Fünftes Kapitel. Die rechtliche Bedeutung der die Aenderung der Staatsform beschränkenden Verfassungsbestimmungen. I. Der in den modernen Verfassungen zum Durchbruche gelangte Gedanke, dass die Verfassung ein Staatsgesetz, also eine Willensäusserung des Staates selbst ist, bedeutet die Ueberwindung der individualistischen Staatsauffassung der naturrechtlichen Staatslehre durch die kollektivistische, welcher der Staat als persönliche Verbandseinheit, als Rechtssubjekt erscheint. Jene Auffassung lag sowohl der älteren Lehre, welche die Staatsverfassung aus einem vorstaatlichen Vertrage zwischen dem künftigen Herrscher und der Volksmasse entstehen lässt, zu Grunde als auch der Lehre der französischen Revolution über das pouvoir constituant, welches der supponierten Nation als einer nicht organisierten Vielheit von Individuen die Befugnis, über die Verfassung in beliebiger Form zu entscheiden, zusprach. Beide Auffassungen sind, wenigstens vom Standpunkte des modernen Staatsbegriffes, gleich widerspruchsvoll, indem sie ein rechtlich relevantes Wollen, welches das Leben des Staates bestimmen soll, vor dem Staate, ausserhalb des Staates annehmen, während doch ein derartiger Wille das Vorhandensein einer, wenn auch noch so primitiven, staatlichen Organisation als letzter Garantin seiner Verwirklichung voraussetzt 1. Der Wille einer Vielheit von Individuen wird nur durch die Organisation zum einheitlichen Willen, nur durch Vermittelung eines Rechtssatzes, welcher normiert, dass die in einer bestimmten Weise zu stande gekommene Willenskundgebung der Vielheit zum einheitlichen Willen des Ganzen werden soll. Dieser Rechtssatz gehört aber bereits der Rechtsordnung an und setzt zu seiner Gültigkeit eine staatliche Verbandsorganisation voraus. Die Vereinigung von Individuen zu einer organischen Einheit und die Bildung von Rechtsnormen sind allerdings Vorgänge, die sich nicht streng von einander trennen lassen. Die Staats bildung ist stets von Rechtsbildung begleitet. Wenn es möglich wäre, die Geschichte der primär entstandenen Staaten bis zu ihren ersten Anfängen zu verfolgen, so würde sich auch hier überall jener rechtlich unerklärliche Vorgang nachweisen lassen, welcher die Entstehung eines neuen Willensträgers durch Vereinigung einer Vielheit von Einzelwillen begleitet und bei der Bildung jeder Korporation vorliegt. Jener Vorgang lässt sich bei den durch Trennung von bestehenden Staatswesen neu entstandenen Staaten am besten beobachten. Zunächst bildet die Lostrennung einer Volksmasse eine Reihe staatsrechtlich gar nicht definierbarer Vorgänge, welche aber diesen Charakter verlieren, sobald ein Willensträger die Anerkennung seines Willens als des Willens des neu entstandenen Verbandes durchzusetzen vermag. Bis zu diesem Augenblicke, welcher die Geburtsstunde des neuen Staates bedeutet, können allenfalls Abmachungen zwischen den einzelnen Volksgenossen als Individuen vorliegen, keineswegs aber des Volkes mit dem Herrscher, dessen Vorhandensein bereits das Vorhandensein des Staates bedeutet 1. 1 Vgl. über die Beziehungen zwischen Staat und Recht die interessanten Ausführungen bei JELLINEK, Staatslehre Kap. XI, S. 302 ff. 1 Dieser Uebergang der unorganisierten Masse in ein Staatswesen durch Ausscheidung eines Trägers des Gesamtwillens lässt sich z. B. anlässlich der Entstehung des belgischen Staates durch Loslösung der südlichen Provinzen des Königreiches der Niederlande beobachten. Zunächst erfolgt nach dem 25. August 1830 ein Aufstand der Massen in den südlichen Provinzen, durch welchen die Thätigkeit des bisherigen staatlichen Apparates unterbrochen wird. Am 24. September, noch während des Kampfes der Brüsseler gegen den Prinzen Friedrich von Oranien, tritt eine „Verwaltungskommission", bestehend aus drei Mitgliedern, an die Spitze der Bewegung, da, wie es in der Proklamation derselben heisst, Brüssel von jeder Art geordneter Obrigkeit entblösst ist und dieser Zustand geeignet ist, die gute Sache zu gefährden; die Kommission „übernimmt provisorisch eine Gewalt, die sie augenblicklich in würdigere Hände niederlegen wird, sobald eine neue gesetzliche Macht gebildet werden kann". Nach zwei Tagen kooptiert die Verwaltungskommission mehrere Mitglieder und erlässt am 26. September folgende Bekanntmachung: „In Berücksichtigung des Mangels