbegriff der sog. natürlichen Zwangsgesetze beschränkt wurde.) Indessen

[ocr errors]

fühlte man, dafs man aus der blofsen Betrachtung der Dinge an und für sich kein den Willen bindendes Gesetz finden konnte. Denn das Gesetz ist, wie man richtig sah, der Ausspruch eines Willens, welcher für einen andern eine verpflichtende Autorität hat. Man griff also, um die bindende Kraft für das Naturgesetz zu finden, zum göttlichen Willen, dem man vermöge seiner Allmacht die bindende Autorität zuschrieb, da er im stande sei, „die Widerspenstigen zu zwingen". Diesen göttlichen Willen aber mufste man, da man praeter revelationem philosophierte, auch aus der Erkenntnis der Dinge zu gewinnen suchen. Daher sagte man: Ein Gesetz kann auf zweierlei Weise promulgiert werden, durch Wort oder durch That. Jenes hat Gott durch die Offenbarung gethan, dieses durch die Werke der Schöpfung.

Um aber aus diesen den Willen Gottes, sein Gesetz, zu erkennen, muss man den Zweck aufsuchen, zu welchem Gott die Dinge erschaffen hat. Hier ist nun der Punkt, wo die Ethik wieder unter die Botmässigkeit der Physik geraten musste, denn um die Zwecke der Dinge zu erkennen, musste man natürlich vorher ihre Natur erkannt haben.

Welches waren denn nun die fines rerum? Nach dem Satze, dafs das Unvollkommene um des Vollkommneren willen da sei, waren die vernunftlosen Dinge nur Mittel zum Zweck des Menschen. Der absolute Zweck des Menschen aber ist die Glückseligkeit (felicitas)! Denn die Betrachtung der Natur des Menschen lehrt, dafs er nichts lieber hat, als sich selbst, dafs er sich auf alle Weise zu erhalten und was ihm gut zu sein scheint zu erlangen, das Übel aber zu vermeiden sucht. Mit dieser natürlichen Erkenntnis aber, aus der Betrachtung der Natur des Menschen, vereinigte sich die gangbare Form des christlichen Glaubens, welche den Satz, dafs die vita beata, das vollkommen glückselige Leben, das höchste Gut sei, dem allgemeinen Bewusstsein tief eingeprägt hatte. Die Einwendungen gegen dieses Glückseligkeitsprinzip suchte man mit dem theologischen Argumente niederzuschlagen, dafs der Zweck der göttlichen Güte bei Erschaffung des Menschen unstreitig Glückseligkeit gewesen sei; was aber der Zweck Gottes sei, müsse auch der des Menschen sein.

Mit diesem Eudämonismus stand nun auch die Lehre vom menschlichen Willen und dessen Freiheit in Einklang. Man ging

[ocr errors]

teils von der Erfahrung aus, welche lehre, dass das Wollen vom Vorstellen abhängig sei (ignoti nulla cupido), teils von dem Satze des zureichenden Grundes, und behauptete demgemäfs: die Freiheit des Willens besteht nicht in der Fähigkeit, sich ohne oder gegen die Motive zu bestimmen; vielmehr handelt der Mensch jedesmal nach den stärksten Motiven. Nun mufs der Mensch vermöge seiner Natur 'das bonum (das Gute das Wohl) lieben, das malum (das Böse das Übel) verabscheuen; die Motive, welche den Willen bewegen, sind daher bestimmte Vorstellungen des bonum oder malum. Aus der Erkenntnis einer Vollkommenheit (Realität) entspringt zuerst das Vergnügen, aus diesem das Urteil über die Güte eines Gegenstandes und hieraus die Begehrung desselben. Diese aber geht in den Willen, denselben zu erlangen, über, sobald keine stärkeren Motive in der Seele vorhanden sind, welche die Begierde verhindern, zum Entschlufs zu werden. Das Vorstellen ist daher das eigentlich Aktive und vermöge seiner Beweglichkeit das Freie in der Seele, der Wille dagegen ist durch dasselbe determiniert. War also die Glückseligkeit, der Inbegriff der wahren und dauernden Güter, das höchste Gut, so schien es nur auf eine deutliche Erkenntnis jener Güter anzukommen, um auch den Willen zur Erstrebung derselben auf den rechten Weg zu lenken. Welches aber diese Güter sind, mufste die empirische Erkenntnis des Menschen und der Welt, also die theoretische Wissenschaft, die Physik, lehren. Daher denn auch diese als die wichtigste Wissenschaft erscheinen mufste und Spinoza sagen konnte: intellektus est melior pars nostri.

Indessen fehlte viel daran, dafs dieser Eudämonismus bei den deutschen Philosophen in seinen nackten Konsequenzen durchgeführt wäre. Obwohl sie von dem positiven christlichen Glauben bei ihrem Philosophieren, wie nicht anders recht war, abstrahierten, so hatten sie doch in ihrem Gottesbegriffe die moralischen Eigenschaften des christlichen Gottes beibehalten und diese bildeten das im Hintergrunde stehende Korrektiv ihres Eudämonismus. Denn wenn sie nun auch schlossen: Gott hat den Menschen zur Glückseligkeit geschaffen, also ist es die höchste Pflicht des Menschen, seine Glückseligkeit zu befördern, so konnten sie doch diese nicht in einem Leben suchen wollen, welches jenen moralischen Eigenschaften Gottes offenbar widersprochen hätte.

[ocr errors]
« PreviousContinue »