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Vierter Theil.

Das Urtheil in seiner Beziehung zu den objectiven Grundverhältnissen oder Relationen.

§ 67. Das Urtheil (iudicium, drógavois, als Bestandtheil des Schlusses auch propositio, ngótaσis genannt) ist das Bewusstsein über die objective Gültigkeit einer subjectiven Verbindung von Vorstellungen, welche verschiedene, aber zu einander gehörige Formen haben, d. h. das Bewusstsein, ob zwischen den entsprechenden objectiven Elementen die analoge Verbindung bestehe. Wie die Einzelvorstellung der Einzelexistenz, so entspricht das Urtheil in seinen verschiedenen Formen als subjectives Abbild den verschiedenen objectiven Verhältnissen oder Relationen. Der sprachliche Ausdruck des Urtheils ist die Aussage oder der Aussages atz (enunciatio, ἀπόφανσις).

Von den einzelnen Vorstellungen und deren Elementen schreitet die Betrachtung im Urtheil zu der Verbindung mehrerer fort. Der Fortgang ist hier (wie auch wiederum bei der Verbindung von Urtheilen und Schlüssen) ein synthetischer, wogegen der Fortgang von der Wahrnehmung zu der Bildung von Einzelvorstellungen und Begriffen ein analytischer war. Das Urtheil ist das erste durch Synthesis wiedergewonnene Ganze. Die logische Betrachtung aber darf nicht (wie einige Logiker wollen) mit der Reflexion auf dieses (abgeleitete) Ganze, sondern nur mit der Reflexion auf das unmittelbar gegebene (primitive) Ganze, d. h. auf die Wahrnehmung, beginnen.

Einzelne Begriffe sind niemals Urtheile, auch Relations begriffe nicht; auch nicht blosse Begriffscombinationen; erst die hinzutretende Ueberzeugung von dem Stattfinden oder Nichtstattfinden des Gedachten bildet das Urtheil. Das Urtheil unterscheidet sich von der bloss subjectiven Vorstellungscombination durch die bewusste Beziehung auf die Wirklichkeit oder zum mindesten auf die objective Erscheinung. Die Bestimmung, der Wirklichkeit zu entsprechen, giebt dem Urtheil den Charakter eines logischen Gebildes. Wo das Bewusst

sein über die objective Gültigkeit fehlt, da fehlt eben das Urtheil; wo es ein irriges ist, da ist das Urtheil ein falsches.

Die Bildung der Vorstellungscombination und des Bewusstseins über ihre Gültigkeit kann gleichzeitig erfolgen; es kann aber auch die Vorstellungsverbindung (z. B. die Verbindung der Vorstellung dieses Angeklagten mit der Vorstellung der ihm zur Last gelegten That und der ihm schuldgegebenen gesetzwidrigen Absicht) eine Zeit lang von dem Bewusstsein der Ungewissheit über ihre objective Gültigkeit begleitet sein, bis sich zureichende Entscheidungsgründe ergeben, die zu dem Bewusstsein von ihrer Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der objectiven Realität, d. h. zu dem (affirmativen oder negativen) Urtheil führen.

Auch bei den mathematischen Urtheilen fehlt die Beziehung auf die Objectivität keineswegs. Unsere Raumvorstellung entspricht der objectiven Räumlichkeit, und das geometrische Urtheil ist das Bewusstsein der Uebereinstimmung einer (subjectiven) Annahme mit einem (objectiven) Verhältniss räumlicher Gebilde; der wahre Satz muss bei wirklicher Construction, wenn diese durch uns oder durch die Natur selbst vollzogen wird, sich jedesmal in um so vollerem Maasse, je genauer construirt wird, als objectiv gültig bewähren. Auch der Zahlbegriff hat, obwohl die Zahl nicht als solche ausserhalb unseres Bewusstseins existirt, innerhalb der objectiven Realität seine Basis, nämlich in der Quantität der Objecte und in dem Bestehen von Gattungen und Arten, welche die Subsumtion vieler Objecte unter Einen Begriff bedingen; der wahre arithmetische Satz muss mit den objectiven Quantitätsverhältnissen so zusammenstimmen, dass, wo die Voraussetzung (Hypothesis) realisirt ist, auch das Behauptete (die Thesis) sich realisirt findet. Nehme ich von hundert Thalern dreissig weg und lege zwanzig hinzu, so müssen ebensowohl in der Casse sich neunzig Thaler vorfinden, wie in abstracto die Gleichung gilt: 100-30+20 90, und die Gültigkeit dieser letzteren ist eben ihre Anwendbarkeit auf alle möglichen zählbaren Objecte. Zwar können die Zahlen von dieser Beziehung durch Abstraction abgelöst und selbst zu Denkobjecten erhoben werden, erlangen aber als solche immer nur eine relative Selbständigkeit.

