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des Naturerkennens". Neben dem Wesen von Materie und Kraft bezeichnet er als die zweite derartige Schranke das Problem, wie das Empfinden aus dem Empfindungslosen hervorgegangen sei. Das Ignoramus an diesen beiden Stellen sei zugleich ein Ignorabimus. Damit war allerdings dem Materialismus von hervorragender naturwissenschaftlicher Seite ein non liquet entgegengestellt und sein Dogmatismus mit Recht zurückgewiesen. Allein in derselben Rede fand sich daneben die Äußerung, daß die Seele als allmähliches Ergebnis gewisser materieller Kombinationen entstanden und vielleicht gleich anderen erblichen, im Kampf ums Dasein dem Einzelnen nüzlichen Gaben durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern sich gesteigert und vervollkommnet habe"; und noch deutlicher hieß es anderswo: „was wäre dem Naturforscher zu erwidern, wenn er, bevor er in die Annahme einer Weltseele willigte, verlangte, daß ihm irgendwo in der Welt, in Neuroglia gebettet und mit warmem arteriellem Blut unter richtigem Drucke gespeist, ein dem geistigen Vermögen solcher Seele an Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglienkugeln und Nervenröhren gezeigt würde?" Angesichts solcher Stellen konnte Strauß allerdings mit Recht seine Kritiker zurückweisen, wenn sie sich auf Dubois-Reymond als Antimaterialisten berufen wollten: dessen Ignorabimus saß der materialistische Schalk selbst faustdick hinter dem Ohr; und als er später seine zwei Schranken zu sieben unlösbaren Welträtseln“ heranwachsen ließ, da durfte man überhaupt mehr an rhetorische Effekte als an antimaterialistische Mahnungen zur „Bescheidung“ denken. Dagegen war Helmholz auf der richtigen Spur, wenn er sich über die Grenzen des Naturerkennens kritizistisch an Kant zu orientieren suchte. Hier wenn irgendwo lag die Überwindung des Materialismus; und weil dieser Rückgang zu Kant im Jahr 1872 bereits eingeleitet war, deshalb kam Strauß mit seinem materialistischen Bekenntnis zu spät und nur deshalb war es ein verfehltes Buch. Es faßte eine Weltanschauung zusammen, die bereits im Ablaufen begriffen und überwunden war. Selbst die Lehre von der Lebensfraft einen Neovitalismus auftauchen sehen.

haben wir ja inzwischen wieder

Doch das kommt hier noch zu früh. Wohl aber kann uns

der Titel des Straußschen Buches sachlich noch auf eines hinweisen, - daß auch der Materialismus als System dogmatistisch und hypothetisch, in der That nicht Sache des Wissens, sondern nur ein Glaube sei. Vor dieser Erkenntnis mußte er. daher in dem Augenblick seine Ansprüche verloren geben, wo die Philosophie aufs neue sich aufraffte und sich dessen erinnerte, der als der Allzermalmer allem Dogmatismus und aller dogmatistischen Metaphysik vorlängst schon ein Ende bereitet hatte. Daß deshalb der Materialismus für alle Zeiten oder auch nur für unsere Gegen= wart beseitigt sei, wird darum doch niemand glauben. Er fristet vielmehr noch in den verschiedensten Kreisen sein Dasein: 1. bei vielen Naturforschern, die immer wieder Prinzip ihrer Forschung und allgemeine und allumfassende Welterklärung miteinander verwechseln; denn daß die Naturerklärung so zu verfahren hat, als ob es nur Stoff und Kraft gäbe, der Materialismus also Recht hätte, das allerdings ist das positive Ergebnis jenes Materialismusstreites. Dagegen ist es bereits wieder ein Hinausgehen über naturwissenschaftliche Vorsicht und Selbstbescheidung, wenn gewisse Psychophysiker aus der eraften Forschungsmethode der experimentellen Psychologie materialistische Konsequenzen zur Erklärung des Seelischen selbst ziehen wollen. 2. giebt es eine Menge Halbgebildeter, welche sich noch heute an Büchners Kraft und Stoff erbauen und weder seine Oberflächlichkeit noch seine Widersprüche bemerken. Und endlich 3. lebt der Materialismus am fräftigsten in breiten Schichten der Arbeiterwelt wieder auf, die im alten Glauben eines der Hauptbollwerke der alten Weltordnung überhaupt sehen und radikal wie sie sind, nach dem radikalsten Gegensatz zu demselben, der materialistischen Weltanschauung greifen, wie im vorigen Jahrhundert die französischen Encyklopädisten das ancien régime mittelst derselben materialistischen Doktrin zu stürzen versuchten; und zugleich entspricht dieser naturwissenschaftliche Materialismus ihrer Beschäftigung, der Bearbeitung des Stoffes durch die Hand, indem er ihnen die Widerstände und die Geseze der Materie, mit der sie es zu thun haben, klar und deutlich zum Bewußtsein bringt: für den Handarbeiter ist der Materialismus die einleuchtendste und nächstliegende wissenschaftliche Weltanschauung.

