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Ich beginne mit dem Selbstmord von drei zwölfjährigen Knaben, die, in die sogenannten Unterscheidungsjahre gekommen, ihre beginnende Einsicht und Willensfreiheit nicht besser zu verwerten wußten, als zu dem Entschlusse, dem ihnen erst aufblühenden Leben vorzeitig Valet zu sagen. An einem Julisamstag hatte sich zu Preungesheim der zwölfjährige W. Boß mit seinem achtjährigen Brüderchen gezankt und war deswegen von seinem Vater getadelt worden. Kurz darauf fand man ihn an einer Leiter in der Scheune erhängt.

Am 26. November äußerte ein dreizehnjähriger Maurerssohn gegen seine jüngeren Geschwister scherzend, er wolle das Hängen probieren. Gesagt, gethan. Er schlang einen Strick um den Hals. Wie ihn die Kleinen am Ende erbleichen sahen, liefen sie davon. Die Eltern fanden den Jungen tot. Bierzehn Tage zuvor hatte er begierig zwei Frauen gelauscht, welche Beispiele vom Hängen besprochen hatten.

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Um dieselbe Zeit geschah es, daß in der Stadt Ulm ein elfjähriger Knabe mit seiner Mutter, einer Witwe, auf der Straße in Wortwechsel geriet. Da ihn sein Vormund darüber zur Rede stellte, so ging der Junge hin und erhängte sich. Wie kam es doch, daß das Kind vom Hängen wußte und, von unwiderstehlicher Gewalt gezwungen, alsbald zur Ausführung des dämonischen Gedankens schritt? Woher solche plötzliche Eingebungen?

Am 20. Juni legte sich zu Gmünd der fünfzehnjährige Lehrling eines Goldarbeiters unter einen Bahnzug, dessen Räder ihm alsbald den Kopf vom Rumpfe trennten. Warum? Vielleicht eines Verweises oder der strengen Zucht wegen.

Am 24. April 1891 hat sich zu Heilbronn ein sechzehn= jähriger Kaufmannslehrling auf die Schienen gelegt und ward vom Weinsberger Bahnzug überfahren. Hatte er nicht einmal zur Mutter oder zu Geschwistern, Freunden so viel Vertrauen, ihnen den Kummer mitzuteilen, der ihn quälte? Und sein Gottesbewußtsein, sein Gewissen, die Rücksicht auf die Achtung guter Menschen konnte ihn das alles nicht abhalten? Noch so jung, Maisch, Durch eigene Hand.

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und bereits vom Wandel vor dem allwissenden Gott gänzlich abgekommen?

Am 17. März 1891 brachten die Arbeiter der Baggermaschine, welche im Neckar bei Kannstatt arbeitet, statt einer Ladung Kies den Leichnam eines jungen Menschen aus der Tiefe herauf. Es stellte sich heraus, daß es ein Handwerkerlehrling war, der sich am vorhergehenden Sonntag in den Neckar gestürzt hatte. War es das Gefühl der Verlassenheit, denn er war eine eltern und heimatlose Waise, das ihn gerade am Tage des Herrn, wo seine Kameraden ihre Eltern besuchen durften, so überwältigend erfaßt hatte? Oder war sein Gewissen über irgendeine schlimme Handlung so beunruhigt, daß der Lebensüberdruß die jugendliche Lebenslust überwog?

Zu Wien erhängte sich kürzlich ein 11 jähriger Gymnasiast, weil ihm die Erlernung der lateinischen 3. Deklination schwer fiel. Sein Selbstmord bildet eine Anklage gegen unsere heutige Gesellschaft im allgemeinen, im besondern (weniger gegen das Gymnasium, wohin unbegabte Schüler nicht gehören, als) gegen seine Eltern, die den geistig schwachen Knaben ihrem Ehrgeiz zum Opfer brachten.

Am 15. November wurde im Gerichtsgebäude zu Kassel mit 5 Justizanwärtern eine Prüfung abgehalten, wobei 2 durchfielen. Einer derselben, der Sohn eines niederen Eisenbahnbeamten, griff zum Revolver und erschoß sich vor dem Prüfungssaal — ein Opfer krankhaften Ehrgeizes und verfehlter Berufswahl wie eines vermessenen Troßes. Gedachte er nicht zuvor des Schmerzes, den sein Schritt Vater und Mutter bereiten mußte?

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Wegen schlechten Examens vergiftete sich in Buda-Pest der Student der Rechte, G. Jakab-Falvy, zuvor einer der schneidigsten Studentenführer. Er hinterließ ein Billet, worin er Gott der schreiendsten Ungerechtigkeit anklagte, weil er die Geistesgaben. so ungleich ausgeteilt habe, daß der eine es zum Minister und zum reichen Manne, der andere kaum zu einem Hungerlohne bringen kann. Hätte er seine Gabe erforscht und verwertet, so hätte er bei demütiger Selbstbescheidung doch auch zu einem glücklichen und nüglichen Mitglied der Gesellschaft heranwachsen können.

Aus demselben Grund vergiftete sich zu München ein Student der Pharmazie mit Cyankali.

Am 12. Februar 1891 abends kam der junge M. M., der Sohn angesehener Eltern in Stuttgart, nachhause, nachdem er den ganzen Nachmittag sich mit Schlittschuhlaufen vergnügt hatte. Nach dem Abendessen begehrte er nochmals auszugehen. Da seine Eltern ihm die Erlaubnis dazu verweigerten, erhob er sich tropig, ging in das Nebenzimmer und erschoß sich mit einem Revolver, in dessen Besitz der Knabe sich schon längere Zeit befand. Man weiß nicht, soll man mehr über den Ungehorsam, die Vergnügungssucht oder über die grenzenlose Frivolität trauern, die in diesem für unsere Zeit wieder sehr bezeichnenden Falle zutage treten.