aller obrigkeitlichen Gewalt und in Erwägung, dass bei den gegenwärtigen Verhältnissen ein allgemeiner Mittelpunkt aller Unternehmungen das einzige Mittel ist, unsere Feinde zu besiegen und der Sache des belgischen Volkes die Oberhand zu verschaffen, bleibt die provisorische Verwaltung in folgender Weise zusammengesetzt..." etc. Die neue Regierung beauftragt ein Zentralkomité von drei Männern mit der Exekutivgewalt und macht, nachdem die niederländischen Truppen die Stadt geräumt hatten, folgende Beschlüsse bekannt: 1. Die belgischen Provinzen, die sich von Holland losgerissen haben, werden einen unabhängigen Staat bilden; 2. Das Zentralkomité wird eine Constitution entwerfen; 3. Ein Nationalkongress wird den Entwurf prüfen, eventuell abändern und als definitive Verfassung geltend machen. Damit war der Weg zur Entwickelung des neuen Staatswesens geebnet, welche in der Konstitution vom 25. Februar 1831 und in der Berufung Leopolds von Koburg auf den belgischen Königsthron ihren Abschluss fand. Vgl. TH.JUSTE, Geschichte der Gründung der konstitutionellen Monarchie in Belgien, 1850, Bd. I. Unbekümmert um derartige vorübergehende Erscheinungen des beginnenden Staatslebens muss daran festgehalten werden, dass als die letzte, und nachdem die Absorbierung der Machtmittel sämtlicher Verbände innerhalb des Staates durch diesen selbst vollendet ist, heute auch als die einzige Quelle der Rechtsbildung im Staate, also auch des Verfassungsrechtes der Staat erscheint, und zwar der Staat als Verbandseinheit, als Persönlichkeit 1. Persönlichkeit ist aber durch die Rechtsordnung anerkannte Willensfähigkeit. Der Gedanke, dass in dieser Beziehung zwischen physischer und juristischer Persönlichkeit ein innerlicher Unterschied nicht besteht, dass es einen einheitlichen Begriff der Person gibt, ist in der heutigen Rechtswissenschaft fast allgemein anerkannt. Der Unterschied liegt nur in der verschiedenen Art des Zustandekommens des Willens und in der durch diese Verschiedenheit bedingten Beziehung zur Rechtsordnung, indem der Wille einer Mehrheit willensfähiger Wesen, im Gegensatze zum menschlichen Einzelwillen, als einheitlicher Wille erst mittelst eines Rechtssatzes erscheint, welcher die durch einen bestimmten Vorgang zu stande gekommene Willensäusserung einer solchen Mehrheit als einheitlichen Verbandswillen anerkennt. Dieser Rechtssatz, bezw. der Inbegriff dieser Rechtsnormen für die Willensbildung ist aber die Verfassung, welche jede Verbandsperson, von der geringsten Korporation angefangen bis hinauf zum Staate, in gleicher Weise, wenn auch in verschiedenster Form und Entwickelung besitzen muss. Erst durch seine Verfassung erscheint der Staat als Persönlichkeit und sind die ersten Rechtsnormen desselben stets Verfassungsnormen. Die Verfassung ist die Erscheinungsform der Staatspersönlichkeit. Daraus ergibt sich, dass die Verfassung keineswegs eine absolute, mit dem Staate selbst identische Ordnung bildet, wie die antike Staatslehre annahm; dieselbe entspricht lediglich einer bestimmten Entwicklungsphase im Leben des Staates. Daher bleibt der Staat das gleiche Subjekt, wenn auch seine Verfassung sich geändert hat. Die Verfassung muss vor allem diejenigen Träger des Verbandswillens bestimmen, deren unter den verfassungsmässigen Voraussetzungen geäusserter Wille als Verbandswille anerkannt wird. Diese Willensträger, durch welche allein der Staat wirksam werden kann, erscheinen als Organe der Verbandsperson 1. Die Stellung und Kompetenz der Organe bildet daher einen notwendigen Bestandteil jeder Verfassung. Der Staat ist aber auch ein Herrschaftsverband und zwar ist der souveräne Staat der höchste Herrschaftsverband; er übt rechtlichen Zwang aus, ohne selbst von anderen rechtlich gezwungen werden zu können. Diejenigen Organe, die die oberste Herrschergewalt des Staates auszuüben berufen sind, erscheinen daher als Organe κατ ̓ ἐξοχὴν. Die äussere Gestaltung, die das gesamte Staatswesen durch ihre Stellung erhält, wurde oben als Staatsform bezeichnet; diese bildet daher den vornehmsten Gegenstand jeder Staatsverfassung. Aus der obersten Herrschergewalt des Staates ergibt sich aber, dass der souveräne Staat als die einzige und von niemandem abhängige Quelle alles Rechtes, auch seines Verfassungsrechtes, seine Verfassung jederzeit beliebig