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1. Theil.

Schopenhauers Problem.

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Alle entscheidenden Wendepunkte in dem Systeme Arthur Schopenhauers deuten auf das eine Haupt- und Grundproblem seines Denkens hin: die ethische Bedeutsamkeit" des menschlichen Handelns zu erklären. Der breite Unterbau des Systems: die Metaphysik mit ihren merkwürdig verschlungenen Wegen, dient im Grunde nur dazu, dieses eine Problem von Stufe zu Stufe zu entwickeln, seine eminente Wichtigkeit zu zeigen, Gesichtspunkte zu seiner Lösung zu gewinnen und zu rechtfertigen. In einzelnen Vorstössen gleichsam, aber planmässig, dringt planmässig, dringt Schopenhauer von mehreren Punkten her immer wieder zu diesem einen Probleme vor. Es liegt ihm so nahe, dass man nie sicher ist, auch an scheinbar weitab liegender Stelle plötzlich eine Perspektive darauf eröffnet zu sehen. Und wenn Schopenhauer (Vorrede z. 1. Aufl. der Ethik, III. 350 = VIII. Fr.) in einem seiner treffendsten Bilder seine Philosophie mit dem hundertthorigen Theben vergleicht: von allen Seiten könne man hinein und durch jedes Thor auf geradem Wege zum Mittelpunkte gelangen, so kann über den Sinn, den dieser „Mittelpunkt" für ihn hatte, kein Zweifel sein. Wir versuchen zunächst, dem Probleme in den wesentlichen Verzweigungen, in denen es im Systeme Schopenhauers auftritt, nachzugehen. Es wird sich dabei zeigen, was wir bisher bloss behauptet haben, dass wirklich in dieses Problem sich der ganze Schopenhauer hineingelegt hat.

Um ganz von der Aussenseite auszugehen, so beruft sich Schopenhauer gern darauf, dass die „metaphysische, d. h. über dieses erscheinende Daseyn hinaus sich erstreckende, die Ewigkeit berührende ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns von allen Völkern, Zeiten und Glaubenslehren, auch von allen Philosophen (mit Ausnahme der eigentlichen Materialisten) anerkannt sei." (Grundl. der Mor. III 502 = 122 Fr.) „Von jeher haben alle Völker erkannt, dass die Welt, ausser ihrer physischen Bedeutung, auch noch eine moralische hat." Ein undeutliches Bewusstsein davon habe zunächst in den Religionen seinen Ausdruck gesucht. „Die Philosophen ihrerseits sind allezeit bemüht gewesen, ein klares Verständniss der Sache zu erlangen, und ihre sämmtlichen Systeme, mit Ausnahme der streng materialistischen, stimmen bei aller ihrer sonstigen Verschiedenheit darin ü ein, dass das Wichtigste, ja allein Wesentliche des ganzen Daseyns, das, worauf Alles ankommt, die eigentliche Bedeutung, der Wendepunkt, die Pointe (sit venia verbo) desselben, in der Moralität des menschlichen Handelns liege. Aber über den Sinn hiervon, über die Art und Weise, über die Möglichkeit der Sache, sind sie sämmtlich wieder höchst verschieden und haben einen Abgrund von Dunkelheit vor sich." (Wille in der Nat.: III. 336 = 128 Fr.; s. noch etwa Par. u. Paral. V. 205 § 109 = 168 Fr.; p. 274 § 133 = 226 Fr., bei Erörterung des Eides; Grundl. der Mor.: III. 642 261 Fr.). Zur Bestätigung des Satzes, in dem die philosophischen, wie die religiösen Systeme einig seien, dass ,,die letzte Spitze, in welche die Bedeutung des Daseyns überhaupt auslaufe, zuverlässig das Ethische sei" führt Schopenhauer an der zuletzt citierten Stelle zwei Beobachtungen an: 1.) die ,,unleugbare Thatsache, dass, bei Annäherung des Todes, der Gedankengang eines jeden Menschen, gleichviel ob dieser religiösen Dogmen angehangen hat oder nicht, eine moralische Richtung nimmt und er die Rechnung

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über seinen vollbrachten Lebenslauf durchaus in moralischer Beziehung abzuschliessen bemüht ist", und 2.) die bekannte Erfahrung, dass, während für intellektuelle Leistungen, und wären sie die ersten Meisterstücke der Welt, der Urheber sehr gern einen Lohn annimmt, wenn er ihn nur erhalten kann, fast Jeder, der etwas moralisch Ausgezeichnetes geleistet hat, allen Lohn dafür abweist. . . weil er fühlt, dass der metaphysische Werth seiner Handlung darunter leiden. würde." In letzter Instanz endlich ist für Schopenhauer die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns ,,durchs Gewissen festgestellt," (Wille in der Nat.: III. 336 = 128 Fr.) welches die „bloss gefühlte Erkenntniss jener" ist. (Welt als W. u. V.: I. p. 460 § 64 422 Fr.)

