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alles Staatlichen auf dem Boden des alten deutschen Reiches, das freilich kein Staat mehr war und weder etwas für die Kultur noch auch nur das Notwendigste zum Schuß und zur Schonung seiner Angehörigen leistete; und weiter gewachsen war sie in der nachfriederizianischen Zeit, wo in Preußen der große Zug, die Sprungfeder des Geistes aus der Staatsmaschine herausgenommen war und überall nur noch toter Mechanismus, kein staatliches Leben mehr sich zeigte. Über beide war dann die Sturzwelle der französischen Revolution hereingebrochen und hatte zunächst auch nur zerstört, nicht aufgebaut; es herrschte dort wirklich Jahrelang die Anarchie. Während aber in Frankreich Napoleon ein neues Gebäude aufführte, groß und imposant nach außen, im innern aber absolutistisch mit dem alten Motto: l'état c'est moi, entstand in Preußen ein neuer Staat, in dem gerade im Gegensatz dazu auf die Kraft und Mitwirkung des Volkes gerechnet war. Würde nun dieses Neue auch den Menschen zum Bewußtsein kommen und von ihnen verstanden werden? Da war es von vornherein bedauerlich, daß das politischparlamentarische Leben sich nach 1815 zuerst nur in den kleinen deutschen Staaten und vorläufig noch gar nicht in dem neuen preußischen Staat entwickeln durfte. So war zwar Preußen ein Staat, aber es hatte keine öffentliche Meinung, und so konnte sich beim Volk im großen und ganzen ein staatliches Bewußtsein nur sehr langsam entwickeln; daß im preußischen Beamtentum ein solches eben in dieser Zeit durch stille Pflichterfüllung dennoch großgezogen wurde, entzog sich noch geraume Zeit den Blicken der Welt; höchstens das Dreinregieren und die Superklugheit des preußischen Geheimenrates fam den Regierten, vor allem unter Görres' lautem Protest in den Rheinlanden, zum Bewußtsein. Umgekehrt hatten die kleinen Staaten eine öffentliche Meinung, aber sie waren keine vollen und ganzen Staaten; dazu fehlte ihnen die Macht, und darum fehlte es ihren Oppositionsparteien am nötigen Verantwortlichkeitsgefühl und an dem Maßhalten in ihrem Auftreten. Auch hier gab es dieselbe stille Arbeit des Beamtentums, das aus verrotteten Zuständen heraus modern eingerichtete Staatswesen herzustellen und aus willkürlich zusammengerafften Fragmenten und Splittern des alten deutschen Reiches ein Ganzes zu schaffen hatte;

aber diese Leistung wurde in diesen engen Verhältnissen und in den Zeiten des Kampfes gegen die von den Beamten exekutierte Reaktion verständnislos und ohne Dank hingenommen, und so kommt es, daß die Geschichtschreiber dieser Zeit zwar viel vom preußischen Beamtentum jener Tage zu rühmen wissen, aber meistens vergessen, daß es in jenen kleinstaatlichen Verhältnissen und angesichts einer oft recht kleinlich kontrollierenden parlamentarischen Opposition vielleicht noch schwieriger war, ein moderner Beamter zu werden und einen modernen Beamtenstaat zu bauen. Zugleich aber erhielt durch jene Verschiedenheit im Aufbau des Staates und in der Anteilnahme, den die öffentliche Meinung daran nahm, der Gegensaz zwischen Nord und Süd neue Nahrung; hier ist vielleicht die Stelle, wo er bis 1870 am gefährlichsten war und wo er uns gelegentlich noch heute zu schaffen macht.

Dazu kam noch eines. Die Revolution und die Napoleonische Zeit hatte auch in Deutschland den Privilegierten zwar nicht alle ihre Privilegien, aber doch ihre alte Stellung genommen: sie waren die Träger des alten deutschen Reiches und seiner Regierung so weit es eine solche gab gewesen, die Trägerin der Arbeit in den neuen deutschen Staaten war oder wurde dagegen immer mehr die Bourgeoisie. Dieses deutsche Bürgertum aber war, wir haben es schon gehört, in der Enge und Kleinheit seines meist kleinstädtischen Daseins noch nicht hinausgekommen über die Aufklärungsbildung des vorigen Jahrhunderts, es war ein an den dürr und dünn gewordenen Gedanken desselben zehrendes Philisterium. Das mußte sich auch in seinem Verhältnis zum Staat zeigen.

