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buch finden wir verzeichnet, daß Goethe sich mehrere Tage mit der Lektüre von Lienhard und Gertrud beschäftigte1 33 Jahre nach dem Erscheinen des Buches. Aber Delaspée brachte noch mehr fertig. Er lud Goethe ein, der Jahresprüfung in den einzelnen Klassen seiner Schule beizuwohnen, und dieser nahm die Einladung auch an. Nach der Erzählung des Oberbergrats Cramer, der damals ständiger Begleiter Goethes auf seinen Ausflügen war, hat dieser in jenen Tagen mit vielem Interesse »von dem Pestalozzischen Wesen« gesprochen.

In Goethes Bibliothek ist noch die »Einladungsschrift zu der auf den 25. und 26. August festgesetzten dritten öffentlichen Prüfung der Elementarschule nach Pestalozzis Methode vorhanden, die ihm Delaspée überreicht hat. Das Prüfungsprogramm gewährt einen interessanten Einblick in die Lehrweise. Man erkennt aber auch sofort, daß Goethe durch sie nichts weniger als befriedigt werden konnte: kaum etwas anderes, als rein formale Anschauungsund Denkübungen mit fast vollständiger Ausschließung alles auf Sachen begründeten Unterrichts.

Wie freundlich sich Goethe bei seinen wiederholten Besuchen der Schule auch den Kindern gegenüber verhielt

er sandte nach dem ersten Examentage eine Anzahl Exemplare von Hermann und Dorothea zur Verteilung unter sie, und ein andermal fertigte er ihnen ein Gedicht zum Geburtstag ihres Lehrers das Gesehene und Gehörte konnte keinesfalls seinen Beifall finden. Und bald brach denn auch, wie Boisserée erzählte, der Unmut gleichsam in hellen Flammen aus.

Der Oberbergrat Cramer ließ seine Töchter in Delaspées Schule unterrichten. Die älteste hatte einst in Goethes Gegenwart eine verwickelte mathematische Gleichung gelöst. >>Die Bestimmtheit, die Förmlichkeit, womit das Kind die trocknen Dinge aussprach, die man sonst nur in den mathematischen Hörsälen zu hören kriegt, und wie sich dies arme Köpfchen was darauf zu gut tat, mit den hohlen Zahlen und Verhältnissen herum zu wirtschaften; wie es gar selbst mit über diese Kunst sprach und vernünftelte, warum es Elementarunterricht genannt werde, da es doch, wie Goethe bemerkte, ganz darüber hinausginge, weil Jeder alles selbst finde und erfinde; endlich über BuchstabenRechnungen, Gleichungen u. s. w. Das Alles mit der festen, schulmeisterlichen Haltung, setzte mich wahrhaft in Schrecken.

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>>Als wir im Dunkel gegen zehn Uhr nach Hause kamen«<, berichtet Boisserée weiter, »klagte Goethe seinen Jammer über dies Pestalozzische Wesen. Wie das ganz vortrefflich nach seinem ersten Zweck und Bestimmung gewesen, wo Pestalozzi nur die geringe Volksklasse im Sinne gehabt, die armen Menschen, die in einzelnen Hütten in der Schweiz wohnen, und die Kinder nicht in die Schule schicken können. Aber wie es das Verderblichste von der Welt werde, so bald es aus den ersten Elementen hinausgehe, auf Sprache, Kunst und alles Wissen und Können. angewandt werde, welches notwendig ein Überliefertes voraussetze, und wo man nicht mit unbekannten Größen, leeren Zahlen und Formen zu Werk gehen könne. Und nun gar dazu der Dünkel, den dieses verfluchte Erziehungswesen errege; da sollte ich nur einmal die Dreistigkeit der kleinen Buben hier in der Schule sehen, die vor keinem Fremden erschrecken, sondern ihn in Schrecken setzen! Da falle aller Respekt, Alles weg, was die Menschen unter einander zu Menschen macht. Was wäre denn aus mir geworden, sagte er, wenn ich nicht immer genötigt gewesen wäre, Respekt vor andern zu haben. Und diese Menschen mit ihrer Verrücktheit und Wut, alles auf das einzelne Individuum zu reduzieren, und lauter Götter der Selbständigkeit zu sein; diese wollen ein Volk bilden und den wilden Scharen widerstehen, wenn diese einmal sich der elementarischen Handhaben des Verstandes bemächtigt haben, welches nun gerade durch Pestalozzi unendlich erleichtert ist. Wo sind da religiöse, wo moralische und philosophische Maximen, die allein schützen könnten? Er fühlte recht eigentlich einen Drang, mir über alles dieses sein Herz auszuschütten.<<'

