Page images
PDF
EPUB

in der aus dem Verhältnis zu Lili Schönemann erblühenden Liederreihe wieder stärker hervortritt, haben J. Minor und A. Sauer in den Studien zur Goethe-Philologie (Wien 1880) und durch zu minutiöse Nachspürungen die Abhängigkeit fast übertreibend A. Strack in seiner Monographie über Goethes Leipziger Liederbuch (Gießen 1893) nachgewiesen. Wie weit die Anakreontik auch auf den späteren Goethe eingewirkt hat, bedarf noch der Untersuchung, wozu vor allem die Aufstellung eines umfassenden anakreontischen Wörterbuches erforderlich ist. Doch würde jedenfalls diese mühsame Arbeit dafür den Erweis bringen, daß aus Goethes Liebeslyrik anakreontische Töne und Vorstellungen niemals ganz verschwunden sind.

Wie Goethe den Dichter Gleim und seine Stellung in der Bildungs- und Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts einschätzte, zeigen seine Äußerungen über ihn im 7. und 10. Buche von >>Wahrheit und Dichtung«. An diesen Bemerkungen, die in einer Zeit getan wurden, welche den Kulminationspunkt der klassischen Dichtung bereits hinter sich hatte und darum einen um so gewisseren Standpunkt zur Beurteilung der jene vorbereitenden Epoche ermöglichte, in der sich deutsche Poesie und Poeten unter Zuhilfenahme der oft kleinlich anmutenden Mittel » wechselseitigen Schönethuns, Geltenlassens, Hebens und Tragens<< erst Wert und Würde erkämpfen mußten, ändern nichts die gelegentlichen Spöttereien des jungen Goethe und seiner Genossen über die nichtigen Tändeleien Jacobischer und Gleimscher Brieflein und Verse. Und die beiden Xenien auf den >>alten Peleus<< spotten zwar über den Kalenderruhm seiner altersschwachen Dichtereien, aber man merkt die Absicht ihrer Verfasser, dem Sänger der einst vielgerühmten preußischen Kriegslieder von einem Grenadier Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; wogegen ihrerseits die vor anderen durch würdigen Ton sich auszeichnenden, sonst fast allzu zahmen Antixenien Gleims (»>Kraft und Schnelle des alten Peleus«) mit ihrem Blick auf den überschrittenen Helikon eines »Klopstock-Homer« und >>Uz-Anakreon« dartun, daß er der Goethe-Schillerschen Kunstrichtung und ihrer vom Mittelmäßigen und Schlechten befreienden Wirkung kein befriedigendes Verständnis entgegenzubringen vermochte. Dazu reichte weder sein Wille noch seine Kraft aus; seine Zeit war vorüber, aber er lebte noch in ihr als in einer gegenwärtigen. Daß er aber überhaupt sich gegen die Goethesche Dichtung ablehnend verhalten hätte, kann mit gutem Grund nicht behauptet werden. Es wäre unrecht, ihn mit den Gottschedianern und ihren letzten Nachzüglern oder mit Nicolai und seinen Gefolgsleuten ohne weiteres in eine Klasse zu stellen; davor schützte ihn sein allerdings oft kritikloses, aber fast immer herzliches Interesse an allen neuen Erscheinungen auf dem deutschen Parnaß. Er subskribierte 1786 auf ein Exemplar der

[ocr errors]

