Page images
PDF
EPUB

Erstes Kapitel.

Die drei Weltanschauungen.

Die Aufklärung.

Ein reiches Erbe hat das achtzehnte Jahrhundert seinem Nachfolger hinterlassen, und es wäre eine reizvolle und interessante Aufgabe, zu untersuchen, wie das neunzehnte mit dieser Erbschaft gewirtschaftet und gewuchert hat. Wenn jenes mit einem Wort als das Zeitalter der Aufklärung zu bezeichnen ist, so wäre die Frage näher dahin zu präcisieren, ob die Aufklärung nun auch wirklich siegreich durchgeführt worden sei und ob sie mit ihrer Fackel alle Schlupfwinkel des Aberglaubens durchleuchtet und den Segen der Bildung nach oben und nach unten gleichmäßig verbreitet habe. Ich fürchte, in einer solchen Prüfung würde unser Jahrhundert schlecht bestehen und müßte schamrot bekennen, daß es diese Arbeit nicht nur nicht überall zu Ende geführt, sondern nicht einmal energisch genug weitergeführt, daß es sogar schon Gethanes wieder zerstört, sogar schon Erleuchtetes wieder dunkel gemacht habe; auf den Ehrennamen eines Jahrhunderts der Aufklärung wird das unsrige, wie schon gesagt, in der Geschichte jedenfalls keinen Anspruch machen können. Aber schuld daran sind doch nicht allein wir Kinder und Enkel jener Zeit, sondern die Aufklärung selber und der ganze Entwickelungsgang, den sie genommen hat und der mit Notwendigkeit über sie hinausführte: sie starb sozusagen an sich selber.

Was ist Aufklärung? diese Frage hat schon Kant aufgeworfen und sie dahin beantwortet: Aufklärung sei „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", ihr Wahl= spruch also: „sapere aude! habe Mut, dich deines eigenen Ver

standes zu bedienen!", das einzige Erfordernis dazu: „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“, d. H. zu räsonnieren. Sie wurzelt in der Renaissance, die protestantischen Länder England und Holland sind ihre erste eigentliche Heimat; aber gerade hier und dann weiterhin in Deutschland kam sie mit der orthodoxen Theologie des Protestantismus in den schärfsten Konflikt, und so hat der Zwang, sich gegen diese emporzuarbeiten, ihre ganze Front- und Problemstellung bestimmt". Und doch ist sie von Haus aus ein weit Umfassenderes, „eine Gesamtumwälzung der Kultur auf allen Lebensgebieten“ und „ein Wandel der allgemeinen Stimmung“.

Dreierlei ist dabei von besonderer Wichtigkeit. Sie zwingt den bis dahin absolutistischen Staat in ihre Bahnen, besteigt mit Friedrich dem Großen den preußischen Königsthron und verkündigt von dort herab, daß der König der erste Diener des Staates sei und in seinen Landen jeder nach seiner Façon selig werden könne; und dieser Praxis entsprach die Theorie von dem auf Vertrag aufgebauten Staat, die längst schon da war, aber nun von Rousseau die schärfste Formulierung erhielt. Fürs zweite entsteht unter ihrem Einfluß und Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Entwickelung von Handel und Industrie namentlich wieder in England und Holland eine neue Gesellschaft, die sich hauptsächlich aus den bürgerlichen Kreisen rekrutiert und ebenso dem Staat wie der Kirche gegenüber Mündigkeit für sich in Anspruch nimmt; die Aufklärung ist liberal; darum ist es auch kein Zufall, daß in jener Zeit die Realschule, als Bürgerschule gedacht, entstanden ist. Endlich beherrscht die Aufklärung die Litteratur. In Holland können die freigeistigen Gedanken ungehindert gedruckt werden, und von England bringt Voltaire nicht nur den Lockeschen Sensualismus, sondern auch die neue Naturlehre Newtons auf den Kontinent herüber und popularisiert sie. Der Mathematik aber entnimmt man die methodologische Forderung, alles klar und deutlich, wie sie es thut, zu formulieren und es dadurch begreiflich zu machen. Indem also Kant die Frage zu beantworten sucht, wie mathematische Naturwissenschaft möglich sei, hat er damit nur anerkannt, daß das die Grundwissenschaft und die wichtigste Angelegenheit sei für

