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oftroyiert“. So erkannte er doch ganz anders als die Doktrinäre der Fortschrittspartei die ihm freilich auch kongenialere, weil revolutionäre Größe Bismarcks und begriff, daß dieser auf kühnen Bahnen zum Ziele strebend gegen die Fortschrittspartei, um sie zu überbieten und zu übertrumpfen, das allgemeine Stimmrecht ausspielen müsse; vielleicht hat es ihm dieser auch direkt gesagt. Jedenfalls that 1866 Bismarck, auch seinerseits nicht ohne mannigfache Beeinflussung durch Lassallesche Ideen und im Hinblick auf seine Schöpfung, den kecken Wurf, um den ihn damals viele so hart gescholten haben und heute noch manche schelten und anklagen, er nahm das allgemeine direkte und geheime Wahlrecht in die Verfassung des norddeutschen Bundes und später in die des deutschen Reiches auf. Einmal eingeführt aber darf und kann dieses Volksrecht nicht mehr beseitigt werden, das wäre der Anfang des Endes. Es lag einerseits darin nach rückwärts eine Anerkennung des demokratischen Princips und der fortschreitenden Demokratisierung der Welt in unserem Jahrhundert überhaupt; nach vorwärts aber hat es mächtig zur weiteren Erstarkung dieser demokratischen Tendenzen in Deutschland beigetragen und speciell der socialistischen Partei die Möglichlichkeit eröffnet, auf geseßlichem Wege ihrem Ziele näher zu kommen und Teile ihres Programms schrittweise zu verwirklichen. Es war wirklich, wie Schmoller es nennt, „eine socialpolitische That ersten Ranges". Ist es doch die notwendige Ergänzung der allgemeinen Schul- und Wehrpflicht und das große Sicherheitsventil gegen eine im Dunkeln sich vorbereitende Revolution. Aus diesen beiden Gründen muß es festgehalten und muß für seine Erhaltung gestritten werden wie für eine Mauer, jo unbequem es auch sein mag und so schwere Pflichten es gerade auch den führenden Geistern des Volkes auferlegt. An diesem entscheidenden Punkte traf der socialistische Agitator und der konservative Staatsmann zusammen in dem flaren Verständnis für das, was ihre Zeit bewegte, und in der fühnen Förderung dessen, was ihr notwendig war. Deshalb hat auch Bismarck bis zu seinem Tode diese seine Schöpfung nie verleugnet.

Die Zeit nach Lassalles Tod war zunächst eine Periode allgemeinen Wirrwarrs für die socialistische Bewegung. Kleine Diadochen

stritten sich um die Reichsverweserschaft in der Partei; immerhin hielten 1867 zwei Lassalliten in den ersten Reichstag des norddeutschen Bundes ihren Einzug, und schließlich hat Herr von Schweizer einige Jahre hindurch die Führung der Partei mit Geschick in den Händen gehabt.

Karl Mary.

Inzwischen begann aber eine andere Richtung sich zwischen sie und ihnen voranzudrängen – die internationale von Karl Marx. Auch dieser Jude und Hegelianer wie Lassalle, aber ein ganz an= derer Mensch. Lassalle war ein Redner und volkstümlicher Agitator wie Hutten, feurig und sprühend, voll Temperament und unter der Herrschaft von Impulsen, die nicht bloß sinnlicher Natur waren, sondern auch als nationale und ideale Instinkte in ihm wirften, und darum voll Anerkennung für Bismarcks Person und Größe, weil er das Dämonische an ihm als ein ihm Wahlverwandtes erfannte, voll Hoffnung auf Preußen, dessen Beruf zur Führung Deutschlands er ja 1859 entschieden verkündigt hatte; Karl Mary dagegen war der Mann des kühlsten Verstandes, kritisch bis zur Erbarmungslosigkeit, ohne Ideale, weil ganz ohne Illusionen, auch ein Agitator, aber nicht im Stile Huttens, sondern wie Mazzini oder, wenn das Bild erlaubt ist, wie die Kreuzspinne, die still ihre Nese spinnt und ihre Opfer mit tödlicher Sicherheit in denselben einfängt. Was er aber im stillen sann und spann, das war die socialistische Theorie, sein Werk „das Kapital“ die große Rüstkammer noch heute, aus der die Partei und ihre Führer sich die geistigen Waffen geholt haben. Er war halb international schon aufgewachsen; als Redakteur der Rheinischen Zeitung hatte er die Interessen des aufstrebenden Handels in den Rheinlanden zu vertreten und trat von da aus für den Zollverein und Preußens Hegemonie ein. Da aber viele seiner Mitarbeiter wie er selbst den radikalsten Elementen der Hegelschen Linken angehörten neben anderen „Freien bei Hippel" waren auch May Stirner und Bruno Bauer darunter, so geriet das Blatt immer mehr in das extremste Fahrwasser. Obgleich von der Allgemeinen Zeitung schon jetzt als „kommunistisch“ angeklagt, hielt es sich doch dem französischen