Kein Wunder, daß Goethe später, als er bei fröhlichem Mittagsmahl in Willemers Hause weilte und Mieg in die Gesellschaft kam, »eine Apprehension hatte, schon als der Mann hereintrat«, und daß ihn die Begegnung mit dem von Iferten zurückkehrenden Herrn von Türk wiederum veranlaßte, »Klagelieder über das heutige Erziehungswesen<«< anzustimmen. »Versuche, Tasten und Wenden nach der neuen Erziehungsart«< 2.

Weder die Lektüre von Pestalozzis Lienhard und Gertrud noch der wiederholte Schulbesuch bei Delaspée haben in Goethes Geistesleben merkbare Spuren hinterlassen. Zwei Jahre darauf bekennt er in einem Briefe an Emanuel von Fellenberg: »Dem Gange Pestalozzis hatte nicht folgen

• Boisserée, I, 259 ft.

2 Boisserée, I, 281, 291.

können; wie der Ihrige sich davon herleitete, übereinstimmend oder abweichend, ward mir noch weniger deutlich«'.

Wenige Wochen, nachdem Goethe diese Worte geschrieben, traf der folgende Brief Pestalozzis bei ihm ein, der in der Dringlichkeit seiner Bitte geradezu erschütternd wirkt: Excellenz!

Ein Greis, der am Ende seiner Laufbahn noch wünscht, die Bestrebungen seines Lebens zur Erheiterung der Fundamente und Mittel der Volkserziehung, so viel ihm möglich, zu mehrerer Reifung zu bringen und sich bey aller seiner Altersschwäche noch fähig fühlt, für die Menschheit auf diesem Weg noch etwas Wesentliches leisten zu können, sucht mit der neuen Herausgabe seiner Schriften die Mittel der Ruhe und häuslichen Selbständigkeit, die er für seine Zwecke dringend notwendig hat.

Edler Herr! Ich habe mich in meinem ganzen Leben durch vast unübersteigliche Hemmungen hindurh gedrängt. Alles Thun meines Lebens trägt das Gepräge dieser Hemmungen. Ich darf sagen, ihre Folgen haben alles das, was ich in der Welt gewollt und unter bessern Umständen gekonnt, so weit reduzirt, daß ich wehmüthig dastehe vor meinem Geschlecht und mich vor mir selber schäme. Aber noch heute kann ich mehr leisten, als ich je geleistet habe, wenn der Subscriptionsplan für meine Schriften einen für die Bedürfnisse meiner Zwecke und meiner Lage genugthuenden Erfolg hat. Edler Herr! Ihr Herz ist offen für meine Wehmuth und Sie wünschen gewiß, daß ich das Gute, das ich zu thun mich noch fähig glaube, in meinen letzten Tagen ruhig, ungekränkt und ungehemmt versuchen und betreiben könne. Sie nehmen also die Freyheit nicht ungnädig, mit der ich Sie hochachtungsvoll bitte, meinen Subscriptionsplan in Ihren so tief in die wirkliche Welt eingreifenden Verhältnissen hie und da durch ein Wort der Empfehlung zu begünstigen.

Genehmigen Ew. Excellenz die Äußerung der Ehrfurcht und Bewunderung, mit der ich die Ehre habe mich zu nennen [Euer Excellenz gehorsamster Diener

Yverdun d. 20ten Mai 1817.

' Briefe XXVIII, 79.

Pestalozz]❜

⚫ Die eingeklammerten Worte von Pest. eigener Hand, der Brief selbst von fremder. 2 Blatt groß 4°, 11⁄2 S. beschrieben, blaues Briefpapier. Adresse:

An S. Excellenz

den Herrn Geheim-Rath von Göthe
in Gotha (!)