ersten Sammlung von Goethes Schriften, er las von den nachfolgenden Werken u. a. die von ihm nach ihrer Ankündigung in der Berliner Zeitung (1794) bereits mit Ungeduld erwarteten >> Wilhelm Meisters Lehrjahre«, und was er daran aussetzt, liegt in derselben Richtung wie die vom Standpunkt der »>moralischen Grazie<< gemachten Ausstellungen Herders und J. G. Schlossers, Goethes eigenen Schwagers; nur daß der Tadel nicht so prinzipiell motiviert klingt. Dabei muß man immer bedenken, daß das Chaos literarischer Ansichten und Richtungen in den neunziger Jahren nur wenigen selbständigen und ästhetisch wohlgeschulten Geistern möglich machte, das Kunstideal der großen Weimarer vorurteilslos zu verstehen oder sogar kritisch zu würdigen. Auch Gleims Unterscheidungsvermögen für den höheren oder geringeren Grad des dichterisch Wertvollen war fast immer dilettantisch, und wenn seine Freunde in literarische Vergleichung gelangten, war er oft zu ihren Gunsten mit einem vorschnellen Urteil fertig, bevor er noch wozu allerdings seine fluchtige Art des Lesens erheblich beitrug -gründlichen Einblick in alles genommen hatte. So konnte er sich nicht ausreden, daß >>Hermann und Dorothea« eine Satire gegen Vossens »Luise<< sei eine Einbildung, deren Gegenstandslosigkeit sich sofort würde gezeigt haben, wenn nicht Goethe die Elegie Hermann und Dorothea beim Erscheinen des Epos auf Schillers Rat unterdrückt und erst vier Jahre später veröffentlicht hätte. Dennoch war Gleim gegen Wert und Schönheit einzelner Goethescher Dichtungen nicht unempfänglich. Seine Antixenien rufen aus: »Ha, welch ein weiter Weg von Iphigenien Zu diesen Xenien!« und am Abend des Tages, an welchem er die Xenien empfing, las er noch, wie er an Herder schrieb, u. a. Alexis und Dora, »das herrliche Kind des Vaters vieler nicht so herrlicher Kinder.« Jedoch gerade letzteres ist bezeichnend zwar bewahrt uns das von Heinrich Pröhle veröffentlichte Bundesbuch des Halberstädter Dichterkreises >>Die Büchse (Archiv für Litteraturgeschichte, IV, S. 363) ein Gedicht »An Götz von Berlichingen« auf, das dem Eisenarmigen ein Zuchtigungsrecht für Fürsten und Weise als die Anhänger von Franzosen und Britten zuweist, aber im ganzen war dem Anakreontiker Gleim das Titanische und Autonome im Genie Goethes Idas in seiner zuversichtlichen Selbstherrlichkeit nicht der Stütze durch ruhmredige Freunde bedurfte — von Anfang an unheimlich, und diesen Eindruck behielt er, obwohl ihn die Urteile Wielands und Herders zeitweilig zugunsten der Person Goethes beeinflußten. Als vollends Herders Stellung zu diesem feindselig wurde, sah der alte Gleim alles, was von Goethe ausging, in dem Lichte des von ihm leidenschaftlich bewunderten und verehrten Weimarischen Generalsuperintendenten.

Goethe und Gleim haben sich mehrmals gesehen und gesprochen; doch auch die persönliche Bekanntschaft knüpfte kein engeres Band. »Er (Goethe) befindet sich in seiner Haut wohl; seine Brüder in Apollo gehen ihn nichts an<< — mit diesen Worten, mochten sie auch Stimmungen Herders widerspiegeln, gab Gleim in einem Briefe an diesen noch am 22. März 1800 einer Empfindung Ausdruck, die ihn auch schon zwei Dezennien früher Goethe gegenüber beherrscht hatte. Als er zum erstenmal dessen Gesellschaft genoß, glaubte er bald etwas Rätselhaftes in dem Wesen des großen Mannes wahrzunehmen, was ihn wohl an den Satyr erinnern mochte, vor dem er sich bereits nach den Angriffen des jungen Goethe auf Wieland und die Jacobis in den ersten siebziger Jahren gefürchtet hatte (vergl. Goethe-Jahrb. II, S. 394: Brief Gleims an Bertuch vom 17. April 1777). Die sieghafte Überlegenheit Goethes machte auf ihn den Eindruck des Stolzes; der Satyr, welchen er aus dessen Natur herausfühlte, flößte ihm geheime Besorgnis auch für sich ein, um so mehr, als sich keine Verbindung herstellen ließ durch jenen schwärmerischen, in Scherzen und Empfindsamkeiten aller Art sich erschöpfenden Kultus, der nun einmal dem Vater Gleim von dem Begriff der Freundschaft unzertrennlich erschien. Wohl zu verstehen aus der Denk- und Gemütsart Gleims und doch fast ergötzlich für uns zu lesen, berichtet uns ein ungedruckter Brief desselben an seinen Freund Fritz Jacobi (21. November 1781) von seinem ersten persönlichen Zusammentreffen mit Goethe: >>> Ich wünschte mein Theurer, Sie hätten mich nicht zum Vertrauten Ihres Vorfalls' mit Göthen gemacht. Sie wusten ohne Zweifel was ich halte von Göthen - Bruder Johann Georg flog hin nach Weimar Göthen kennen zu lernen, kam zurück, er hätte, sagt' er den Engel kennen gelernt, Heinse lernt ihn kennen, war entzükt von ihm und Lavater bis in den dritten Himmel Alle meine Freunde waren sterblich in den Engel Göthe verliebt. In s. Schriften aber fand ich keinen Engel Götter Helden und Wieland Göthens Werk, er sage was er wolle, wieß (?) ihn mir aus zweyen Köpfen, den einen eines Engels, denn fast alle Menschen sagten mit Lavater, Göthe sey ein wunderschöner Mann, den andern eines bösen Geistes. Ich kam nach Weimar [1777] - Seit dem mein lieber hör ich gern nicht reden von dem großen Göthen Eine halbe Stunde bey dem Prinz Con