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Bei dem einzelnen Urtheil von einer formalen Richtigkeit zu reden, die von der materialen Wahrheit getrennt sein könne, und z. B. den materiell falschen Satz: alle Bäume haben Blätter formell richtig zu nennen, indem die Logik gegen dieses Urtheil keine Einwendung zu machen habe, ist ein wohl nicht billigenswerthes Verfahren Drbal's (in seinem Lehrbuch der propädeutischen Logik, Wien 1865, § 8, S. 8), gegen welches J. Hoppe (die gesammte Logik, Paderborn, 1868, § 29, S. 22 f., der das Denken als eine Uebersetzungsarbeit bezeichnet) mit Recht, obschon nicht durchgängig in richtigem Sinne polemisirt. Falsch ist Drbal's Annahme, das Denken sei ein formales zu nennen, sofern man es bloss von Seiten seiner Form betrachte. Mit demselben Rechte könnte man sagen, die griechische Sprache sei eine formale zu nennen,

sofern man sie von Seiten ihrer grammatischen Form betrachte. Formal ist nicht das Denken, welches von Seiten seiner Form betrachtet wird, sondern nur die logische Betrachtung selbst, die sich auf die Form des Denkens richtet, gleich wie nicht die grammatisch betrachtete Sprache, sondern nur die grammatische Betrachtung selbst formal ist. Das Denken in der Logik (das logische, oder wie man bestimmter sagen könnte, logikalische Denken) ist ein formales, d. h. die Form des Denkens überhaupt betrachtendes Denken. Dieses formale< Denken ist ein »begriffliches, sofern es von den Denkoperationen die zutreffenden Begriffe gewinnt, und kann und soll nicht, wie J. Hoppe zu wollen scheint, zu Gunsten einer »begrifflichen Denklehre aufhören; es richtet sich aber nicht bloss auf den Begriff, sondern gleichmässig auf die sämmtlichen Denkformen. Das durch die Logik betrachtete und normirte Denken ist ein logisches, sofern es den logischen Gesetzen gemäss ist; es ist nicht eine besondere Art des richtigen Denkens neben anderen Arten (etwa, wie Rabus in seiner Log. u. Metaph., Erlangen 1868, § 5, S. 65 u. ö. meint, das begrenzende Denken, insbesondere das Urtheilen, welches als höhere Stufe über dem Wahrnehmen und Vorstellen und als niedere unter dem genetischen Denken stehe). Logisch richtig (oder formell richtig) ist jede Operation des Denkens, sofern sie den logischen Normen entspricht. Sofern nun die logische Anforderung an das Urtheil dahin geht, dass dasselbe wahr sei, fällt bei dem einzelnen Urtheil formale Richtigkeit und materiale Wahrheit in Eins zusammen; man kann freilich jene auch auf die blosse Richtigkeit der Structur (der Subjects- und Prädicatsverbindung) einschränken. Sofern die Ableitung eines Urtheils aus (möglicherweise falschen) Datis den für sie geltenden logischen Normen entspricht, ist sie formell richtig, und das abgeleitete Urtheil selbst ist dann mit formaler Richtigkeit abgeleitet worden, ohne dass es materiell wahr oder, als einzelnes Urtheil an und für sich selbst betrachtet, logisch richtig zu sein braucht. Die logische Richtigkeit der Gesammtheit aller auf Erkenntniss abzielenden Operationen von der äussern und innern Wahrnehmung an ist dagegen wiederum zwar nicht mit der materialen Wahrheit (welche das durch sie erzielte Resultat ist) identisch, aber mit der materialen Wahrheit (sei es in dem vollsten oder in einem irgendwie eingeschränkten Sinne dieses Wortes) nothwendig verbunden. Ueber die Wahrheit eines einzelnen gegebenen Urtheils kann die Logik darum nicht entscheiden, weil sie überhaupt nur Normen aufstellt und nicht selbst die Anwendung vollzieht; ihre Aufgabe ist die Gesetzgebung allein. Die Logik als solche hat gegen das Urtheil: alle Bäume haben Blätter< allerdings keine Einwendung zu machen; aber es ist ein Missverständniss, wenn dies so gedeutet wird, als ob sie dasselbe als ein »der Form nach vollkommen richtiges Urtheil anzuerkennen habe; sie macht gegen dasselbe keine Einwendung nur darum, weil sie sich mit diesem bestimmten Urtheil als solchem eben so wenig wie mit irgend einem andern zu befassen hat; die Anwendung der logischen Forderung, dass es ein Subject und Prädicat habe, ist mittelst bloss logischer, der lo

