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zu zerlegen". Darin haben wir es inzwischen nur zu verheißungsvollen Anfängen gebracht, die eigentliche Arbeit bleibt gerade hierfür dem zwanzigsten Jahrhundert vorbehalten, das nach Schmoller „das sociale" erst sein und werden wird.

Mit allem dem habe ich mich in der Hauptsache auf den Teil der socialistischen Bewegung beschränkt, der sich auf die Arbeiterfrage im engeren Sinn bezieht. Wir brauchen heute das Wort „social“ aber auch in einer viel weiteren Bedeutung und hängen es fast wie eine Etikette allem möglichen Inhalt vor, wobei dieser Inhalt davon oft recht unberührt bleibt und das Wort zur bloßen Phrase wird. Solches sich Berauschen an großen Worten und sich Begnügen mit bloßen Worten gehört auch mit zur Signatur der Zeit; im übrigen hat es keine Bedeutung. Dagegen fasse ich hier das Gesagte noch einmal kurz zusammen, um das Bild abzuschließen und eine Gesamtanschauung zu ermöglichen. Als der Socialismus in den sechziger Jahren kam und wuchs, da begriff man ihn erst nicht und ignorierte ihn wie eine Singularität und thörichte Utopie; dann haßte man ihn wie die Sünde, weil er die Kreise der nationalen Parteien störte; darauf ergriff Furcht und bleiche Angst die Bourgeoisie, weil er so mächtig um sich griff und sich so jugendlich wild und ungebärdig aufführte und auch wirklich bedrohliche Alluren annahm; nun aber kam die Wissenschaft und das Gefühl, und unter ihrem Einfluß sehen wir heute in ihm des Berechtigten gar vieles sowohl in seiner Kritik unserer vielgepriesenen Kultur als in seinen positiven Forderungen. Aber auch er selbst ist aus einer anfangs noch recht unreifen und wirklich revolutionären zu einer evolutionistischen Bewegung und Partei geworden. Als er unter der Herrschaft des Socialistengesehes das Wort „auf gesetzlichem Wege" aus seinem Programm wegstrich, war das mehr nur Notwehr; heute ist er die radikalste Partei in Volk und Parlament, oder schon nicht mehr die radikalste: der ihm diametral entgegengesezte Anarchismus flankiert ihn zur Linken. So sieht man heute doch ganz anders als noch vor fünfzehn Jahren in weiten Kreisen die Bewegung wachsen, sich beruhigen und klären ohne Furcht und ohne Haß, als eine Partei berechtigt wie andere auch, wenn auch vielfach unbequemer als die andern alle.

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Nur in einem Punkt ist sie selbst noch durchaus unklar und unfertig in der Agrarfrage. Der Socialismus ist historisch entstanden als Konsequenz und Begleiterscheinung des Großbetriebs der Industrie, und an ihr als einem die Kultur Fördernden muß er auch durchaus festhalten. Aber ist der Großbetrieb auch für den Ackerbau das Richtige? und wenn nicht, wie ist hier der socialistische Gedanke anwendbar? Das ist für die Socialdemokratie eine ungelöste Zukunftsfrage, es ist die Frage des vielverhandelten agrarischen Programms.

Auch mit dem religiösen Problem hat sich der Socialismus verrannt. „Religion ist Privatsache“, ist ein wahres, aber doch nur ein halbwahres Wort. Religion selbst ist auch ein Sociales, im Gottesbegriff stecken sociale Voraussezungen und sociale Postulate, im Christentum wie wir gesehen haben ohnedies. Das verkannte der Socialismus und so hat er sich in eine Religions- und Kirchenfeindschaft hineinreißen lassen, die weder sachlich notwendig noch taktisch flug ist: er hat sich durch seine materialistische Welt= anschauung geistig arm und rückständig gemacht und sich weite Kreise verschlossen, sich um manche Anhänger und um wertvolle Bundesgenossen gebracht und so nicht „sociierend“, sondern zerklüftend gewirkt.

Und endlich ist er durch Mary international geworden: Emigrantenstimmung und Preußenhaß wirkten dabei mit; das Socialistengesez hat den deutschen Arbeitern mehr als ein Jahrzehnt den Staat gründlich entleidet, und dem internationalen Wesen des Kapitals, der Industrie und des Verkehrs entspricht auch thatsächlich die Solidarität der Arbeit und des Proletariats. Troßdem trägt er specifisch nationale, bei uns specifisch deutsche Züge; er ist, wie das Sombart nachgewiesen hat, in Deutschland ein anderer als in Frankreich oder in England. Und daß man Socialist und national zugleich sein kann, das zeigen nicht nur Naumann und die Nationalsocialen, sondern auch Lassalle und von Vollmar, Grillenberger und Bernstein. Ein centrifugaler Zug wird freilich dem Socialismus der Industriearbeiter immer anhaften, wie er auch dem Kapital und der Industrie notwendig eigen ist. Aber muß er darum ausschließlich zur Geltung kommen? Und überdies wird sich das

Internationale vorläufig auf die westeuropäischen Völker beschränken müssen, von Russen und Chinesen wollen auch unsere Socialdemokraten noch nichts wissen. Und ebenso ist nicht einmal die republikanische Staatsform für ihn unerläßlich, wenn sie ihm gleich am besten passen mag; es läßt sich auch ein sociales Königtum oder Kaisertum denken. Nur demokratisch wird er immer sein, darin ist er ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts.