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Fassen wir den Sinn dieser Feststellung zusammen. Aus dem consensus omnium und aus psychologischen Vorgängen schliesst Schopenhauer, dass im menschlichen Handeln ein ,,Werth" liegen müsse, der aus dem natürlichen Dasein, nach den Gesetzen der Erscheinungswelt jedenfalls nicht erklärt werden könne. Wollte man daraus die Wirklichkeit dieses Werthes bezweifeln, also behaupten, dass die Welt bloss eine physische, keine moralische Bedeutung habe," so wäre dies „der grösste, der verderblichste, der fundamentale Irrthum, die eigentliche Perversität der Gesinnung" und wohl im Grunde auch das, was der Glaube als den Antichrist personificirt hat." (Par. u. Paral.: V. p. 205 § 109 168 Fr.; cf.: V. p. 114 86 Fr.) Diesem ,,moralischen Materialismus" gegenüber, der noch viel gefährlicher ist, als der chemische", (Vorrede. z. Willen in der Nat.: III. 183 V. Fr.) hat also Schopenhauer, von seinem Standpunkte aus, zunächst nöthig, nachzuweisen, dass überhaupt, und noch abgesehen von dem vorliegenden Probleme, die rein empiristische, am Leitfaden des „Satzes vom Grunde" verlaufende Erkenntnissweise als solche unzureichend und von nur relativem Werthe sei, wenn daraus der Begriff von

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,,Wirklichem überhaupt" bestimmt werden solle. Von der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Metaphysik, die den Anspruch der empiristischen Erkenntnissweise auf endgültige Erfassung des Wirklichen überhaupt einschränkt, hängt für Schopenhauer die Erklärbarkeit der ethischen Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns ab. Im Ziele, die Skepsis in Bezug auf die Wirklichkeit der letzteren lahm zu legen, trifft hier Schopenhauers Philosophie bewusst mit der Religion zusammen. Nur will jene den positiven Grund, der dies ermöglicht, in einer zusammenhängenden Theorie des Wirklichen rationell aus der Natur der Dinge und des Daseins überhaupt entwickeln, während diese ihn meist in göttlicher Offenbarung verbürgt und in allegorischer Form, in blossen Fabeln", vermittelt sein lässt. Schopenhauer ist desshalb fest überzeugt, dass man sich, bei dem wachsenden Rückgange des Glaubens an jene religiösen Lehren, zu seiner Philosophie werde wenden müssen. (s. z. B.: Par. u. Paral.: IV. 158 124 Fr.) Es ist durchweg für das System Schopenhauers charakteristisch, dass hier von Anfang an aller ethische Werth seinen Sinn und seine Verbürgung nur aus dem Zusammenhange einer metaphysischen Theorie des Seins erhält. Ist ein ethischer Werth für Schopenhauer aus der Erscheinungswelt als solcher, nach dem Satze vom Grunde, nicht zu erklären, so würde daraus für Schopenhauer nur dann seine Wirklichkeit bezweifelt werden dürfen, wenn jene Erscheinungswelt thatsächlich die einzige überhaupt gegebene wäre. Schopenhauer nimmt hierin etwa dieselbe Stellung ein, wie der kritische Theist in Bezug auf den Nachweis der Wirklichkeit Gottes: ist sie aus dem Objekt nicht nachweisbar, so ist sie damit noch nicht widerlegt, es müsste denn sein, dass sie aus der Thatsache des Subjekts, die doch gewiss auch „gegeben“ ist, auch nicht nachweisbar wäre. Wenn das als Erscheinung Gegebene, oder, wie Schopenhauer entschiedener sagt, die Welt als Vorstellung

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wirklich das einzig Gegebene wäre, so müsste freilich von seinem eigenen Standpunkt aus, mit den Mitteln, die ihn dieser gewährt, Schopenhauer die Unwiderlegbarkeit der Skepsis zugeben. Denn da die Vorstellung" als „,blosser Vorgang in uns" (Welt als W. u. V.: I. 557 = 516 Fr.) für Schopenhauer durch eine unüberbrückbare Kluft" von dem „Realen" getrennt ist (s. z. B.: Welt als W. u. V.: II. p. 222 = 214 Fr.; Par. u. Paral.: IV. p. 15, 21 u. 22 = 3, 8 Fr.), so wäre dies absolut unerreichbar, wenn wir einzig auf jene „Vorstellungen" angewiesen wären. Dadurch aber kommen wir über die „Kantische Verzweiflung" (Welt als W. u. V.: I 547 507 Fr.) dem absolut Wirklichen gegenüber hinweg, dass wir in uns, im „Selbstbewusstsein", als ein zweites, von der „Vorstellung" grundmässig verschiedenes Datum noch den Willen" finden, der trotz dieser radikalen Verschiedenheit doch mit ihr zur Einheit desselben, identischen „Ich zusammengeht. Weil diese Einheit unerklärbar aus dem Satze vom Grunde", ja, im Widerspruche mit ihm ist, insofern uns nach ihm nur Verhältnisse der Objekte begreiflich sind, unter diesen aber jene wirkliche Identität des Erkennenden mit dem als wollend Erkannten, also des Subjekts mit dem Objekte" nicht angetroffen wird, so wird sie, als unmittelbar gegeben, gleichwohl von der Skepsis nicht getroffen. (s. Vierf. Wurzel des S. v. zur. Grunde: III. p. 161 § 42 136 Fr.) Von hier aus muss nun, wie Schopenhauer glaubt, es auch möglich sein, zu begreifen, wie eine Welt als blosse Vorstellung in einem analogen Verhältniss stehen. kann zu einer von ihr radikal verschiedenen, so dass auch hier in der Einheit beider ihr Wirklichkeitsmoment vorläge.

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Indess, Schopenhauer hat diesem Gedanken sehr bald eine andere Wendung gegeben. Der Wille ist ihm das eigentliche,,,Realität" stiftende Moment: die Einheit des Selbstbewusstseins beruht sogar auf ihm. (s. Welt als W. u. V. II. 161. = 153 Fr.) Ist nun die Erscheinungswelt die

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