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ultramontane einerseits, das socialistische und sociale auf der andern Seite überdauern die Bismarcksche Ära und wirken in der Gegenwart mächtig weiter.

Allein troßdem möchte ich hier nicht chronologisch periodisieren und gliedern, sondern zunächst die zwei Entwickelungsreihen herausgreifen, die sich am deutlichsten hervorheben und sondern lassen,

die abgeschlossene des Kulturkampfes und die in der Klarheit des Höhepunktes vor uns stehende des Socialismus. Alles übrige können wir teilweise in sie einfügen, teilweise mit dem Neuen des letzten Jahrzehnts in einem besonderen Schlußabschnitt zusammenfassen.

Zwölftes Kapitel.

Der Kulturkampf.

Das neue Reich. Bismarck und die Nationalliberalen.

In den sechziger Jahren verschlang das politische Interesse alles andere: so einseitig und namentlich auch so litterarisch gleichgültig war das deutsche Volk nie gewesen. Freytags „Verlorene Handschrift“ oder Friz Reuters „Ut mine Stromtid", die beide 1864 vollendet vorlagen, genoß man nur so nebenher, obwohl der gesunde und erfrischende Humor des letteren, verkörpert in der unsterblichen Gestalt seines Onkel Bräsig, über den bitteren Ernst der Zeit hinweghelfen konnte. Allein so Schlag auf Schlag folgten die großen Ereignisse der Militärkonflikt in Preußen, die Lösung der Schleswig-Holsteinschen Frage durch den deutsch - dänischen Krieg und die Einverleibung der Elbherzogtümer in Preußen, der Krieg von 1866 und als Siegespreis die preußischen Annexionen und die Gründung des norddeutschen Bundes, und endlich der deutschfranzösische Krieg und die Aufrichtung von Kaiser und Reich daß man atemlos zusah und für anderes schlechthin keine Zeit, feinen Sinn, feinen Blick mehr hatte. So sind wir aus einer Nation von Dichtern und Denkern zu einem politischen, aus einem immer noch idealistischen zu einem recht realistischen Volke umgeschmiedet worden.

Und nun war also des deutschen Volkes Sehnen und Träumen und Hoffen erfüllt, wir hatten Kaiser und Reich, es war Frühling geworden in den deutschen Landen, und selten hat ein Volk hoffnungsvoller und mutiger der Zukunft entgegengesehen als wir Deutsche zu Anfang der siebziger Jahre. Wohl galt auch hier das Wort des verständigen Pfarrers in Goethes Hermann und Dorothea:

Seid nicht scheu und verwundert, daß nun auf einmal erscheinet,
Was Ihr so lange gewünscht. Es hat die Erscheinung fürwahr nicht
Jezt die Gestalt des Wunsches, so wie Ihr ihn etwa geheget.

Denn die Wünsche verhüllen uns selbst das Gewünschte; die Gaben
Kommen von oben herab, in ihren eignen Gestalten.

Gerade daß das Reich „von oben herab“ gekommen war, verhüllte manchem die Thatsache, daß es das Gewünschte und Gewollte wirklich sei. Die alten Achtundvierziger, die demokratischen Volksparteiler im Süden, und von der Generation der Konfliktsperiode die unversöhnt bleibenden Fortschrittsmänner im Norden, konnten sich mit dem Gewordenen nicht befreunden: jenen war das Reich zu monarchisch und zu preußisch, diesen war es zu bismarckisch. Daß aber die Mehrheit des deutschen Volkes trotzdem mit dieser Lösung der deutschen Frage zufrieden war, sah man nicht nur aus dem Jubel Einzelner, wie er uns z. B. in der Schrift Baumgartens: „Wie wir wieder ein Volk geworden sind" entgegenklingt, sondern vor allem aus den Reichstagswahlen der siebziger Jahre. Die nationalliberale Partei, so recht die Trägerin dieser frohen, optimistischen Stimmung jener Zeit, erhielt imposante Mehrheiten, bis auf 155 stieg die Zahl ihrer Size im zweiten deutschen Reichstag. Zugleich ein Zeichen, daß das deutsche Bürgertum der Träger der nationalen Bewegung gewesen war; denn vornehmlich aus ihm rekrutierten sich die Mitglieder dieser Partei; und neben den die Versöhnung acceptierenden Flügel der preußischen Konflikts- und Fortschrittspartei traten in ihr viele Abgeordnete aus den annektierten Provinzen und aus den selbständig gebliebenen Mittelstaaten Sachsen, Baden und Württemberg.