---

Gemeint ist die von Goethe im August 1779 vor einer Weimarischen Hofgesellschaft veranstaltete mutwillige Verhöhnung des Jacobischen Woldemar, den er an eine Buche genagelt und sodann aus den Zweigen des Baumes abgekanzelt hatte. Dieser ruchbar gewordene Vorfall hatte Fritz Jacobi und seine Freunde überall tief verletzt.

GOETHE-JAHREUCH XXVIII.

16

[ocr errors]

stantin an der Tafel schien er mir ein guter Mann zu seyn, ich fing schon an zu wiederlegen mich selbst und andre die mir böses sagten von Göthen; der Engel aber verschwand nach dieser selben Stunde, stehend, an einem Zeltpfal sah ich bald darauf den zweyten Göthen mit dem zweyten Kopf, sein Auge wenn er mich an sahe war das Auge kan ich doch so gleich mich nicht besinnen auf den bösen Geist der Meßiade, der ein Auge hat, wie Göthe. Kurz, mein lieber! Danck sey meinem Gott! daß ich Göthen Freund nicht ward, ich wäre mit ihm verfallen, ärger als mit Spalding und Ramler -«. Von einem Besuche Goethes während seiner zweiten Harzreise bei Gleim in Halberstadt erzählt ein ebenfalls ungedruckter Brief an Fritz Jacobi vom 23. September 1783: >>Im kleinen Sans Soucis giebts auch der Gänge wo gegangen sind die Kleiste, die Sulzer, die Ramler, die Klopstokke, die Jacobi, die Leßinge, die Wielande, die Michaelis, die Herder zu letzt. Die Göthen nicht zwar ist er hier gewesen, zweymahl vier und zwanzig Stunden bey dem Herrn von Berg, ganze Tage bey der Frau von Brankoni zu Langenstein, nicht weit von hier, eine Stunde bey mir, im Closter hinter dem Dohm, aber nicht in jenen Lauben, in welchen bey meinem lieben Friz Jacobi, Leßing noch zu guter lezt geseßen hat; der arme Mann! Er ist geheimer Rath, und ist nicht mehr. was er gewesen ist, deswegen fragt er nicht nach diesen Lauben!<< Daß sich Goethe und Gleim später noch einmal gesehen haben, ist unwahrscheinlich. Jener kam nicht mehr nach Halberstadt und dieser nach Weimar erst wieder im Mai 1788, als Goethe noch in Italien weilte. In den neunziger Jahren besuchte Herder mit Familie mehrere Male den alten Halberstädter Patriarchen in seinem »Hüttchen«, und dabei mag wohl, ausführlicher, als er und Karoline es in ihren Briefen taten, von Goethe und Herders Verhältnis zu ihm oft die Rede gewesen sein. Gleim behielt Goethes Persönlichkeit und Dichtung gegenüber seine schwankende Stellung. Das kommt deutlich, zugleich aber in dem gemilderten Glanze der Versöhnlichkeit, noch einmal zum Ausdruck, als ihm Herders Gattin im Anfang des Jahres 1801 von der tödlichen Krankheit Goethes schrieb, welche Herders alte Liebe zu dem großen Freunde trotz des Grolles der letzten Jahre wieder in ganzer Stärke erweckte. Gleim antwortete unter dem 8. Februar 1801: »Daß Euer Goethe, der dann und wann nur meiner nicht auch gewesen, die fatale Krankheit überstanden hat, freut mich sehr. Gott erhalte den Bessern der besten Welt!<< FELIX VON KOZLOWSKI.

