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herging. Das Alte Testament wirkte eben als Geschichte, oder wenn man lieber will, als epische Dichtung von klassischem Wert, deren Vollendung schon das Kind, das sich zum Großmeister des dichterischen Realismus entwickeln sollte, deutlich genug empfand, es wirkte als ein objektiv gegebener Anschauungsstoff voll reizvollen persönlichen Lebens. Dagegen steht der Knabe Christo und dem Christentum noch kühl, fast teilnahmlos gegenüber. Wohl ist auch das Neue Testament Geschichte, bietet es auch Geschichten. Aber die Geschichte Jesu ist mehr eine innere, gleichsam die einer anschaulich gewordenen Idee, des Fleisch gewordenen Wortes, die Evangelien sind nicht naive Geschichten, wie die der Patriarchen und zum Teil der Richter und Könige, sondern Lehrerzählungen. überall herrscht hier der Gedanke vor, leuchtet das Ideal hindurch; was äußerlich geschieht, ist vorwiegend symbolisch. Es wird im weiteren zu zeigen sein, wie hierfür auch dieser gottbegnadeten Seele erst da das Verständnis aufgeht, wo die eigene Lebenserfahrung sie eben auch erlösungsbedürftig macht, wo der Jüngling selbst zum Mühseligen und Beladenen geworden ist, der den Frieden sucht, den diese Welt nicht giebt. Ihm den Weg zu diesem gänzlich abzuschneiden, das hatte bei all ihrer Dürre und Unkraft seine bisherige religiöse Unterweisung und Erziehung doch nicht vermocht. Wenn wir aber beim Schlusse dieses Abschnittes fragen, was von alledem als bleibender Gewinn für seine religiöse Entwickelung zurückgeblieben, so wird die Antwort lauten: einmal die gründliche Kenntnis der Bibel und die Liebe zu ihr, die er so schön gesteht: „Fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig. Die Begebenheiten, die Lehren, die Symbole, die Gleichnisse, alles hatte sich tief bei mir eingedrückt und war auf die eine oder andere Weise wirksam gewesen“ 1) und neben dieser Kenntnis und Liebe zur Heiligen Schrift die Liebe zur Natur und die fromme Ehrfurcht, mit der er sie zu betrachten gewohnt war.

1) Dichtung und Wahrheit VII, H. 21, 58. W. W. B. 27, 96 ff.

II.

Der Jüngling,

Ungefähr ein Jahr nach Wolfgangs Konfirmation finden wir den frühreifen Jüngling in ein Liebesabenteuer (mit Gretchen) verflochten, das für ihn ein jähes, drückendes und beschämendes Ende nahm, indem er erfahren mußte, daß die Gesellschaft, in die er dadurch geführt worden, nicht die beste gewesen, und, was vielleicht noch schwerer wog, daß das geliebte Mädchen seine Neigung als das, was sie war, als eine knabenhafte Schwärmerei angesehen hatte. Die schnöde Lösung des Verhältnisses regte ihn so nachhaltig und andauernd auf, daß die Seinen ernstlich um ihn besorgt waren und ihm in einem älteren jungen Mann einen Stubennachbar und Hofmeister zur Seite gaben, der in offenem freundschaftlichem Verkehr beruhigend auf ihn wirkte. Er führte ihn in die Geschichte der alten Philosophie ein, wobei Goethe seine besondere Vorliebe für die Stoiker verstärkte, zu denen er schon früher einige Neigung gefaßt hatte; auch begleitete er ihn auf seinen Ausflügen und Wanderungen, die ihm schon jetzt in erregten Stunden ein Bedürfnis waren 1). Dabei suchte man jene schönen, belaubten Haine auf, die sich zwar nicht weit und breit in die Gegend erstrecken, aber doch immer von solchem Umfange sind, daß ein armes, verwundetes Herz sich darin verbergen

1) Dichtung und Wahrheit, H. 21, 10. W. W. B. 27, 14 f.

fann. An einem ernsten Plaß, wo die ältesten Eichen und Buchen einen herrlichen, großen, beschatteten Raum bilden, dem dichtes Gebüsch und bemooste Felsen und ein wasserreicher Bach einen romantischen Charakter verliehen, sprach ihm der neue Freund von Tacitus und dem Naturgefühl der alten Deutschen, ein unbestimmtes, riesenhaftes" Gefühl erfaßte ihn, das ihm im Alter noch so lebhaft gegenwärtig war, daß er sich des Ausrufs erinnert: „, warum liegt dieser köstliche Plaß nicht in tiefer Wildnis, warum dürfen wir nicht einen Zaun umherführen, ihn und uns zu heiligen und von der Welt abzusondern. Gewiß, es ist keine schönere Gottesverehrung als die, zu der man keines Bildes bedarf, die bloß aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen entspringt!" Ein neues, schönes Zeugnis der Verschwisterung der Naturbetrachtung und der religiösen Sehnsucht in dem jungen Herzen. Sie ist ein Grundzug seiner Weltanschauung geblieben, der in allen Perioden seines Lebens gleich deutlich hervortritt. Der Kirche und ihren Heilsmitteln freilich steht er jezt schon zweifelnd oder, wie er sich selbst ausdrückt, hypochondrisch gegenüber. Seine Einbildungskraft steigerte den Spruch, daß einer, der das Sakrament unwürdig genieße, sich selbst das Gericht esse und trinke, ins furchtbare. Und lange Zeit schwankte er zwischen aufklärerischen Zweifeln in heiteren, und düsteren Skrupeln und einer seltsamen Gewissensangst in trüben Stunden hin und her 1). Die Abwendung von der Kirche, somit schon im Elternhause vorbereitet, wurde eine immer entschiedenere in den neuen Umgebungen und Lebensverhältnissen, in die er während seines Universitätslebens in Leipzig eingetreten war. Wie ein dem Käfig entflogener Vogel, der im frischen, grünen Wald wieder von Baum zu Baum, von Zweig zu Zweig sich schwingen kann, fühlte sich Wolfgang im Genusse der neuen akademischen Freiheit frei und leicht 2). Der pedantischen Strenge der väter

