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Der Dichter Lermontow läßt seinen „Helden unserer Zeit“ ausrufen: „Wir traurigen Epigonen (Nachkommen schwächlicher Art), die auf der Erde schweifen ohne Überzeugung, ohne Stolz und nur mit jener unwillkürlichen Angst, welche das Herz beim Gedanken an das unvermeidliche Ende zusammenschnürt wir sind nicht mehr fähig zu großen Opfern, weder für das Wohl der Menschheit noch für unser eigenes Glück. So schwanken wir haltlos von Zweifel zu Zweifel, ohne die Hoffnung und ohne den Genuß, welcher die Starken in ihren Kämpfen wider das Geschick begleitet."

Aus Lebensüberdruß und Schwermut.

„O sei auf Gottes heller Welt kein trüber Gast!
Mach Schande nicht dem milden Herrn, den du hast!
Sich, daß dein Wesen treu dem Bilde dessen gleicht,
Der spricht: mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“
Fr. Rückert.

Zu Großwardein in Ungarn wirkte als Professor an der Oberrealschule ein in der ganzen Stadt geachteter Mann, namens Julius Haidu. Ihn fand man eines Nachmittags tot im chemischen Laboratorium: er hatte sich vergiftet. In ein Schreibheft, das vor dem Toten lag, hatte er folgende Bemerkungen eingetragen: „Nachmittag 12 Uhr. Ich habe um 9 Uhr eine starke Morphiumlösung genommen: erst jetzt fühle ich eine stärkere. Sinnesverwirrung. Ich bereite eine Chankalilösung vor, die will ich leeren, wenn ich binnen einer Stunde nicht einschlafe.“ Und so that er. Mit tiefem Schmerz nahm der Direktor ein an ihn gerichtetes Schreiben des Selbstmörders entgegen. Es lautete: „Nehmen Sie, verehrter Herr, diesen meinen legten Brief nachsichtig auf, wenn er auch aus der Hand eines Selbstmörders stammt, und urteilen Sie mild über diesen meinen letzten Schritt! Ich habe alle meine Kräfte aufgewendet, um mir gelehrte Kenntnisse und ein ausgebreitetes Wissen anzueignen. Aber darüber ist mein Gemüt verarmt, alle Freude am Leben in mir erstorben.

Das ewige Einerlei eines geist und seelenlosen Unterrichts konnte die Leere in mir nicht ausfüllen. Wir bilden ja wohl geschickte Techniker, räsonierende Halbwisser, erziehen aber keine Menschen, geschaffen zu wahrer Freude und göttlicher Tugend. Die neuere Naturwissenschaft, deren Studium ich eifrig oblag, hat mir den Himmel entgöttlicht, die Welt entgeistigt und zum seelenlosen Räderspiel eines toten Mechanismus entwürdigt. Ein solches Dasein ist nicht wert, gelebt zu werden. Von Ekel daran erfüllt, scheide ich aus demselben. Verzeihen Sie, wenn ich mit dieser Selbstablösung Ihnen und meinen Freunden Kummer bereite, und gönnen Sie von Herzen die längst heißersehnte ewige Ruh' Ihrem 3. H."