Da diese Partei, fast für sich allein schon die Mehrheit des Parlaments, als nächste Aufgabe den Ausbau des Reiches mit Bismarck zusammen durchzuführen hatte und da sich derselben auch die Konservativen nicht versagten, so ging es verhältnismäßig glatt und rasch. Wenn auch das Ministerium im wesentlichen konservativ blieb und der König namentlich sich immer nur schwer selbst von so reaktionären Männern, wie dem Kultusminister von Mühler trennen mochte, so wurden die liberalen Forderungen und Wünsche doch durch das Parlament fräftig vertreten, und auch Bismarck ging darauf so willig ein, daß es darüber und weiterhin über die

Kulturkampfgesetzgebung zum Bruch und Konflikt mit den grollenden und altpreußisch gebliebenen Konservativen kam. Unter den Deklaranten der „Kreuzzeitung“, ja selbst unter den Hintermännern der „Reichsglocke“ und der ganzen skandalösen Preß-Kampagne gegen „die Aera Delbrück-Camphausen-Bleichröder" fanden sich feudale und fonservative Namen. Was man vielfach gefürchtet hatte, nach dem siegreichen Kriege komme die Reaktion, das hat sich in den siebziger Jahren nicht bewahrheitet; im Gegenteil, es war eine liberale Ära, die freilich mehr vom Willen Bismarcks abhing und nicht auf der konstitutionellen Doktrin und dem parlamentarischen System beruhte. Vom englischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht", wie es Gneist soeben verstehen gelehrt hatte, kam doch auch einiges in die Gesezgebung des Reiches und Preußens, wenn auch der Jurist dem Politiker häufiger Konzessionen machte als dieser dem Juristen. Über der Arbeit vergaß man Theorie und System und bei der Arbeit fand man sich, lernte man sich verstehen und gab sich auch hin und her nach. An Arbeit fehlte es freilich nicht. Denn dieses neue Reich war wie der Kaisertitel zunächst noch scheinbar leer und unausgefüllt und mußte nun erst mit Inhalt und Leben erfüllt werden. Und es war auch ein recht künstlicher Bau, der zu keiner staatsrechtlichen Schablone passen wollte und in der Abgrenzung der Gewalten unendliche Schwierigkeiten in sich zu bergen schien: das Problem, Einheit und Vielheit, Bestehendes und Neues in sich zu vereinigen, schien schier unlösbar; den Unitariern war der Einheit viel zu wenig, den Partikularisten ihrer schon zu viel. Aber siehe da! Die leeren Formen füllten sich rasch, der norddeutsche Bund hatte darin schon kräftig vorgearbeitet: und beim guten Willen von allen Seiten, der namentlich auch den deutschen Fürsten nachzurühmen ist, lichtete sich das Chaos erfreulich schnell, die Abgrenzung machte sich leicht und wo sie zu eng gezogen war, da wuchs nach einem glücklichen Ausdruck von Marks „,,die Wirklichkeit über die unsicheren Grenzen fröhlich hinaus."

Aber daß es eine ungleiche Ehe war, dieses Verhältnis zwischen Bismarck und der nationalliberalen Partei, war unverkennbar. Größe drückt und überwältigt, wie schon gesagt, und so verdunkelte Bismarcks riesige Gestalt immer wieder das Parlament und drohte

es zur Bedeutungslosigkeit herabzudrücken. Oft genug erzwang er sich durch die Einseßung seines ganzen Willens und seiner Persönlichfeit Nachgiebigkeit auch da, wo eine solche mit den Principien und dem Programm einer liberalen Partei schlechthin unvereinbar war. Viel seltener sette umgekehrt die liberale Partei ihm gegenüber ihren Willen durch. Aber gerade weil der Widerstand so oft bei der dritten Lesung erlahmte, minderte sich Bismarcks Respekt vor der Partei, und das häufige Widersprechen Laskers erschien ihm mehr wie schulmeisterliches Besserwissenwollen als wie charakterfeste Opposition und reizte und erbitterte ihn darum über Gebühr und Notwendigkeit. Ganz besonders zuwider war ihm an diesem optimistischen Liberalismus ein gewisser sentimentaler Humanismus und Philanthropinismus, der sich z. B. bei den Kämpfen um das Strafgesetzbuch durchzusehen suchte und diesem harten Mann von Stahl und Eisen als Schwäche und Weichlichkeit lächerlich vorkommen mußte; so konnte er nur mit Aufbietung aller Kraft die Beibehaltung der Todesstrafe gegen den liberalen Doktrinarismus erreichen. Das alles gab dann dem Spott der Gegner von links und von rechts und dem Mißtrauen der alten Feinde Preußens immer wieder neue Nahrung und ruinierte vor allem die nationalliberale Partei selbst, der man eine übertriebene Neigung zum Abschluß von Kompromissen und eine allzugroße Nachgiebigkeit, Mangel an Rückgrat nicht ganz ohne Grund nachsagte.

An Gegnern aber, die auf jede Blöße lauerten und sie auszunüßen suchten, fehlte es weder dem neuen Reich noch der national= liberalen Partei, am allerwenigsten aber Bismarck, der auch seinerseits stets ein guter Hasser gewesen ist und es verstanden hat, au corsaire corsaire et demi zu sein. Die Welfen in Hannover, die freilich am wenigsten zahlreiche Rechtspartei im alten Kurhessen, die Polen mit ihren nie verjährenden nationalen Aspirationen und ihrem unruhvollen Haß, die neugewonnenen Elsaß-Lothringer, die eine zweihundertjährige Zusammengehörigkeit doch weit mehr zu Franzosen gemacht hatte, als das ein bequemer Germanisierungseifer zugeben wollte, die paar Dänen im Norden von Schleswig sie alle waren mit dem ganzen Bestand des deutschen Reiches unzufrieden. Und auch in Bayern und Schwaben, in Frankfurt und

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