1) Dichtung und Wahrheit VII, H. 21, 75. W. W. B. 27, 127.
2) W. W. B. IV, Abt. 1, S. 13 f.

lichen Erziehung entrückt, sieht er sich auf sich selbst gewiesen, aus der Enge des Elternhauses tritt er in die große Welt, in ein Leben voll neuer, mächtiger, mannigfaltiger Eindrücke und Anregungen. Über Leipzig, auch in diesem Sinne ein flein Paris, lag keine gesunde Atmosphäre. Die Gesellschaft, der er sich anschloß, war nicht nach jeder Richtung die beste, der leichte Sinn, mit dem er anfangs in vollen Zügen aufatmete, näherte sich dem Leichtsinn, die leidenschaftliche Liebe zu Käthchen Schönkopf artet in launische Eifersüchtelei aus und nimmt ein unbefriedigendes, verdrießliches Ende, in den Studien wird er bei heißem Wissensdurst da und dort wohl angezogen, aber nirgends dauernd festgehalten, auf dem Gebiet der Kunst schwankt er mitten unter den kräftigen Anregungen Desers und der Dresdener Galerie zwischen Malerei und Poesie hin und her. Die Mittelmäßigkeit, die ihm vielfach begegnet, fordert seine spöttische Kritik heraus. Er wendet sie, in seinen reinsten Empfindungen und besten Leistungen nicht geschäßt und anerkannt, gegen sich selbst und gegen alles, was er bisher verehrt und hochgehalten hatte. Kirche und Altar ließ er völlig hinter sich, und Gellerts sittlichen Einfluß verkümmerte ihm die gute Gesellschaft, „die nicht leicht etwas Würdiges in ihrer Nähe dulden kann“. Eine Periode der Trennung von aller Autorität, so ist mit Recht dieser Zeitraum genannt wor= den 1), und eine Periode des Zweifels und der Verzweifelung an den größten und besten Individuen. Es ist der Seelenzustand, wie ihn der erste Monolog des Faust schildert. Damals flog das Epos „Joseph und seine Brüder" mit manchen anderen seiner Dichtungen in die Flamme. Er habe ihn, schreibt er an die Schwester, wegen der vielen Gebete, die er zeitlebens gethan, zum Feuer verdammt und fährt später fort: „Wir haben hier manchmal über die Einfalt des Kindes gelacht, das so ein frommes

1) In der trefflichen Studie von R. F. A. Jobst, Goethes relig. Entwickelung bis zum Jahre 1775. Progr. des k. Marienstiftsgymnasiums zu Stettin 1877, S. 7.

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Werk schreiben konnte." Gleicherweise bedauert er auch, die „Höllenfahrt Christi“ geschrieben zu haben, und schämt sich ihrer sehr, da er von ihrer Verbreitung in Frankfurt hört 1). In dem Kummer und Unfrieden, in den ihn das Leid seiner Liebe zu Käthchen versett, kann er nicht weinen, aber auch nicht beten, wie er dem Freunde gesteht 2). Zu den Seelenleiden kam bald auch körperliche Krankheit. Die rastlose Anspannung des Geistes und eine ungesunde, unregelmäßige Lebensweise legte dazu den Grund. Eine Erkältung beim Baden und das Einatmen ungesunder Dünste beim Studieren kam dazu und führte einen Blutsturz herbei. Und nun als der in jeder Hinsicht so Begünstigte zum erstenmal in wirkliche Not geriet, als er auf dem Krankenlager nach erquickender Seelenspeise sich sehnte, da trat Religion und Bibel wieder näher an sein Inneres heran. Die biblische und dogmatische Kritik, womit er sich in Leipzig zeitweilig beschäftigt, hatte ihn der aufklärenden Richtung näher geführt. Während der Krankheit wirkte jedoch tiefer als die Einflüsse von dieser Seite der Meinungsaustausch mit einem Freunde, namens Langer, dem Nachfolger des geistreichen, freigeisterischen, nunmehr nach Dessau berufenen Behrisch in der Stelle eines Hofmeisters bei den Söhnen des Grafen Lindenau. Dieser hatte, „fromm, ohne dogmatisch zu sein, in dem Streit des historischen, positiven Christentums mit dem reinen Deismus, in welchem damals die christliche Religion hin- und herschwankte, sich für das erstere entschieden“ und wußte nun den franken Jüngling, an dessen Bibelfestigkeit er die wirksamste Unterstüßung fand, ebenfalls auf seine Seite zu ziehen. Er lenkte den Leidenden mit wohlthuender Ruhe auf religiöse Be= trachtungen und gewann ihn für den Glauben an einen göttlichen Ursprung des Evangeliums, so daß er sich damit wieder mit „Gefühl und Enthusiasmus", wenn auch nicht ganz ohne gelegent= liche zweiflerische Anwandlungen beschäftigen konnte. Nur halb

1) W. W. B. IV, 1, 114 ff.

2) Ebend. Nr. 33.

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