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Lebensüberdruß war es gleichfalls, was den Berliner Rechtsanwalt A ... im Sommer 1890 in den Tod getrieben hat. Man fand ihn, mit voller Börse ausgestattet, im Admiralitätsgarten auf einer Bank, den Revolver in der Hand, womit er sich erschossen hatte. Er war erst dreißig Jahre alt und im Besitz eines ausreichenden Vermögens. Den Lumpen und Bösewichtern gehört die Welt, die hängen zäh an diesem elenden Leben. Wer edler fühlt, wer die Blumenmaske gelüftet hat, welche die Totengrüfte verhüllt, der zieht sich mit Verachtung zurück. Ich habe für niemand ein Lebewohl, denn niemand gedenket mein. Habe nicht Liebe genossen, nicht Liebe gegeben. War vor dem Tod den Toten gleich. Ehrlich Begräbnis dem armen F. A“. — So stand in einem Zettel zu lesen, den man in der Brieftasche des Unglücklichen fand. Liebeleer ging der junge Mann durch die Welt, liebearm schied er aus der Welt. Hätte er nur einem Findling Liebe erwiesen, so hätte er Liebe genießen dürfen und seinem als schal und fad empfundenen Dasein eine heilige Weihe verliehen. Hätte er nur ein Zehntel seines reichlichen Einkommens in der Bank der himmlischen Caritas, der freudig gebenden Barmherzigkeit anlegen wollen, so wäre er zu Seiner, d. h. zu Gottes Stunde, im Frieden aus der Welt geschieden, und an Seinem Grabe wären Thränen dankbarer geretteten Armen ge= flossen, ein kostbares Naß, die Wurzeln seines Lebensbaumes zu befeuchten, daß derselbe in die Ewigkeit hinüberwüchse, gleich dem

Baum des Psalmisten, der da grünt und blüht, weil gepflanzt an frischen Wasserbächen.

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Zu den Lebensüberdrüssigen gehören auch die blasierten d. h. abgestumpften Lebemenschen, die sich eine Kugel durch den Kopf jagen, nachdem sie alle Sinnengenüsse der Welt, alles, was der Weltbrief ausweist“, durchgekostet haben und nun nichts mehr empfinden als Ekel an allen Genüssen. Höhere Freuden haben sie nicht gekannt als die, welche der Dienst des Bacchus und der Venus gewährt: sind diese erschöpft, ist ihre eigene Manneskraft verzehrt; kommen sie gleich dem Tannhäuser welken Angesichts, in Schanden ergraut und abgelebt, aus dem Venusberg, dann greifen sie zum Revolver und werfen das Leben wie ein abgenüßtes Spielzeug von sich. Der Tannhäuser hat wenigstens zum Pilgerstab gegriffen, hat dem römischen Bischof gebeichtet und Buße thun wollen!

Der englische Minister, Viscount Castlereagh, Marquis v. Londonderry, war einer der hartnäckigsten Gegner Napoleons I. Wegen seiner energischen Beihilfe zu dessen Sturz wurde er auf dem Wiener Kongreß, wo er England vertrat, von den Monarchen hochgeehrt, zuhause jedoch im Parlamente bitter getadelt, weil er die englischen Interessen, besonders nachher wieder auf dem Kongreß zu Aachen, preisgegeben habe. So war er denn ein Gegenstand des öffentlichen Hasses und mußte seinen baldigen Sturz als Minister befürchten. Fortan verfiel er in eine düstere Gemütsstimmung und öffnete sich eines Tags mit einem Federmesser eine Ader am Hals, so daß er am 12. August 1822 zu London an Verblutung starb.

Ohne bewußte Beweggründe scheiden oft die Opfer des Spleens, jenes spezifisch englischen Seelenleidens, aus der Welt.

Gefühle tiefster Wehmut ruft in besonderem Maße der Selbstmord des Friedrich List, eines der größten Nationalökonomen und Volkswirte Deutschlands, hervor. Nach einem höchst bewegten Leben voll heißer Bemühungen um des Vaterlandes Wohlfahrt, um Schaffung und Erweiterung des Zollvereins, eines nationalen Handelssystems, eines dem nationalen Transportsystem dienenden