Die Lehre vom Vertrag.

Und wirklich entsprach diesem rückständigen Wesen des deutschen Bürgertums, soweit es sich mit dem Staat befaßte, eine Staatstheorie, die in der Aufklärung wurzelte, also ebenfalls rückständig und zugleich unhistorisch war, die aber doch die neugewonnene Machtstellung der Bourgeoisie und die Notwendigkeit ihrer Forderungen zu rechtfertigen wußte, also liberal war. Sie knüpfte zunächst an die Gedanken der französischen Revolution an und weiterhin an Rousseaus wenigst tiefe aber wirkungsvollste

Schrift, den Contrat social. Von den beiden Ideen, die sie beherrschen, stammt die erste aus dem rationalistischen und konstruktiven Geist der modernen Philosophie und Weltanschauung seit der Renaissance es ist die Lehre vom Vernunft- oder Naturrecht, das als Ausfluß der vernünftigen Natur des Menschen absolut gültig und für alle Menschen gleich verbindlich über allem positiven Recht schwebt und als Maßstab an dasselbe angelegt, rücksichtslos als das einzig wahre und gute Recht durchgeführt werden soll: es ist somit international, von aller Geschichte unab= hängig, fritisch und gegen das Bestehende revolutionär. Und das andere Grundelement dieser Theorie war die Lehre vom Vertrag, der aus dem Ende des Mittelalters stammende Glaube, daß der Staat auf einem Vertrag entweder historisch ruhe oder der Idee nach als auf einem solchen ruhend gedacht werden müsse und daher in seinem Bestand abhängig sei von der Zustimmung aller oder doch der Mehrheit der ihn konstituierenden Individuen. Wie damit der Grundsaß der Volkssouveränetät zusammenhängt, liegt auf der Hand; auch er bildet somit ein notwendiges Bestandstück dieser ganzen Konzeption und zwar dasjenige, durch welches sie sich dem Liberalismus ganz besonders empfehlen mußte. Und doch steckte in dieser Vertragstheorie auch da, wo sie es ausdrücklich ablehnte, den bürgerlichen Gesellschaftsvertrag als eine geschichtliche Thatsache zu behaupten und in ihm nur eine Idee", ein regulatives Prinzip zur Bestimmung des öffentlichen Rechtes sah, das alte unhistorische Wesen der Aufklärung. Außerdem aber war sie atomistisch und individualistisch, sie stellte den Staat auf die Willkür aller Einzelnen, verwechselte die volonté générale mit der volonté de tous, verkannte also seine Notwendigkeit und nahm ihn als ein Zufälliges, das sich ebenso wieder in seine Atome auflösen könne, wie es sich aus ihnen willkürlich zusammengesezt habe.

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Eben darum hatte dieser Gedanke vom Vertrag für die ganze Welt der Aufklärung etwas Fascinierendes, auch Kant in seiner, freilich durch die nahende Altersschwäche von Verworrenheit und Widersprüchen nicht freien Schrift „metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" ist darüber nicht hinausgekommen und hat ihr durch seine Autorität noch einmal und auf lange hin einen starken Halt gegeben.

Und ebenso hat Fichte in seiner „Grundlage des Naturrechts" sich auf den Boden dieser Theorie gestellt und einen wahren embarras de richesses von Verträgen zusammengehäuft; hat er doch in einer seiner ersten Schriften sogar das Recht der Eltern auf die Kinder durch einen Vertrag mit der Geburtshelferin begründet: „hätte sie nicht durch Vertrag meinen Eltern versprochen, ihr Recht auf mich an sie zurück abzutreten, hätte sie nicht überhaupt laut dieses Vertrages im Namen meiner Eltern gehandelt, so wären meine Rechte durch diese erste Ausübung desselben die ihrigen; so aber sind sie meinen Eltern". Praktisch aber hielt man diese Lehre deshalb für so wichtig, weil man von dem Staatsbürgervertrag die Möglichkeit einer Verfassungsänderung durch das Volk, sei es auf dem Wege der Reform oder der Revolution, abhängig dachte.