Materialistische Tendenzen der Zeit.

Doch auch das kommt noch zu früh. Uns interessiert hier vielmehr die Frage, wie es gekommen ist, daß in den fünfziger Jahren der Materialismus so zahlreiche Anhänger fand und mit solcher Leidenschaft behauptet und verteidigt wurde? Die Antwort darauf ist die, daß die ganze Stimmung der Zeit eine materialistische, allem Idealen abgeneigte war. Das Jahr 1848 hatte den Idealismus und die Idealisten sozusagen ad absurdum geführt und sie in dem Lichte unpraktischer Träumer erscheinen lassen: also weg mit allem, was an diese Täuschung erinnert und zu ihr geführt hat! Diese Art mit der Niederlage und der Enttäuschung fertig zu werden zeigt sich vielleicht nirgends deutlicher als in dem, was in den verschiedenen Reaktionszeiten des Jahrhunderts die Studenten gesungen haben. Als 1819 die Karlsbader Beschlüsse wie ein Hagelwetter über den jugendlichen Idealismus der Zeit hereinbrachen und ihn zu Boden schlugen, da hieß es:

Wir hatten gebauet

Ein stattliches Haus

Und drin auf Gott vertrauet

Trop Wetter, Sturm und Graus.

Das Band ist zerschnitten,

War Schwarz, Rot und Gold,
Und Gott hat es gelitten,

Wer weiß, was er gewollt!

Das Haus mag zerfallen

Was hat's denn für Not?

Der Geist lebt in uns allen,

Und unsere Burg ist Gott!

Jezt in den fünfziger Jahren begrub man alle diese Hoffnungen auf Vaterland und Freiheit, ließ es sich im ödesten Biermaterialismus fannibalisch wohl" sein und freute sich an dem dünnen Humor, womit Scheffel in seinen Trink- und Saufliedern denselben umgab, am schwarzen Walfisch zu Askalon, wo kein Prophet mehr geehrt wird, am Herrn von Rodenstein und seinem Durst, den er den Herrn Studenten vermacht hat, am Enderle von Ketsch und dem.

sich „geräuschlos verziehenden“ Pfalzgraf, der sein Geld „verschlampamt“; oder an seinen naturwissenschaftlichen Liedern vom Pterodactylus, der neulich betrunken nach Haus flog“ und am Guanolied, an dessen Schluß der Böblinger Repsbauer unter dem Jubel aller Banausen zu den trefflichen Vögeln spricht:

"

Troß meinem Landsmann, dem Hegel,

Schafft ihr den gediegensten Mist!

