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Von Mailand aus schreibt Goethe am 23. Mai 17S8 an den Herzog: >>Wir waren am 22. abends hier und gedenken, wie ich schon aus Rom schrieb, über Chiavenna und Chur zu gehen, den Splügen zu versuchen, den Adula zu grüßen und dann ein wenig seitwärts nach Konstanz zu rücken. Dort wollen wir den 4. Juni eintreffen und im »Adler<< die Spur jener famosen Wanderung aufsuchen und die gute Schultheß von Zürich treffen, welche ich sprechen und begrüßen muß, ohne den Kreis des Propheten zu berühren<<.

Von Konstanz aus schrieb der Dichter einen der wenigen Briefe, die seine Rückreise begleiteten, nämlich jenen an Herder, den er irriger Weise bereits in Rom vermutete.

Wo wohnte Goethe in Konstanz? Die Frage hat er genügend deutlich selbst beantwortet: im »Adler«. Gemeint ist der ehemals bestberufene Gasthof »zum goldenen Adler<< an der breiten Marktstätte, die sich vom Hafen und Conclavehaus (»>Konziliumssaal«) zur Stadt herein wendet. Hier steht das Haus noch mit der Nummer acht, und noch prangt an der Fassade der verkürzte Name: »Zum Adler«. Freilich als Gasthaus besteht der Adler nicht mehr. Seit 1882 hat er eine andere Bestimmung, heute ist er Geschäftshaus.

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Als Goethe 1788 im »goldenen Adler« Einkehr hielt, hatte als damaliger Besitzer Herr Ferdinand Mayer die Ehre, den illustren Gast zu beherbergen. Die Familie Mayer bewirtschaftete den >> Adler<< schon seit 1740; sie blieb darauf bis zu Ende, bis 1882. Da die Fremdenbücher des ehemaligen Gasthofs nur noch seit 1815 erhalten sind, können wir daraus für die in Betracht kommenden Tage keine Aufschlüsse erhoffen. Aber noch heute wissen alte Konstanzer von dem Leben und Treiben zu erzählen, das ehedem hier ein- und ausging. Konstanz.

DR. GUSTAV ADOLF MÜLLER.

15. Goethes Leben aus seinen Gedichten.
Ein literarhistorischer Scherz.

Wer sich mit mittelalterlicher oder antiker Literaturgeschichte beschäftigt, weiß, wie nötig, aber auch wie gefährlich es ist, die Gedichte biographisch auszubeuten. Jede tatsächliche Angabe muß beachtet, ja unter die Lupe genommen, mit andern verglichen, interpretiert werden; denn meist ist dies der einzige Weg, auf dem wir überhaupt etwas über das Leben z. B. der Minnesinger erfahren können. Aber wir dürfen uns seine Unsicherheit nicht verbergen. Man ist denn auch von der früher herrschenden unbegrenzten Ausnützung solcher Andeutungen zurückgekommen, und geht manchmal jetzt sogar schon zu weit in der Scheu sie zu verwerten: das

Mißtrauen, das Anton E. Schönbach den autobiographischen Angaben Ulrichs v. Liechtenstein entgegenbringt, scheint mir bei einem so bekannten, so leicht zu kontrolierenden Mann übertrieben.

Für die Beurteilung des biographischen Werts zufälliger Angaben in Dichtungen müssen wir die »>Methode wechselseitiger Erhellung« anwenden. Wie weit wird durch neuere Fälle, in denen eine genaue Nachprüfung möglich ist, die Zulässigkeit und Zuverlässigkeit solcher Zufallsdaten bestätigt?

Diese Frage hat aber auch unmittelbar für die neuere Literaturgeschichte Bedeutung. Gerade in letzter Zeit ist ja durch Max Herrmanns Einspruch die »biographische Methode<< der Interpretation Goethischer Werke vielfach angefochten worden wiederum, wie ich glaube, in zu weit gehender Skepsis.

Diese Probleme bilden den ernsten Hintergrund für meinen literarhistorischen Scherz. Ich versuche zu zeigen, zu welchen Ergebnissen wir etwa für Goethes Lebengeschichte kommen würden, wenn nicht mehr erhalten wäre, als etwa für Reinmar den Älteren erhalten ist oder für eine so wichtige literarische Erscheinung wie Neidhart von Reuenthal: eigene Gedichte mit gelegentlichen Anspielungen, ein paar Erwähnungen bei andern Schriftstellern, ein paar Nachrichten literarhistorischer Art, die keineswegs immer gerade die wichtigsten Autoren in das hellste Licht stellen. - Natürlich könnte der Versuch viel weiter ausgesponnen werden; aber er sollte weder den Charakter des Scherzes verlieren noch den der Ausnützung zufälliger, dem Verfasser gerade zur Hand liegender Stellen. Die Thesen richten sich gegen ein paar beliebte Modekrankheiten, besonders in Dissertationen aus der Literaturgeschichte.

Des Minnesingers Wolf Goethe Leben und Werke aus den Quellen dargestellt.