17. Zu Goethe und Müllner.

In dem Aufsatz »Müllner, Goethe und Weimar« (G.-J. 1905 S. 184 f.) zeigt Ludwig Geiger, wie sich Goethe bei aller Teilnahme für die Begabung Mullners durch die taktlose Überhebung des Verfassers der »Schuld« abgestoßen fühlte, ferner wie Müllner bei seiner boshaften Tadelsucht auch Goethe nicht verschont hat. Dabei wird freilich hervorgehoben, daß bei der Erklärung des bekannten Goethischen Gedichtes gegen Müllner >>Ein strenger Mann« u. s. w. von den Erklärern übersehen worden ist, daß er nicht etwa den ganzen Roman Wilhelm Meister verworfen hat, sondern die darin enthaltene Würdigung des Hamlet, dem genialen Spiel des von ihm gerühmten Schauspielers Wolff zu liebe, herabsetzt.

Daß sich Müllner im Beginne der zwanziger Jahre Ausfälle gegen Goethe erlaubt hat, berichtet Geiger S. 198. Für Müllners kleinliche Denkart zeugt aber auch, daß er einige lobende Gedanken über Goethes »>Wanderjahre« von dem jungen Schweizer Karl Ruckstuhl, dessen Fehde gegen die Puristen Goethes öffentlichen Beifall erhalten hatte sie erschienen im >>Morgenblatt« 1822 Nr. 93-96 — mit maliciösen Ausfällen gegen den treuen Verehrer Goethes belohnte. Ruckstuhl hatte unter anderem geäußert: »Die Welt ist in den Wanderjahren weit aufgethan; es erscheinen unendliche Felder des Menschenund Weltlebens«. Er beleuchtet den Ton der Darstellung und die Wirkung auf das Gefühl. Und in Nr. 94 behauptet er: >> Man gewahrt leicht den alle Einzelheiten durchziehenden und verknüpfenden Faden«<; es herrsche durchaus innerer Zusammenhang und Folge. Mit dem Titel »>Die Entsagenden«< (Nr. 95) sei eine dem Ganzen zugrunde liegende Hauptidee angedeutet. Müllner teilte 1823 in zwei Zeitschriften, worüber Ruckstuhls sorgsamer Biograph Ludwig Hirzel' berichtet, den Lesern mit, der Aufsatz über Goethes Werk sei »unabhängig von seiner Redaktion<< eingerückt worden: »der neue Kunstrichter, Herr Karl Ruckstuhl, ist mir so völlig unbekannt, daß ich noch bis diesen Augenblick in Zweifel bin, ob der Name nicht bloß eine litterarische Maske ist«. Dabei hatte Goethe bekanntlich Ruckstuhls Aufsatz »Von der Ausbildung der deutschen Sprache<< im 3. Heft des I. Bandes von »Kunst und Altertum«< 1818 gerühmt. Die Betrachtungen Ruckstuhls aber über seinen Roman nannte Goethe in einem Briefe an H. Meyer vom 14. Juni 1822 »rein, gut und sehr verständig«. (s. L. Geiger G.-J. V, 349.) DANIEL JACOBY.

1 Zeitschrift für deutsch. Altert, u. deutsche Lit. XXI, 464–466.

« PreviousContinue »