(Die Post mit undeutlichem Rotstift darunter: Weimar.)

Der herzbewegende Ton vermochte aber nicht das Eis zu schmelzen. Humboldt sandte Pestalozzi auf sein an ihn gerichtetes ähnliches Gesuch ein eigenhändiges verbindliches Schreiben mit der Nachricht, daß er auf ein Exemplar subskribiere, Nicolovius antwortete warm und stellte die Unterstützung der preußischen Regiernng in Aussicht'; Goethe dagegen blieb stumm und teilnahmlos. So wich er auch dem Gegenstand des Gesprächs aus, als ihm der Kanzler von Müller an einem Sommersonntag des Jahres 1826 von Pestalozzis Selbstgeständnissen (gemeint sind wohl die Schriften: »Meine Lebensschicksale« und der >>Schwanengesang«, erschienen 1825 u. 1826) erzählen wollte und kam auf die Mathematik zu sprechen, »die ganz falsch in dem Rufe stehe, untrügliche Schlüsse zu liefern'«. Und als in seinen letzten Lebenstagen Varnhagen von Ense ihm schrieb, daß er viel in den Wanderjahren lese und daß >>bei diesem Thema auch Pestalozzi in Betracht komme«<, antwortete er (am 5. Januar 1832) zwar ausführlich und teilnehmend, aber auf die von Varnhagen angedeutete Parallele ging er nicht ein.3

So ist es Pestalozzi nicht gelungen, die Teilnahme seines größten Zeitgenossen zu gewinnen. Daß Goethe die didaktischen Spitzfindigkeiten der Pestalozzischen Schule geradezu abstießen, ist leicht erklärlich. Daß er sich aber auch gegen die sozialpädagogischen Ansichten und Grundsätze des warmherzigen und edeln Schweizers so ganz verschloß, daß er dem selbstlosen Wirken des von Liebe zu dem armen Volk erfüllten Erziehungsreformators jede menschliche Teilnahme versagte, ist beinah ein psychologisches Rätsel.

In Pestalozzis letzte Tage warf trotzdem Goethes Geist einen erquickenden Schein. Im letzten Sommer seines Lebens (1827) besuchte er, wie uns sein Biograph_erzählt,* das Erziehungshaus armer verlassener Waisen in Beuggen. Die Kinder reichten ihm einen Eichenkranz dar und sangen ihm ein Lied. Es war das Lied, das er in dem Buche, welches seinen Ruhm begründet hatte, in Lienhard und Gertrud, die Mutter mit ihren Kindern in stiller Abendstunde hatte singen lassen: »Der du von dem Himmel bist.«<>>Da erstickten Tränen die Stimme des Greises.<«<

S. 141.

Israel, a. a. O. I, 497.

Burkhardt, Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler von Müller,

3 G.-J. XIV, 95, Berliner Sammlung III, 1597 ff.
• Blochmann, a. a. O. S. 132.

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riedrich Matthisson hat Goethes wie Schillers dichterische Bedeutung einsichtiger, neidloser und

freudiger als die meisten Zeitgenossen anerkannt. In welchem Verhältnis er zu beiden Dichtern gestanden hat und wie diese über seine Dichtungen geurteilt haben, soll im folgenden gezeigt werden.

Im Jahre 1793 hatte Matthisson in Ludwigsburg Schiller besucht, dann sah er ihn in Jena wieder. Schiller, der gerade mit einer Beurteilung der Gedichte Matthissons für die Allgemeine Literaturzeitung beschäftigt war, trat ihm mit den Worten entgegen': »Eben komme ich von Ihnen her und freue mich, Sie schon wieder zu finden«<. Vierzehn Wochen früher, so erzählt Matthisson, hatte ich ihn zu Ludwigsburg totenblaß und abgezehrt verlassen, jetzt stand er neukräftig und blühend vor mir da, gleich einem Heros, der sich zum olympischen Wettkampf anschickt. Er versicherte, nie mit frischerem Mut und froherer Tätigkeit gearbeitet zu haben. . . ; »viel Großes und Herrliches bewegt er nun in der Seele«. Auf seinen Plan zu einem Trauer

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Schriften von Friedrich von Matthisson, Zürich 1835 III, 298–300 (geschrieben 1794).

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