Wolf Goethe, im 18. und 19. Jahrhundert ein nicht unbekannter Dichter, hieß (wie eine Stelle des »Westöstlichen Divans im Reim beweist) eigentlich »Hatem«. »Wolf ist wohl nom de guerre des hungrigen Spielmanns (vgl. »Spervogel«< u. a.). An der Deutung dieses Namens hat sich schon Herder versucht (»ob von Göttern du stammst, von Gothen oder vom Kothe«), was vielleicht Anlaß gegeben hat, den vornehmen Prälaten in unwahrscheinliche Beziehungen zu dem Vaganten (»ich bin nur durch die Welt gerannt«) zu bringen.

Goethe ist in Frankfurt am Main geboren, was freilich durch dialektische Reime nur selten zu erweisen ist (vgl. Edw. Schroeder de carminibus Sessenheimianis). Sein Vater war Pfarrer (»Um Mitternacht ging ich nicht eben gerne, klein,

kleiner Knabe jenen Kirchhof hin zu Vaters Haus, des Pfarrers«<); er scheint also als Kind von auffallend kleiner Statur gewesen zu sein, die er nach einem andern Gedicht von seinem Vater hatte. Später wird er oft als »großer Mann<< bezeichnet. Hierzu stimmt es nicht allzugut, daß er das Geburtshaus des aus den engsten Verhältnissen hervorgegangenen Klinger als das seine angiebt (»Eine Schwelle hieß ins Leben uns verschiedne Wege gehn«). Später lernte er bei einem Fischer (»Knabe saß ich, Fischerknabe, auf dem schwarzen Fels im Meer«); schon in dieser frühen Lehrlingszeit hat er gedichtet (»Auf Kieseln im Bache da lieg ich wie helle«). Ein Erlebnis aus dieser Periode erzählt die offenbar biographische Momente ausprägende Ballade »Der Fischer«.

Als Geburtsjahr könnten wir mit Bestimmtheit 1752 ermitteln. Er sagt von sich selbst »Wer mit XXII den Werther schrieb Nun ist dies Hauptwerk 1774 geschrieben; die Angaben, die auf das Geburtsjahr 1749 deuten, sind daher jedenfalls auf einen Parallelismus mit den Geburtsjahren Lessings und Schillers zurückzuführen: sogar für Heine wurde so noch 1799 (statt 1797) arrangiert.

Im Übrigen scheint er guten Grund gehabt zu haben, die Erlebnisse seiner Jugend geheim zu halten. Ein dunkles Impromptu (»Erst singen wir: der Hirsch so frei '«) deutet auf Beziehungen zu dem aus Voltaires Prozessen unvorteilhaft bekannten Juden Hirschel (»Das geht auf einen Hirsche LL hinaus Heil unsern alten Tagen !«) Er scheint auch wie Byron und wie nach Duhrings genialer Erkenntnis (in seiner Interpretation des Gedichtes »>Da waren wir unserer zwei«) Heine einen Mord begangen zu haben; nur gegen den Verdacht des Brudermordes verteidigt er sich in einer auffallenden Briefstelle (»und keinen Bruder hab' ich erschlagen «). Es wirft auf die Kulturverhältnisse seiner Zeit ein seltsames Licht, daß ein solcher Mensch mit einem Herzog in Verbindung gebracht werden konnte! (Doch ist neuerdings die geistreiche Vermutung geäußert worden, diese Legende beruhe nur auf dem Mißverständnis des Wortes »>Hof« in einem Spottvers des berühmten Dichters Gleim, der Goethes lärmende Art ähnlich abwehrt wie Walter von der Vogelweide die gewisser zudringlicher Hofdichter. Der inhaltlich und formell gleich ausgezeichnete Vers lautet: »Ward diesem, der mit seinem Knotenstock um sich schlägt, der Hof nicht lange schon verboten ?<< Man beachte den Inreim!)

Mit einem

Goethe legte wenig Wert auf Originalität. gewissen Cynismus verbittet er sich, daß man nach den Kapaunen und welschen Hahnen frage, mit denen er sich gemästet, was wohl auf die Kastratenlibretti Metastasios geht; und meint selbst, er sei ein Wicht, an dessen Komplex nichts

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original heißen dürfe. Dem entsprechen die Titel seiner (verschollenen) Hauptwerke: Der »Faust«< war Marlowe, die >>Iphigenie<< dem Euripides nachgedichtet; Stücke aus Beaumarchais' Mémoires soll er wörtlich in seinen »>Clavigo<< aufgenommen haben und ein Gedicht Shakespeares hat er in jenem »Faust<< plagiirt. Sein »Götz«< war wohl auch nur eine Dramatisierung von Gedichten des bekannten Lyrikers. Genannt wird noch ein Roman Wilhelm Meister<«<, dessen Zusatz >>Wanderjahre« auf einer Verwechselung mit dem Werk des berühmten Pustkuchen beruhen wird. Nach einer einleuchtenden Vermutung hieß der in eine Leonore verliebte Wilhelm nur so. (Wir besitzen noch ein von einem Bürger verfaßtes romanzenartiges Lied, das darauf anspielt: »Lenore fuhr ums Morgenroth empor aus wilden Träumen: bist, Wilhelm, untreu oder tot?<«< ein Beweis für die Popularität, deren sich das Buch in Bürgerkreisen trotz seinem vielfach abstrusen Inhalt erfreute.) »Meister« ist Übertragung vom Autor auf den Helden; der Dichter war nämlich selbst bürgerlich, wie die häufige Benennung »der Meister<<, »der Altmeister<< beweist. (»Herr von Goethe<< ward natürlich erst üblich, als die Lüge von seiner Hofstellung man denke an die Phantastereien über Walthers Hofmeisterstellung bei dem »selpwahsen kint!«<- sich durchgesetzt hatte.)