den denkenden Geist der Zeit. In der Philosophie aber trafen zwei Ströme zusammen die Leibnizsche Monadologie mit ihrem Individualismus und ihrer optimistischen Hoffnung auf eine mög= liche Versöhnung von Glauben und Wissen, und der englische Empirismus Lockes, der in Frankreich zum Materialismus vergröbert wird, in Deutschland aber die Wolfsche Metaphysik empiristisch und sensualistisch zerseßt und so zur Bildung jener eklektischen Popularund common sense-Philosophie führt, die für das Aufklärungszeitalter so besonders charakteristisch ist und durch die einseitige und ausschließliche Betonung des praktischen Endzweckes der Vervollkommnung und Glückseligkeit rasch genug aufhört wissenschaftlich zu sein. Am unfruchtbarsten mußte natürlich die Aufklärung auf dem Gebiete der Poesie sein, wo Gottscheds ästhetische Theorie ebenso nüchtern und verstandesmäßig war wie seine poetischen Musterbeispiele, in denen er die französische Regelmäßigkeit zum Vorbild nahm. Wenn Friedrich der Große Gellert für den bedeutendsten deutschen Dichter hielt, so entsprach das zwar durchaus dem Geschmack der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft, deren Ton dieser treffen wollte und auch wirklich traf, aber es begreift sich zugleich auch Friedrichs abschäßiges Urteil de la littérature allemande, mit dem er 1780 freilich schon zu spät kam. Immerhin verdankt man den moralistischen Tendenzen der Zeit die Pflege des Sittenromans und ihren liberalistischen das Aufkommen des bürgerlichen Dramas, dessen Thema vielfach die Mesalliance ist zwischen Bürgermädchen und Kavalier.

Das Wichtigste war aber doch die Auseinandersetzung mit der Theologie. Die verschiedensten Standpunkte waren hier möglich. Leibniz hatte vermittelt, auch Wolf, den doch selbst Kant als „Urheber des Geistes der Gründlichkeit“ rühmte, hatte eine übernatürliche Offenbarung anerkannt, nur wollte er es der Theologie überlassen, sie im Judentum und Christentum als eine zugleich vernünftige und unentbehrliche nachzuweisen. Aber wenn der Hauptgedanke der war, daß auch die Theologie sich vor dem Forum der Vernunft zu legitimieren und hier ihre Ansprüche zu beweisen habe, so konnte sich ja auch herausstellen, daß irrationale Elemente in ihr vorhanden seien, und dann ja dann war das Band zwischen Wissen und Glauben wieder einmal zerschnitten. So konnte denn auch Hermann

Samuel Reimarus in feiner Schußschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes die positiven Religionen als ein Gewebe von Irrtum, Selbsttäuschung und Betrug bezeichnen, und davon nahm er selbst den Stifter des Christentums nicht ganz aus. Auf diesem Standpunkt wurde die Aufklärung zu einer oft recht leidenschaftlichen Gegnerin der positiven Religion, der sie ganz unhistorisch eine natürliche mit den drei Gedanken Gott, Unsterblichkeit, Tugend als Norm gegenüberstellte. Atheistisch und materialistisch wie in Frankreich ist sie aber darum in Deutschland doch nie gewesen, Bahrdt und Edelmann mit ihrem Radikalismus und der Haltlosigkeit und Zerfahrenheit ihres Lebens waren Ausnahmen und Karikaturen und galten in der Bewegung selbst als die enfants terribles.

Indem aber die Aufklärung überall die natürlichen Normen und Regeln für Religion, Staat, Recht, Kunst und Poesie aufgefunden zu haben glaubte, wurde sie unhistorisch nicht in dem Sinn, als ob sie nicht mit Vorliebe Geschichte getrieben hätte; sie hat sich sogar große Verdienste um dieselbe erworben, indem sie sie von dem orthodoxen Schema und den theologischen Gesichtspunkten losmachte; sondern weil sie die Geschichte von außen und oben her meistern wollte und ihre eigenen moralischen und intellektuellen Maßstäbe an sie anlegte; dabei kam natürlich das „dunkle“ Mittelalter besonders schlecht weg. Und zugleich wurde sie dadurch erfüllt von jenem „ruchlosen“ Optimismus und Hochmut auf die eigene Zeit, sie glaubte sich am Ziele, wie wir es doch so herrlich weit gebracht“; aus dieser Aufklärungsstimmung ist auch Schillers Apotheose des Menschen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts heraus empfunden und gedacht.

[ocr errors]

So bedeutet die Aufklärung Emanzipation auf allen Gebieten, zumeist aber von der Autorität der Kirche: das Leben und der Staat, die Wissenschaft und die Litteratur ist durch sie weltlich geworden. Und es ist eine Emanzipation des Einzelnen, der ja ganz energisch auf seine Vernunft und in der Synthese mit Rousseaus Gefühlsüberschwang auch auf sein eigenes Herz hingewiesen wird; ein Zug des Subjektivismus und Individualismus geht durch sie hindurch, der sich auch in dem unhistorischen Wesen der ganzen Bewegung ausspricht, weil er sich nicht binden

« PreviousContinue »