In Einem schien sich freilich Kant, und ihm nach Fichte, von der älteren Vertragstheorie wesentlich zu unterscheiden, in der Frage nach dem Zweck des Staates. Die Aufklärung hatte auch hierin eudämonistisch gedacht und dem Staat die Aufgabe zugewiesen, die Glückseligkeit aller und das Wohl jedes Einzelnen in irgend einer Form zu schaffen und zu fördern. Kant war auch hier wie in der Moral rigoristisch, nicht eudämonistisch; deshalb schloß er die Glückseligkeit vom Zweck des Staates aus und faßte diesen als Verwirklichung der Gerechtigkeit, sein Staat war ein Rechtsstaat. Fragt man aber weiter, warum denn durch den Staat das provisorische Recht in ein peremptorisches, der rechtlose Naturzustand in einen Rechtszustand verwandelt und übergeführt werden soll, so kommt man doch wieder auf den abgewiesenen Zweck des Schußes von Leben und Eigentum, also auf die privaten Interessen aller Einzelnen zurück. Und wenn Kant das Rechtsgesetz formuliert: „handle so, daß die Ausübung deiner Willkür die der andern nicht beeinträchtigt“, so kommt er auch von dieser Seite her über die Subjektivität und den Individualismus nicht hinaus. Die Meinung war freilich die, der Staat solle im Recht das Vernunftgesez, die volonté générale verwirk lichen; aber thatsächlich handelte es sich auch bei Kant um die Angemessenheit der Handlung an die empirische Allgemeinheit, an den Willen aller und an die Willkür jedes Einzelnen.

Während aber schon Fichte, der sich zunächst ganz an Kant

anschloß, über diesen hinausging und seinem geschlossenen Handelsstaat erst eine Reihe der wichtigsten socialen Aufgaben zuwies, dann in der Not der Zeit die nationale Basis und Kraft des Staates verstehen lernte und ihn durch die Forderung einer Nationalerziehung als Kulturträger und Kulturbringer anerkannte, ging die Vertragstheorie in das Bewußtsein der Bourgeoisie und des Liberalismus in ihrer alten Form über. Die philosophische Begründung und die feineren Unterscheidungen in der Lehre von Basis und Zweck des Staates wurden beiseite gelassen und ihre einzelnen Gedanken ohne weiteres für Parteizwecke fruchtbar gemacht. Das Naturrecht gab Handhabe und Maßstab zu liberaler Kritik am Bestehenden und an den Maßnahmen der Regierung, der Vertrag begründete den Glauben an die Souveränetät des Volkes und rechtfertigte die Forderung einer Mitwirkung desselben bei der Gesezgebung, und der Rechtsstaat hatte in erster Linie die Rechte des Volkes zu schüßen und die Gleichheit aller vor dem Gesetz durchzuführen.

Diese Anschauung, die sich auf Kant berufen konnte, wenn sie auch seine tiefsten Gedanken nicht verstand, wurde nun also nach den Befreiungskriegen vom Liberalismus wieder hervorgeholt. In weiteren Kreisen verschaffte ihr vor allem der Badener Rotteck Aufnahme und Anerkennung, dessen 1813 begonnene „Allgemeine Geschichte" das Recht des Liberalismus allen verständlich durch die ganze Weltgeschichte hindurch als siegreich zu erweisen suchte und dessen gemeinsam mit Welcker ins Leben gerufenes „Staatslexikon“ immer aufs neue den Gedanken variierte, daß der Staat auf Vertrag gegründet und der Wille der Majorität das einzig Ausschlaggebende sei. Und wenn der Schwabe Uhland sang:

Vertrag! es ging auch hier zu Lande
Von ihm der Rechte Sazung aus,
Es knüpfen seine heil'gen Bande

Den Volksstamm an das Fürstenhaus.

Cb einer im Palast geboren,

In Fürstenwiege sei gewiegt,

Als Herrscher wird ihm erst geschworen,
Wenn der Vertrag besiegelt liegt,

so erhielt die Theorie dadurch auch noch die dichterische Weihe. Diese Männer haben dem Liberalismus seine leicht faßlichen, aber

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