Aus nichtswürdigen Gründen.

„Achtet ihr das gottgeschenkte Leben Für ein eitles Kinderspiel ?"

Der Buchhalter eines Berliner Geschäftes erschoß sich im August im Geschäftszimmer seines Prinzipals, weil ihm dieser wiederholt einen Gehaltsvorschuß abgeschlagen hatte.

Eine augenblickliche Verstimmung, ein geringfügiger Ärger giebt nicht selten den Beweggrund zum Selbstmorde ab. Man erzählt von einer Haushälterin, die sich 1872 in das Wasser stürzte, weil sich das von ihr gekaufte Fliegenpapier als unwirksam erwies. Im Mai 1883 ertränkte sich ein Handwerksmann, weil er in einem Schuhladen kein für ihn passendes Paar Stiefel finden konnte.

Ein Lohnkellner knüpfte sich auf, weil er wegen 2 Biermarken einen kleinen Verlust erlitt. Es war freilich gerade ein heißer Tag mit 28 Grad C im Schatten, und bei solcher Hige vermag schon ein kleiner Ärger bei einem geistesarmen und charakterlosen Menschen das innere Gleichgewicht zu stören. Ein reicher Hausbesitzer verlor 1880 in einem Prozeß die für ihn unbedeutende Summe von 300 M. Dieser Verlust bekümmerte ihn jedoch derart, daß er beschloß, sich zu töten. Er wählte eine ausgesuchte Todesart. Am 1. Oktober bestieg er den Boden

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eines freistehenden Schuppengebäudes und brachte sich mit einem Fleischermesser im Nacken eine 6 cm tiefe Wunde bei, welche das verlängerte Rückenmark durchschnitt und augenblicklichen Tod zur Folge hatte. Der Mann, der mit so seltener Energie diese grauenhafte That vollzog, stand im 54. Lebensjahre. euer Schatz ist, da ist euer Herz": sein Herz kannte keine Liebe, als die zu seinem Geld, keinen Gott, als den Mammon; wie nun ein Teil desselben hinschwand, da war es auch um seinen Lebensmut, um sein Herz geschehen.

Am 25. Februar 1891 erhängte sich zu Ochsenhausen auf der Laube (oberen Flur) seines Hauses ein lediger Metzger von 30 Jahren. Morgens hatte er noch einer Versteigerung beigewohnt und sich fröhlich und guter Dinge gezeigt. Wer löst dieses Seelenrätsel: heiter, und wenige Stunden darauf zum Selbstmord schreitend? War es erheuchelte, um gewisser Leute willen zur Schau getragene Fröhlichkeit? Oder war nachher ein Ereignis eingetreten, das diesen Menschen in Verzweiflung brachte? War seine That die Folge eines ererbten Hanges zum Selbstmord? Nur in den schlimmsten Zeiten des römischen Kaiserreiches schritten die Hoffnungslosen in gleicher Weise lachend und scherzend zum Selbstmord.

Wegen Körperleiden.

„Geber aller guten Gaben, Festen Glauben möcht' ich haben, Duldung, alle Lebensplagen Mit Gelassenheit zu tragen, Stilles Harren, bis der Tod Mich erlöst auf dein Gebot!" (Chr. D. F. Schubart.)

über manche Sterbliche ist ein solches Maß von schweren Körperleiden verhängt, daß sie, durch ihre Sinnes- und Denkweise allein auf ihre eigene Kraft angewiesen, dieselben nicht weiter zu ertragen vermögen. Gepeinigt von qualvollen Schmerzen, nach vielem vereitelten Ringen den Tod im Herzen, erschoß sich am 30. November 1846 zu Kufstein in Tirol der Württemberger Friedrich List, einer der größten Nationalökonomen Deutschlands.

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Große Gaben des Geistes waren ihm in die Wiege gelegt, ein hohes Streben, energisches Ringen mit ins Leben gegeben worden; aber der Sinn demütiger Geduld und Ergebung in sein Schicksal als Gottes Schickung mangelte ihm. Einer schmerzhaften Operation sah der Ingenieur Cohnfeld von Bodenbach entgegen, da er eben auf der Reise zu der Privatklinik des Arztes war, der dieselbe an dem kranken, siechen Manne vornehmen. sollte. Seine Angst steigerte sich dergestalt, daß er sich unterwegs selbst den Tod gab.

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Am 13. Februar 1891 machte Generallieutenant Ernst v. B. seinem Leben durch die Kugel ein Ende. Es war die Last der Kränklichkeit und der Hypochondrie, welche er nicht weiter tragen zu können vermeinte. Ihm war zumute wie dem schwergeprüften Hiob, da er sprach: „Ich bin mir selbst eine Last“; aber er bewies nicht die Geduld eines Hiob, da er eigenmächtig die Last des Lebens abwarf, ohne die Wendung seines Geschicks zum besseren abzuwarten. Hätte er dies über sich vermocht, so hätte er mit dem Psalmisten erfahren dürfen: Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch." Und wohl dem, der die schwere Last seines selbstischen, seines kränklichen Ich zu vertauschen vermag mit dem, was Jesus, der verklärte Menschensohn, auferlegt, der spricht: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht!"

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„Kreuz ist der Ordensschmuck der Gotteskinder." Unchristliche Leidensscheu und Kreuzesflucht erfaßte auch jene bulgarische Emigrantin Adriane Benderew-Jordan, die sich kürzlich zu Petersburg infolge eines schweren Körperleidens erschossen hat. Auf ihrem Arbeitstische fand ihr tief erschütterter Gatte ein Billet des Inhalts: „Verzeihe, Teurer, daß ich den Faden meines Daseins eigenmächtig zerschneide. Ich kann mein Leiden nicht

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