ändern kann, dass er grundsätzlich in der Aenderung derselben durch nichts beschränkt ist, auch nicht durch die verfassungsmässige Staatsform, die ja selbst nur seine Schöpfung ist. 1 Allerdings tritt in den neueren Verfassungen noch vielfach der Vertragscharakter deutlich hervor, als Folge der dualistischen Auffassung des Staates in der ständischen Epoche; vgl. z. B. die württembergische Verfassung vom 25. September 1819, Einleitung: „So ist endlich durch höchste Entschliessung und allerunterthänigste Gegenerklärung (der Ständeversammlung) eine vollkommene beiderseitige Vereinigung über folgende Punkte zu Stande gekommen" etc. II. Hiemit ist die aufgeworfene Frage nach den Grenzen der Verfassungsänderung scheinbar beantwortet, und zwar in negativem Sinne. Es gibt keine Schranke für die Verfassungsänderung, weil es keine Schranke für die Rechtsbildung im Staate überhaupt gibt. Die Verfassungsänderung bildet bloss eine Verschiebung in der Ordnung der das Staatsleben treibenden Kräfte durch den Staat, für welche, wenigstens soweit der souveräne Staat in Betracht kommt, es keine Schranke geben kann. Somit wären alle jene Bestimmungen in den Verfassungsurkunden, welche die Verfassungsänderung beschränken, insbesondere auch die Aenderung der Staatsform ausschliessen, bedeutungslose Sätze. Doch diese rein rationalistische Lösung der Frage würde den Bedingungen des realen Entwickelungsganges des Staates nicht gerecht werden, auf dessen Gebiete denn auch die Bedeutung oder wenigstens die Erklärung jener Verfassungsbestimmungen, mögen dieselben auch theoretisch als nicht haltbar erkannt worden sein, zu suchen ist. 1 Nach BERNATZIK, Archiv für öffentl. Recht V, 2, S. 278, erscheint als Organ bloss jener Teil des Organismus, welcher den die Gesamtheit bindenden Willen erzeugt. Die Macht der thatsächlichen Verhältnisse bildet im Leben des Staates einen gar wichtigen Faktor, der sich der rechtlichen Gestaltung häufig entgegenstellt und die Rechtstheorie zum leeren Buchstaben herabdrücken kann. So ist der in der Entwickelung seiner Rechtsordnung theoretisch schrankenlose Staat durch gewisse jeweils allgemein anerkannte sittliche Schranken thatsächlich gebunden. Ferner legt die Unmöglichkeit eines Zwanges gegenüber den obersten Organen des Staates die letzte Garantie für die Verwirklichung der Verfassung in die thatsächliche Handhabung ihrer Bestimmungen, so dass der Staat die Verfassung straflos verletzen kann, wenn die obersten Organe desselben ihre verfassungsmässige Pflicht zu erfüllen unterlassen. Die Mehrheit gegenseitig verantwortlicher unmittelbarer Organe, dann die Trennung der Gewalten im Staate, mildern zwar diesen Zustand, können ihn jedoch nicht ganz beseitigen 1. Daher ist es auch zu erklären, dass gerade die entscheidenden Wendepunkte im Staatenleben durch ausserrechtliche Vorgänge gekennzeichnet sind; die radikalsten Verfassungsänderungen, namentlich auch die Aenderungen der verfassungsmässigen Staatsform, erfolgten zumeist ausserhalb der Rechtsordnung, durch gewaltsamen Umsturz. Doch dies sind nur thatsächliche, aus der Biologie des Staates erklärliche Vorgänge, welche die theoretische Richtigkeit des oben aufgestellten Satzes nicht zu erschüttern vermögen, dass es für die Verfassungsänderung keine rechtliche Schranke geben kann. Das Leben des Staates wird nämlich durch den steten Kampf zweier Richtungen gekennzeichnet; einerseits der konservativen, auf die Erhaltung der bestehenden, durch die Rechtsordnung anerkannten Machtverhältnisse abzielenden, andererseits der evolutionistischen, welche auf die Erweiterung des Einflusses neuer Machtfaktoren und endliche Anerkennung desselben durch die Rechtsordnung gerichtet ist2. Wenn es sich um politische Macht im Staate handelt, wird das Streben nach Erhaltung der Macht die im Besitze derselben stehenden Faktoren bis zum äussersten Widerstande gegen jede Aenderung der Machtverhältnisse treiben, namentlich wenn Tradition oder das Bewusstsein einer höheren Mission den Machthabern zur Seite steht. Wenn nun der Widerspruch zwischen 1 LOCKE, Two treatises II, ch. XIX, § 219: „Where the laws cannot be executed, it is all one, as if there were no laws." Vgl. JELLINEK, Rechtliche Natur der Staatsverträge S. 33 f.; Derselbe, Staatslehre S. 325 ff. 2 JELLINEK, Staatslehre S. 323. |