Socialismus gegenüber noch vorsichtig zurück und behielt sich ein eingehendes Studium desselben vor. Aber als es den Notstand der Moselbauern eingehend behandeln wollte, wurde das Fortbestehen der Zeitung verboten. Mary verließ Preußen und wandte sich nach Paris. So wurde er durch die Verfolgungssucht der Reaktion aus Deutschland weggetrieben und hat dann — mit kurzer Unterbrechung im Jahre 1848 als Emigrant ohne Heimat und Heimatgefühl im Ausland gelebt und hier zuerst in Frankreich die ausgebildeten Theorien des Socialismus, dann in England mit seinem Freunde Engels die schon viel höher als in den Rheinlanden entwickelten socialen Formen des Industriestaats kennen gelernt. Erst sezte er sich fritisch mit der Hegelschen Philosophie und dem aus ihr hervorgegangenen Feuerbach, dann mit Proudhons „Philosophie des Elends" auseinander, wobei er diesem seinen fleinbürgerlichen Standpunkt und sein beständiges Hin und Her zwischen Kapital und Arbeit, zwischen politischer Ökonomie und Kommunismus mit aller Härte vorwarf. Dann aber kam der Hauptschlag. Im Februar 1848 veröffentlichte er gemeinsam mit Engels das kommunistische Manifest, die Doktrin eines internationalen Bundes aller Kommunisten, der sich der „Bund der Gerechten" nannte. Es war international und revolutionär zugleich, das zeigt der lapidare Schluß: „die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer fommunistischen Revolution zittern! Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!"

Schon hier hat Mary die Grundlinien seiner Geschichtsund Socialphilosophie gezogen, wie sie dann in schwerer wissenschaftlicher Rüstung in seinem Hauptwerk „Das Kapital" näher entwickelt worden sind. Den Ausgangspunkt bildet die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung, die Lehre von der Priorität der ökonomischen vor den politischen und geistigen Strömungen des geschichtlichen Lebens, das in Wahrheit eine Geschichte von

Klassenkämpfen zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten, Herrschenden und Beherrschten darstellt, während alles andere nur Folgeerscheinung, der „Oberbau“ zu diesen fundamentalen Vorgängen sein soll. In diesem geschichtlichen Prozeß hat die Bourgeoisie das große Verdienst, den Feudalismus beseitigt zu haben; aber die Waffen, mit denen sie gekämpft und gesiegt hat, richten sich nun gegen sie selbst; die immer wiederkehrenden Handelskrisen, eine Folge der planlosen Produktion und Überproduktion, stellen die auf dem Privateigentum aufgebaute Gesellschaftsordnung dieser Bourgeoisie in Frage; sie ist dem Tod verfallen, und der Träger dieser Revolution ist das Proletariat, gleichfalls ein notwendiges Produkt der seitherigen Gesellschaftsordnung. Dieses wird sich erheben und da es die ungeheure Mehrheit bildet, zur herrschenden Klasse werden. Im Besiz der Herrschaft geht es dann an eine allmähliche Umgestaltung der Gesellschaftsordnung, das wichtigste ist die Expropriation des Eigentums, die Centralisierung aller Produktionsmittel in den Händen der Gesellschaft, die neue Gesellschaft ist kommunistisch. Damit verschwindet ihr politischer Charakter, Klassenherrschaft und Staat hören auf; das letzte ist die Association, in der die freie Entwickelung eines jeden die Bedingung für die freie Entwickelung aller ist. Das ist der evolutionistische Gedankengang des Programms, wonach wir es in den socialen Bewegungen aller Zeiten, also auch der unsrigen, nicht mit willkürlich und künstlich gemachten Erscheinungen, sondern mit unvermeidlichen Produkten einer ebenso logisch-dialektischen als historischen Entwickelung zu thun haben.