gischen Forderung aber, dass es wahr sei, mittelst naturwissenschaftlicher Kenntnisse zu vollziehen, durch welche sich die Falschheit desselben ergiebt. Auf die blosse Widerspruchslosigkeit der Begriffe würde die formale Richtigkeit nur dann eingeschränkt sein, wenn wirklich die logischen Normen nur auf diese Widerspruchslosigkeit abzielten (vgl. oben § 3); aber selbst in diesem Falle würde die Logik als die gesetzgebende Wissenschaft die Entscheidung über die (in diesem Sinne freilich die materiale Wahrheit keineswegs involvirende) Richtigkeit irgend eines einzelnen gegebenen Urtheils nicht selbst zu vollziehen und die einzelnen Widersprüche nicht selbst aufzudecken, sondern für diese richterliche Function nur die Normen aufzustellen haben.

Wie die Vorstellungsformen ursprünglich zugleich mit und an den Wortarten erkannt worden sind, so das Urtheil mit und an dem Satze. Plato erklärt den lóyos als die Bekundung des Gedankens (diávora) durch die Stimme (φωνή) mittelst ῥήματα und ὀνόματα, indem der Gedanke in den aus dem Munde ausströmenden Lauten gleichsam sich abpräge (Theaet. p. 206 D; kürzer, aber minder genau ebd. p. 202 B: ὀνομάτων γὰρ ξυμπλοκὴν εἶναι λόγου οὐσίαν). In dem (wahrscheinlicher von einem unmittelbaren Platoniker, als von Plato verfassten) Dialog Sophistes wird (p. 262, 263 D) der Satz (lóyos), welcher der sprachliche Ausdruck des Gedankens (divoa) sei (wie in nicht sehr glücklicher Zusammenfassung der Bestimmungen Plato's im Theaet. hier gesagt wird: τὸ ἀπὸ τῆς διανοίας ῥεῦμα διὰ τοῦ στόματος τὸν μετὰ φθόγγου), in seiner einfachsten Grundform (z. Β. ἄνθρωπος μανθάνει, Θεαίτητος zára) für diejenige Verbindung von Substantivum und Verbum erklärt, die der Verbindung von Ding und Handlung entspreche (Suuriozý oder ξύνθεσις ἔκ τε ῥημάτων γιγνομένη καὶ ὀνομάτων, δημάτων γιγνομένη καὶ ὀνομάτων, — ξυντιθέναι πραγ μα πράξει δι' ὀνόματος καὶ ῥήματος) (s. darüber Uphues, Die Definition des Satzes nach den platonischen Dialogen Kratylus, Theaetet, Sophistes. Landsberg 1882). - Aristoteles (de interpret. c. 4. 17 a) definirt das Urtheil als απόφασις oder als λόγος ἀποφαντικός, in welchem Wahrheit oder Nichtwahrheit sei, ἐν ᾧ τὸ ἀληθεύειν ἢ ψεύδε σα vлάoza) oder mit Rücksicht auf den sprachlichen Ausdruck als eine Aussage über ein Sein oder Nichtsein (c. 5. 17 a 22: čouv ý åndň ἀπόφανσις φωνὴ σημαντικὴ περὶ τοῦ ὑπάρχειν ἢ μὴ ὑπάρχειν). Als Elemente des einfachen Urtheils bezeichnet Aristoteles (c. 5; c. 10) in Uebereinstimmung mit Plato das ὄνομα καὶ ῥῆμα. Im Anschluss an die Platonischen und Aristotelischen Bestimmungen definirt Wolff (Log. § 39): actus iste mentis, quo aliquid a re quadam diversum eidem tribuimus vel ab ea removemus, iudicium appellatur. Das Urtheil wird mittelst der Verbindung oder Trennung von Vorstellungen gebildet (§ 40). Der Satz oder die Aussage (enunciatio sive propositio) ist die Verbindung der den Vorstellungen als den Elementen des Urtheils entsprechenden Worte, wodurch die Verbindung und Trennung der Vorstellungen und somit auch, was der Sache zukomme oder nicht zukomme, bezeichnet wird (§ 41 f.). Wolff fordert demnach noch ebenso, wie Plato und Aristoteles, drei einander parallele Reihen: der Verbin