Eisenbahnnezes, dabei viel angefeindet, wurde er förperlich leidend und verfiel in eine tiefe Verstimmung. Um sich Erholung zu verschaffen, reiste er in das Tiroler Alpenland. Kaum in Kufstein angelangt, ward er vom Trübsinn überwältigt und erschoß sich in dieser Gemütsverfassung es war am 30. November 1846. Zu Lebzeiten einige Monate über Gefangener auf dem Hohenasperg, erhielt er nach seinem Tod ein Ehrendenkmal zu Reutlingen, seiner Vaterstadt. In einem „Anfall von Schwermut“, wie die Zeitungen vermuteten, machte der Bildhauer E. Lürssen durch eine Pistolenkugel seinem Leben ein Ende (Februar 1891). Er hatte zu diesem Zwecke eine kleinkalibrige Luftpistole angeschafft, deren Knall so schwach war, daß das Dienstmädchen, das ganz nahe arbeitete, kaum ein Geräusch vernahm. Als jedoch Frau Lürssen von einem Ausgange heimkehrte und das Atelier ihres Gatten betrat, fand sie denselben blutüberströmt auf dem Boden liegend. Dieser Anblick erschütterte sie dergestalt, daß sie in Ohnmacht fiel. Zwar brachte sie ein im Hause wohnender Arzt, den ihr Sohn herbeirief, nach einiger Zeit wieder zu sich, worauf sie gegen ihren Sohn ihren grenzenlosen Schmerz aussprach. Plöglich aber stellten sich bei ihr heftige Herzkrämpfe ein, denen ein Herzschlag folgte. Die That ihres Gatten hatte ihr das Herz ge= brochen, dessen Selbstmord ein zweites Leben in den Tod mit fortgerissen. Das letzte Werk dieses talentvollen Künstlers war der Monumentalbrunnen im Schloßhof zu Kiel, welchen die Provinz Schleswig-Holstein dem Prinzen Heinrich von Preußen als Hochzeitsgabe hatte errichten lassen. Konnte der Ruhm, der Abgott der Künstler, sein Herz nicht befriedigen? Oder waren es widrige Familienverhältnisse, welche ihm die Mordwaffe in die Hand

drückten?

Jedoch nicht nur in Kreisen der sogen. Gebildeten holt die „Schwermut“ ihre Opfer, sondern auch in den unteren Ständen, auch im feinerfühlenden weiblichen Geschlecht. Wie lakonisch lauten Berichte gleich den folgenden: Rav. 29. Juni. Die siebzigjährige Frau eines wohlhabenden Bauern, der vor Jahren in unsere Stadt gezogen war, hat sich gestern den Hals durchschnitten. „Sie litt", heißt es weiter, „seit längerer Zeit an Schwermut."

Gmünd 13. Nov. Gestern Abend erhängte sich ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mann im Keller seiner Wohnung. „Schwermut" soll ihn zu diesem Schritt veranlaßt haben. - Diese beiden waren Katholiken.

,,Feig vergangen? Nun und nimmer

Sich begraben

In des Trübsinns Nebeldunst!
Und an jedem Sonnenschimmer
Freude haben,

Ist die rechte Lebenskunst!"

Unglückliche Anna H...! Die Welt der Bretter war deine Heimat, der Glanz der Lustres deine Sonne, der Beifall der Menge, die Schmeicheleien deiner Verehrer deines eitlen Schauspielerherzens Wonne. In wie vielerlei Gestalten bist du vor sie getreten: bald ernst und wehmütig, daß sie klagten und zu Thränen gerührt würden, bald schäkernd und scherzend, daß sie lachen und tanzen möchten! Aber ach, die inhaltsleere Illusion der Bretterwelt vermochte dich nicht über den Ernst der wirklichen Welt, über die Herbe des realen Lebens hinwegzutäuschen, und stürmisch begehrte dein unbefriedigtes Herz nach dem Frieden von innen, dem Frieden von oben, dem jener allein entspringt! Wie so manchesmal hast du des Altmeisters Goethe Sehnsuchtslied in ergreifenden Lauten vorgetragen:

,,Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquicung füllest,

Ach, ich bin des Treibens müde,

Was soll all' der Schmerz und Lust?

Süßer Friede,

Komm, ach komm in meine Brust!"

Wie mußten ihre Bekannten betroffen sein, wenn sich diese junge Dame, die voll unverwüstlicher Lebenslust schien, ihnen gegenüber äußerte, sie werde sich eines Tages gleich einigen ihrer Verwandten erschießen! Wie mag sich ihr Verlobter, Hofschauspieler F. B., entsetzt haben, als er von ihr ein Billet folgenden Inhalts empfing: Liebling, lebe wohl! 3ch sehne mich nach

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