Das alles dem Proletariat zum Bewußtsein zu bringen und es über sich und seine weltgeschichtliche Rolle flar werden zu lassen, darin besteht der „wissenschaftliche“ Socialismus, wie ihn Mary geschaffen hat; darin aber zugleich auch das Programm für sein praktisches Verhalten und Vorgehen. Heute ist der Träger der socialen Vorwärtsbewegung das Proletariat; das Ziel ist negativ Abschaffung der bisherigen Aneignungsweise, des Privateigentums und der Privatproduktion, positiv der Kommunismus und Kollektivismus, d. h. die Vergesellschaftung der Produktionsmittel auf demokratischer Basis. Das Mittel zur Erreichung dieses Zieles ist der Klassenkampf, der Sturz der Bourgeoisie und des

Kapitalismus, die Herrschaft des Proletariats. Und das alles ist nicht willkürlich, immanente Potenzen sehen den Prozeß in Bewegung, es ist eine Evolution und daher bedarf es feiner Revolution im üblichen Sinn des Wortes, das alles muß fommen.

Näher darf hier natürlich nicht auf dieses Manifest und noch weniger auf die wissenschaftlichen Theorien von Mary über die Arbeit als Wertsubstanz und Wertmaß, über Mehrwert und kapitalistische Accumulation eingegangen werden. Gewiß mit Recht hat Sombart in ihr zwischen Wesentlichem und Accidentiellem geschieden. Nur darauf sei hingewiesen, daß die ganze Darlegung der Anlage nach eine Hegelsche Konstruktion ist, ausgeführt mit dem Hegelschen Begriff der Entwickelung und mit den Mitteln der dialektischen Methode, was an und für sich noch nicht als Tadel gemeint ist, da doch auch bei Mary wie bei Hegel der konstruktiven Darstellung reiches Erfahrungsmaterial aus Geschichte und lebendiger Gegenwart zu Grunde liegt. Was ihr dagegen fehlt, ist die psychologische Begründung, die ja auch in der ganzen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel am schwächsten ist. Darin war ihr Adam Smith doch überlegen, der seinem Werke über den Reichtum der Nationen eine Theorie der moralischen Gefühle vorangeschickt hatte. Aber was der Theorie abgeht, das wird durch die Praris ersetzt. Indem sich das Programm an Menschen mit Fleisch und Blut wendet, sezt es sich in Leidenschaft und Temperament, in Gefühl und Willen um. Darin liegt seine Stärke, aber daran findet es auch seine Grenzen, namentlich auch mit der Behauptung, daß das Politische und Intellektuelle nur Produkt und Oberbau jei; gerade die materialistische Geschichtsauffassung in ihrer Einseitigkeit und Ausschließlichkeit ist der anfechtbarste Teil der ganzen Lehre.

Der Marrismus in Deutschland.

Dieser fonsequent internationale Kommunismus war also bereits 1847 in der Theorie fertig. Allein zunächst kam gleich darauf eine Revolution, deren proletarischer Teil in Frankreich blutig niedergeschlagen wurde und die in Deutschland einen ausschließlich bürgerlichen Charakter trug. Zwar befamen Mary und Engels, wie bereits erwähnt, die Neue Rheinische Zeitung wieder

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