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so!

Von seinem weiteren Leben wissen wir wenig. Er hinterließ einen natürlichen Sohn und eine natürliche Tochter, die aber das Alter der Reife nicht erreichte. Als Greis unternahm er eine Pilgerfahrt in den Orient und hat hier in seiner gewohnten Art sich der poetischen Technik und Ausdrucksweise besonders des Hafis angepaßt, zu dem ihn (nach seinen Trinkliedern zu schließen) auch die Leidenschaft für alkoholhaltige Getränke zog. Die mancherlei Liebesverhältnisse in seinen Gedichten charakterisieren sich schon durch die Wiederkehr der gleichen Namen (»Charlotte«) und durch die Wahl von Verstecknamen (»Lili«, »Suleika«) als Fiktionen. Eine chronologische Ordnung seiner Lieder ergiebt die Absicht, eine regelrechte Liebesschule durchzumachen von der »niedern Minne« (Gretchen in Frankfurt) über das Bürgertum (Friederike) zu der höheren Bourgeoisie (Lili), dem Adel (Frau v. Stein) und wieder zurück (Minna ein symbolischer Name, den die Verdoppelung »>Minna Herzlieb«< fast zu aufdringlicher Deutlichkeit bringt).

Goethe ist bei Lebzeiten oft gelobt und getadelt worden; später scheint er so vollständig in Vergessenheit geraten zu sein, daß zur Aufdeckung seiner Poesie eine eigene >>Goethe-Philologie begründet werden mußte. Bei einiger Concentration, wie schon Gervinus bemerkte, hätte der zweifellos talentvolle Mann es wohl zu gleicher Bedeutung wie Gleim und Uz bringen können.

Thesen.

1. Die Ballade »Erlkönig« ist (wie das angelsächsische Gedicht »Seefahrer «) durchweg dialogisch:

A. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

B. Es ist der Vater mit seinem Kind.

A. Er hat den Knaben wohl in dem Arm?

B. Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.

2. Trotz der Überlieferung in der bekannten Erzählung von Madame Dutitre in Karlsbad ist »Das Lied von der Glocke<< Goethe abzusprechen.

3. Die angebliche Freundschaft zwischen Goethe und Schiller ist aus inneren Gründen abzuweisen.

4. Ein angeblicher »Reineke Fuchs« ward Goethe nur wegen seiner Beziehungen zu der Familie Vulpius zugeschrieben. R. M. MEYER.

16. Goethe und Gleim.'

Zu allen deutschen Klassikern seiner Zeit hat Gleim in persönlichen Beziehungen gestanden, in näheren zu Klopstock, Lessing, Wieland, Herder, in entfernteren zu Goethe und Schiller. Die literarischen Einflüsse Gleims auf die Klassiker sind im ganzen geringfügig, doch kommt er durch seine feste Stellung in der Anakreontik und der mit dieser aufs engste zusammenhängenden Schäferpoesie, sowie in den Anfängen der volkstümlichen Balladendichtung als nicht unwesentlicher Faktor für die Entwicklung der klassischen Lyrik und Idyllendichtung in Betracht. Daß der junge Goethe als Dichter des Buches »Annette<< ganz in den herkömmlichen Bahnen der Anakreontik wandelt

was sich bis auf den Wortschatz erstreckt, daß er in seinem entzückenden Schäferspiele »Die Laune des Verliebten<< in dem Rahmen der typischen Formen bleibt, wie sie bei derartigen Stücken eines Gellert, Gleim und Gärtner angewandt werden, ist gewiß. Daß der anakreontische Einfluß, allerdings stetig abgeklärter werdend, auch auf das sogenannte Leipziger Liederbuch und auf die Gedichte aus der Straßburger Zeit wesentlich ist, daß er selbst in der gegen früher gänzlich veränderten, Herderschen Anregungen folgenden Lyrik der Jahre 1772 und 1773 mit ihrer bewußten Opposition gegen die Anakreontik sich nicht hat verdrängen lassen können und endlich

Folgendes ist mit Genehmigung der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle a. S. einer Ostern 1906 in deren Verlage mit dem Titel: »Gleim und die Klassiker Goethe, Schiller, Herder. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts« erschienenen, ursprünglich zu den Festschriften zum 25jährigen Direktorenjubiläum des Herrn Geheimen Regierungsrates Prof. D. Dr. Fries, Direktors der Franckeschen Stiftungen, gehörenden Abhandlung entnommen. Der Verfasser.

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