dung in den Dingen soll die Vorstellungscombination und der letzteren wiederum die Aussage entsprechen. Mehrere Logiker nach Wolff gebrauchen, um in der Definition des Urtheils die Disjunction: Verbindung oder Trennung, zu vermeiden, den Ausdruck: das Urtheil ist die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen. Kant definirt das Urtheil (Log. § 17) als die Vorstellung der Einheit des Bewusstseins verschiedener Vorstellungen, oder als die Vorstellung des Verhältnisses derselben, sofern sie Einen Begriff ausmachen, oder bestimmter (Kritik der r. Vern. § 19) als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception zu bringen. Unter der objectiven Einheit versteht Kant die Zusammengehörigkeit nach jenen Kategorien, welche das Ich durch die ursprüngliche Bethätigung seiner Spontaneität aus sich erzeuge, und welche das Ich zu dem Inhalt der Wahrnehmungen als Formen a priori hinzubringe. Offenbar bezeichnet die Objectivität in diesem Sinne nicht mehr die Beziehung auf eine an sich reale Aussenwelt, sondern nur eine Art der Thätigkeit des Ich, so dass diese Lehre vom Urtheil ungeachtet des beibehaltenen Ausdrucks der Objectivität doch durchaus nur den subjectivistischen Charakter der Kantischen Philosophie offenbart. Auch bei den unter dem Kantischen Einflusse stehenden Logikern wird immer mehr die Ansicht vorherrschend, welche in dem Urtheil nur den Process der Subsumtion des Besondern unter das Allgemeine erkennt. In diesem Sinne lehrt Fries (System der Logik § 28): das Urtheil ist die Erkenntniss eines Gegenstandes durch Begriffe, indem der Begriff einem Gegenstande als Merkmal beigelegt und dadurch die Vorstellung des Gegenstandes verdeutlicht wird. Herbart (Lehrbuch zur Einl. in die Phil. § 52) findet in dem Urtheil die Entscheidung über die Verknüpfbarkeit gegebener Begriffe. Twesten (Log. § 51) definirt das Urtheil als eine Behauptung über das Verhältniss zweier Begriffe in Ansehung ihres Inhalts oder Umfangs und macht vorzugsweise den Gesichtspunkt des Umfangs geltend, wonach die Urtheile als Subsumtionen von Begriffen unter Geschlechtsoder Artbegriffe anzusehen seien. Aber bei dieser Ansicht wird von Seiten der Logiker, welche die Begriffsbildung subjectivistisch auffassen, auch die Beziehung des Urtheils auf die entsprechenden Existenzformen verkannt. Hegel (Logik II. S. 65 ff.; Encycl. § 166 ff.) versteht unter dem Urtheil die am Begriffe selbst gesetzte Bestimmtheit desselben, oder den sich besondernden Begriff, oder die ursprüngliche Selbsttheilung des Begriffs in seine Momente, die unterscheidende Beziehung des Einzelnen auf das Allgemeine und die Subsumtion jenes unter dieses, aber nicht als blosse Operation des subjectiven Denkens, sondern als allgemeine Form aller Dinge. Hier wird wiederum, wie beim Begriff, die Beziehung auf die Realität zur Identität umgedeutet. Hegel unterscheidet die Urtheile von den Sätzen, welche nicht das Subject auf ein allgemeines Prädicat beziehen, sondern nur einen Zustand, eine einzelne Handlung etc. von demselben aussagen. In der That aber muss jeder (Aussage-) Satz ein logisches Urtheil zum Ausdruck bringen. Beneke (System der Logik I, S. 156 ff.; 260 ff.) unterscheidet das logische Ur

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