Dierzehntes Kapitel.

,,Fin de siècle".

Die allgemeine Struktur der Zeit.

Jede Zeit ist Übergangszeit. Aber vielleicht niemals ist es am Ende einer Periode einer Generation so klar gewesen wie uns heute, daß das kommende Jahrhundert einen anderen und vor allem einen bestimmteren, ausgesprocheneren Charakter tragen werde und . tragen müsse, als das lezte Jahrzehnt dieses zu Ende gehenden neunzehnten. Und so leben wir nicht nur thatsächlich in einem Übergangszeitalter, sondern und das ist der tiefere Sinn von „Fin de siècle" — wir fühlen uns auch als Menschen des Übergangs. Übergangszeit aber ist böse Zeit, vor allem weil in ihr unsere Gedanken und Gefühle auf allen Punkten zwiespältig geworden sind. Zwiespältig gegenüber von Staat und Politik: auf der einen Seite eine Anspannung des nationalen Gedankens, der sich oft sogar wie Chauvinismus ausnimmt und es vielfach auch ist, und auf der andern Seite ein Wiederaufleben humanitärer und ein Erstarken socialer Bestrebungen, die vielen in jeder Form als anti- und international verdächtig sind; ein Heroenkultus hier, der da, wo der Heros fehlt, zum Byzantinismus wird, und eine Demokratisierung der Gesellschaft dort, die auch die alten unhistorischen Gedanken von absoluter menschlicher Gleichheit wieder aufleben läßt. Zwiespältig sind wir weiter gegen Kirche und Religion: ein neuerwachendes Interesse für religiöse Dinge macht sich spürbar, und daneben immer noch das alte Sichabkehren von allem Kirchentum und Christentum. Zwiespältig in Sitte und Sittlichkeit: der sociale Geist, der von allen die gleiche Hingabe an das Wohl des Ganzen verlangt, erobert

mehr und mehr Herzen und Köpfe, und daneben findet die Niehschesche Individualitätslehre, die das schrankenlose Recht des Sichauslebens für die geniale Persönlichkeit in Anspruch nimmt und zu dem Zweck alle sittlichen Werte umwerten möchte, begeisterte Anhänger. Zwiespältig sind wir auf dem Gebiet der Kunst und Poesie: das Klassische wird noch immer als Bildungsmittel benüßt und verehrt oder doch historisch respektiert, und daneben die Abwendung vom klassischen Ideal als einem innerlich Unwahren und der realistische Werdedrang einer die Wahrheit auf Kosten der Schönheit pflegenden Kunstweise. Und zwiespältig endlich gegen die Grundlagen unserer Gesellschaft und der sie durchdringenden Kultur überhaupt: ein Festhalten und Sichanflammern an das Bestehende, als wäre es durchweg ein Vernünftiges und bleibend Wertvolles, und auf der andern Seite ein Anstürmen gegen dieses Bestehende, als wäre es bereits von allen guten Geistern der Vernunft und der Sittlichkeit verlassen und könnte nicht eilig genug bis zum letzten Baustein abgetragen und in Trümmer geschlagen werden, dem historischen Sinn des Jahrhunderts tritt ein revolutionärer Sturm und Drang gegenüber. So gärt und brodelt es rings um uns her und reißt uns alle in seine Strudel mit hinein. Eine Welt voll Gegensätze ist dieses,,Fin de siècle", in der alles chaotisch durcheinander quirlt und wogt, Karneval und Aschermittwoch zugleich, kraftvoll aufstrebende Renaissance und pessimistisch müde Dekadence; eine Zeit der „Ruhelosigkeit und Reizbedürftigkeit“, aber auch der Ruhebedürftigkeit und Reizübersättigung, des sich Verlierens an das Zerstreuende der Außenwelt und des sich Sehnens nach der Wiedergewinnung eines Innerlichen und Einheitlichen. Und die Menschen dieser Zeit auf der einen Seite voll Überschätzung des Intellektuellen, von des Gedankens Blässe von früher Jugend auf angekränkelt und deshalb in ihrer Nervosität von unausgesprochenen und unaussprechlichen Stimmungen bewegt, und daneben doch praktisch, utilitaristisch, voll Arbeit und Willen; pessimistisch und blasiert, tief innerlich müde auf der einen Seite und auf der andern vom Willen zum Leben, von Lebensdrang und Lebensfreudigkeit emporgerissen und emporgepeitscht, thatkräftig vorwärts, ehrgeizig aufwärts strebend; frei von Vorurteilen, ungläubig und kritisch, fühl bis ans Herz hinan, und da

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