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Kostbarkeit, den hohlen Wortklang zu rügen, sowie die Einseitigkeit, mit der beim Rückblick auf das Jahrhundert lediglich über physische Leiden gejammert wird. Von den Gedichten finden weder die »>Sehnsucht nach Rom«< noch »der Genfer See« Gnade. Überladene Eleganz und leere Gedrängtheit des Ausdrucks wirft er dem ersten Gedichte vor; es sei ein bloßer Cento von Erinnerungen, wo man gar nicht sieht, wie eine die andere anregt, und die sich ebenso ganz anders hätten stellen lassen: »der Genfer See<< konnte nur in einer Epoche des korrekt sentimentalen Geschmacks ebenso berühmt werden wie Grays Elegie auf einem Kirchhofe; das Gedicht sei kein Ganzes, es habe nur einzelne gelungene Stellen und schöne Zeilen. Auch in den kleinsten Kompositionen wisse Matthisson_nicht Ton und Kolorit zu halten, wie Schlegel an mehreren Gedichten darzutun sich müht. Offenbar wollte er den großen Ruf Matthissons wie seine Einwirkung auf viele Dichter der Zeit vernichten, und nach einer Charakteristik Vossens und des schon früher von Goethe verspotteten August Schmidt erlaubte er sich gegen Ende die Fiktion eines Wettgesanges zwischen den drei Dichtern. Daß diese parodistische Verspottung Goethe Vergnügen gemacht hat, daß er sie sich von Friedrich »dreimal de suite vorlesen ließ«, werden wir Dorothea Schlegel gern glauben, wenn auch ihr Bericht gewiß übertrieben ist: >>Papa Goethe hat sich ganz wie rasend damit gefreut«. — Ein Jahr nach Schillers Tode leuchtet Goethe denen, die Schiller und ihn nicht zu kennen schienen, auch öffentlich mit ironischen Worten heim. In der Rezension eines Romanes heißt es von der darin vorkommenden Fürstin, die von der alten Schule ist: »>Uz, Hagedorn, Kleist, Matthisson und Hölty werden ausschließlich mit Enthusiasmus genannt, wohl gar gesungen, wobei denn freilich scheint, daß die gute Fürstin in einer gewissen Epoche aufgehört hat, ihre Handbibliothek zu completiren und ihre Musikalien aufzufrischen.« Und

Auch in den Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst hrsg. von J. Minor II. Teil 1802-1803 wirft Schlegel ihm pretiöse geistlose Künstelei vor (S. 93) und sagt von seinen »landschaftlichen<< Gedichten, er habe seine Meinung über die mühsam gepinselten kalten Miniaturbilderchen im Athenäum genugsam geäußert. (S. 315).

2 Besonders auf Seume und Friederike Brun. S. Sauer a. a. O. CXXVI und 216, vgl. 588.

3 Athen. a. a. O. S. 161–164; auch in W. Schlegels sämtl. Werken hrsg. von Ed. Böcking 1846. II, 194–199 mit vier unbedeutenden Anderungen.

4 Biedermann, Goethes Gespräche VIII, 269.

5 Aufsatz aus dem J. 1806, zuerst in der Jenaer Allg. Litz. Vgl. Goethes Werke Hempel 29, 379.

zwei Jahre später äußert sich Goethe in einem Briefe über Matthissons Poesie sehr bezeichnend. In seinem Hause hörte er die Woche einmal Gesang: er hatte eine kleine Singschule eingerichtet, wie er Zelter schreibt, darauf beziehen sich die folgenden Zeilen': »Meine kleine Anstalt geht recht gut; nur schreiten die jungen Leute, wie Sie wohl wissen, gar gern aus dem Wege und jeder dünkt sich behaglicher, wenn er Solo irgend ein lamentables Grablied oder ein jammervolles Bedauern verlorener Liebe singt. Ich lasse ihnen dergleichen wohl zu, gegen das Ende jeder Session, und verwünsche dabei die Matthissons, Salis, Tiedgen und die sämmtliche Clerisei, die uns schwerfällige Deutsche sogar in Liedern über die Welt hinaus weist, aus der wir ohnehin geschwind hinauskommen<«<. Dann erzählt er, daß gestern Zelters Komposition zu Schillers >>Dithyrambe« und zum Gedicht »an die Freunde«< gesungen worden seien, »da war es gleich als ob jedermann den Staub und die Asche des Jahrhunderts vom Haupte schüttelte«. Kein Wunder, daß Goethe, dem sich die wahre Poesie dadurch ankündet, daß sie als ein weltliches Evangelium durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, gegen die schwächlich hypochondrische Art der meisten Dichter seiner Zeit mit kräftigen Worten auftrat. In Gesprächen hat der greise Dichter noch einige Male Matthissons Erwähnung getan. Am 6. Juni 1824 sprach er, wie uns der Kanzler Müller erzählt, vom Humor und unterschied ihn von der humoristischen Stimmung; als Müller aber die Äußerung eines Schriftstellers anführte, der Humor sei nichts anderes als der Witz des Herzens, ergrimmte Goethe heftig: »Nichts anderes! lauter Negation, lauter Herabsetzung! Ich werde gleich wütend, wenn ich dergleichen höre«. Und da war es nur augenblicklicher Ärger, wenn er zusetzt: »Nie konnte ich vor Matthisson Achtung haben, wegen des absurden Liedes: Namen, ich nenne dich nicht«. Dabei tut er auch Matthisson Unrecht, denn das Gedicht:

Namen nennen dich nicht,

Dich bilden Griffel und Pinsel

Sterblicher Künstler nicht nach u. s. w.

ist nicht von ihm, sondern von W. Ueltzen. Die von Berger herrührende Melódie zu dem ihm widerwärtigen Gedichte

An Zelter 22. Januar 1808, s. W. A. IV, 20, 9 vgl. S. 375.. Unterhaltungen mit Kanzler Fried. Müller hrsg. von Burkhardt 1870 S. 78 und II. Ausgabe 1898 S. 151.

mit seinen ewigen Negationen hatte Goethe im Jahre 1812 zu seinem Gedichte »Gegenwart<< begeistert: '

Alles kündet dich an!

Erscheinet die herrliche Sonne,

Folgst du, so hoff' ich es, bald u. s. w.

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Die Redensart aber »Nichts anderes als«, die den gemeinen Menschensinn einschläfert, damit er das Absurdeste ertragen möge, macht Goethe auch sonst in einem kleinen Aufsatz lächerlich. Im Jahre 1827, da er von der Lektüre eines chinesischen Romanes berichtet, sagte er am 31. Januar zu Eckermann: »Ich sehe immer mehr, daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu allen Zeiten in hunderten und aber hunderten von Menschen hervortritt. Einer macht es ein wenig besser als der andere und schwimmt ein wenig länger oben als der andere, das ist alles. Der Herr von Matthisson muß daher nicht denken, er wäre es, und ich muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit der poetischen Gabe keine so seltene Sache sei, und daß niemand eben besondere Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht.« Die Deutschen sollten daher, um nicht in diesen pedantischen Dünkel zu kommen, aus dem engen Kreise ihrer Umgebung hinausblicken: »die Epoche der Weltlitteratur ist an der Zeit. Denselben, schon von Hamann und Herder gehegten, Gedanken von der Poesie als Gemeingut der Menschheit deutet Goethe auch in einem der »Sprüche in Prosa« an3: »Das poetische Talent ist dem Bauer so gut gegeben wie dem Ritter; es kommt nur darauf an, daß jeder seinen Zustand ergreife und ihn nach Würden behandle.<<

Goethes sowohl wie Schillers Äußerungen über den ihnen befreundeten Dichter sind nicht Ausfluß einer zufälligen Stimmung oder augenblicklichen Laune, die leicht zu haltlosen Urteilen verleiten, sie spiegeln vielmehr treu den Charakter der rastlosen Meister wieder und ihre festgegründeten Überzeugungen von dem Wesen und der Aufgabe der Dichtung: Goethe und Schiller haben Matthisson. nicht an den Schöpfungen der Zeitgenossen, sondern an den Forderungen, die sie in heiligem Ernst an sich selber stellten, gemessen.

I So dichtete Goethe auch eine Parodie auf das »elendeste aller jammervollen deutschen Lieder« von Solbrig: »Ich habe geliebet, nun lieb' ich nicht mehr« mit dem Anfang: »Ich habe geliebt, nun lieb' ich erst recht.« (Gewohnt, getan) S. Briefe an Christiane 21. April 1813 und an Zelter 3. Mai 1813. W. Á. IV, 23, 322 und 335. Vertont von Zelter. 2 Werke Hempel 29,254-255

3 Nr. 488. Werke (Hempel) 19, 106.

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m Oktober des besuchsreichen Jahres 1782 schreibt Goethe an Frau von Stein: »Wenn die regierende Herzogin Oberried gern sehen will so ist kein schicklicherer Weg als ich bringe ihn zu dir und da kann sie von ohngefähr dazu kommen«. Am Weihnachtstag 1794 meldet er Schiller: »Der alte Obereit scheint in Nöten zu sein. Ich habe 20 Thaler für ihn; geben Sie ihm das Geld nach und nach<«<.