Ich meine fast, daß wir uns heute an diesem Humor mit besserem Gewissen freuen können, als bei der Entstehung dieser Gedichte, wo sie doch ein recht betrübsames Zeichen für die Armseligkeit ihrer Zeit waren. In diesem Zusammenhang muß man auch noch einmal auf die süßliche und schwächliche Epik zurückblicken und sich daran erinnern, daß Geibel seinem Volke auch damals weder etwas gewesen ist noch geben konnte; nur wenn andere begeistert waren, fand auch er dafür Ausdruck und Ton. An dieser Abwendung von allem Idealen aber hatte die Reaktion eine sozusagen ganz bewußte Schuld. Vom deutschen Vaterland und von deutscher Freiheit zu sagen und zu singen war ja durch sie wieder einmal verpönt und gefährlich geworden. Dagegen lernten von dem neuen Cäsar drüben über dem Rhein die deutschen Fürsten und Minister, daß für die versagte Freiheit und Einheit dem Volk ein Ersat geschaffen und geboten werden müsse, und der sei so ließen sie sich von diesem in kleinen Künsten wohl kundigen Abenteurer bedeuten in der Pflege der materiellen Interessen zu suchen. Billiger, näher und erfreulicher hätten sie das freilich einem deutschen Fürsten absehen können, der es schon vor 1848 geübt hatte, von Wilhelm I. von Württemberg, dem man bitter Ünrecht thut, wenn man ihn nicht nach dieser Erfüllung seiner nächsten Regentenpflichten, sondern rein politisch nach seinem ehrgeizigen und schwankenden Verhalten in der deutschen Frage beurteilt. Das Preisrätsel, wie sich ein deutscher Fürst von 1815-1848 in dieser Sache sicher und ohne Tadel hätte führen sollen, hat übrigens auch Treitschke nicht gelöst, da Schelten über die, die es zu ihrer Zeit nicht lösen konnten, nicht selbst schon die Lösung ist.

Deutschland war bis dahin noch kein Industriestaat; der ganze Osten und ebenso im Süden Bayern und Württemberg waren

wesentlich ackerbautreibend, nur daß dort von Magdeburg aus der Zuckerrübenbau und weiter gegen Osten die Branntweinbrennerei den Ackerbau selbst in die Dienste der Industrie zu stellen und mit Fabrikbetrieb zu verknüpfen begannen. Auf der ersten Weltausstellung 1851 zu London und auf der zweiten 1855 zu Paris war zwar auch die deutsche Industrie vertreten, die Rheinlande und Sachsen standen dabei in erster Linie und zeigten, was sie konnten und leisteten. Allein auf dem Weltmarkt spielte Deutschland noch keine Rolle, und Friedrich Lists schutzzöllnerische Anregungen zur Aufrichtung eines national deutschen Handelssystems und zur Gründung einer deutschen Flotte waren so wenig erfolgreich gewesen, daß dieser große wirtschaftliche Agitator am 30. November 1846 verstimmt und mutlos seinem Leben selbst ein Ende gemacht hatte. Es fehlte Deutschland an Absatzgebieten nach außen, es hatte keine Kolonien und keine seinen Handel beschüßende Flotte. Unter den schmachvollen Thaten der Reaktion steht obenan der Verkauf der durch den nationalen Aufschwung des Jahres 1848 entstandenen, freilich noch recht dürftigen ersten deutschen Flotte: dieselbe kam unter den Hammer des Auktionators, als welcher Hannibal Fischer seinen guten Namen einbüßte, obgleich er dabei natürlich nur als Handlanger im Auftrag des deutschen Bundestags handelte. Dagegen breitete sich die Dampfmaschine auch in Deutschland unaufhaltsam aus. Die erste Eisenbahn wurde 1835 von Nürnberg nach Fürth gebaut, 1837 folgte Sachsen mit einem Teil der Strecke Dresden- Leipzig nach, die der unermüdlich um die vaterländische Produktion sich sorgende List zur „Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems“ hatte machen wollen. Und nun vermehrte sich das deutsche Eisenbahnnetz in den vierziger Jahren von 549 auf 6044, in den fünfziger Jahren auf 11 633 Kilometer, Post- und Telegraph erleichterten und beschleunigten den Verkehr in die Ferne, 1857 wurde der norddeutsche Lloyd in Bremen gegründet; und als es vollends 1862 zum Ab= schluß des preußisch-französischen Handelsvertrags kam, da trat nun endlich auch die deutsche Industrie als gleichberechtigtes Glied ein in das freihändlerische Wirtschaftsgebiet Westeuropas. Im Zusammenhang mit diesem industriellen Aufschwung wurde die Berech

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