Wer war der Mann, der unter so veränderten Verhältnissen in den Lichtkreis Weimars trat? War er eines der Kraftgenies, die in Goethes ersten Jahren Weimar überschwemmten? oder einer der Genieapostel, die ihnen folgten? Als Apostel kam er allerdings das erste mal hin, aber nicht als einer von denen, in welchen für einen Apostel und für einen Schurken Stoff lag, sondern er besaß einen von keiner Wandlung der Dinge berührten rechtschaffenen Sinn und ein kindliches Gemüt, daß die Großen im Reiche der Geister freundschaftlich ihm zugetan blieben, auch als er im abgetragenen Rock das Brot an fremden Tischen aẞ. Und da die Nachwelt eine Undankbarkeit gegen ihn zu sühnen hat, indem ein Verdienst, das er um die deutsche Literatur durch die Entdeckung der ersten NibelungenHandschrift sich erwarb, fast 100 Jahre nach seinem Tode erst ans Licht kam, so möge der Schilderung seines wechselvollen Lebens hier ein Raum vergönnt sein.

Die Geschichte seines Lebens wurde zu der Zeit, als er eine Modeberühmtheit war, auf gar sonderbare Weise der weiteren Welt bekannt: in dem vielbewunderten und vielgelesenen Werk des berühmten Arztes J. G. Zimmermann in Hannover »Ueber die Einsamkeit« ist das ganze VIII. Kapitel einer Biographie Obereits gewidmet. Aber welcher Biographie! Der ausgesprochene Zweck derselben ist, Rache zu nehmen für eine Kritik, die Obereit an einem früheren Werk Zimmermanns geübt, und wir können uns denken, wie sie ausfiel in des verbitterten, sarkastischen und ungerechten Mannes Hand! Aber selbst in dieser Karikatur lernen wir unseren gutmütigen Philosophen eigentlich mehr lieben, als daß wir über ihn lachten: durch alle Bosheiten Zimmermanns scheint seine ehrliche Gutmütigkeit und sein rührender Glaube an das, was er verteidigte, so überzeugend durch, daß wir wohl manchmal lächeln, wenn ein Hieb der stumpfen Klinge gar zu gut sitzt, aber im Grund des Herzens doch lieber der Angegriffene sein möchten als der Gegner, den wir um seine Rolle nicht beneiden.

In Lindau wird die Familie Oberreit so schrieben sich alle Glieder derselben außer Jakob Hermann - schon im 17. Jahrhundert als »alte« Wundarztfamilie bezeichnet. Ihr entstammt Obereits Vater, der lange in Lyon und Arbon als Buchhalter war, bis er Rentamtsbuchhalter in Lindau wurde; auch die Mutter war eine Lindauerin. In Arbon wurde ihnen am 2. Dezember 1725 ihr ältester Sohn Jakob Hermann geboren. Der Vater war ein eifriger Anhänger der Mystik und mit manchem ihrer Häupter, z. B. Marsay, persönlich befreundet. Er hatte, wie der Sohn berichtet, einen stillen, freien Forschergeist, und da er nur kaufmännisch ausgebildet war, richtete er sein theologisches Studium für sich buchhalterisch ein und setzte in Auszügen aus all den Theologen, die er las, Gründe und Gegengründe auf zwei Folioseiten sich gegenüber. Nicht zu seinem Glück wurde der Sohn früh in diese Geistesrichtung eingeweiht. Schon im 9. Jahre, erzählt er selbst, setzte er das Lernen und Excerpieren aus historischen, theologischen und allen anderen Büchern, deren er nur habhaft werden konnte, bis zur Mitternacht fort, um früh um 3 oder 4 Uhr wieder zu beginnen. Der Vater hatte über die Wiederbringung aller Dinge in einem Sinn geschrieben, der der Lindauer Geistlichkeit haeretisch erschien, und war von ihr auf ein Jahr excommuniziert worden. Die Eltern widersetzten sich deshalb des Sohnes Wunsch Theologe zu werden und er kam, der Tradition der Familie folgend, 1740 zu einem Wundarzt in Arbon in die Lehre. Bald durfte er Kranke selbständig behandeln; daneben erlernte er in einem Monat GOETHE-JAHRBUCH XXVIII.

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