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Zwei Quellenfunde zu Schillers philosophischer

Entwickelung.

Von H. Vaihinger.

I.

Eine Disputation in der Karlsschule
im November 1776.

Vorbemerkungen.

Vor einigen Jahren fiel mir hier zufällig ein dicker Sammeland von alten Dissertationen in die Hände; die meisten waren anz wertlos, aber eine derselben erregte meine Aufmerksamkeit, hr Titel lautet:

DISSERTATIO
DE

ORIGINE CHARACTERIS ANIMI

QUAM

ACADEMIAE MILITARIS

STATORE ET PROTECTORE SUMMO
SERENISSIMO ATQUE POTENTISSIMO
DUCE AC DOMINO
DOMINO
CAROLO

DUCE WURTEMBERGIAE & TECC.
REGNANTE &C. &C.

PRAESIDE

IACOBO FRIDERICO ABEL
PROFESSORE PHILOSOPHIAE

IN ACADEMIA MILITARI P. O.

STUTTGARDIAE D. XXVII NOVEMBRIS MDCCLXXVI

PUBLICE DEFENDENT

RESPONDENTES

J. F. de Schönfeld, A. E. de Haerthenstein, C. J. T. de Landsee, E. H. de Romann, J. L. de Breitschwerdt, J. L. Parrot,

J. E. A. M. Kapf, F. G. A. Miller, F. F. Pfeiffer, J. W. PeterseL C. F. Duttenhoffer, W. F. de Hoven, Th. Plieninger, F. L. Liesching, J. F. Schiller, F. C. Kaussler, F. P. de Steinheil, J. G. Elvert.

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Die Dissertation stammt also von Jac. Friedr. Abel, den bekannten Lehrer Schillers an der Hohen Karlsschule" oder wi sie damals offiziell hiess Militär-Akademie" (Academia militaris sie stammt aus dem Jahre 1776 (27. Nov.) und was nun das grösste Interesse erregt: unter den Respondenten ist Friedrich Schiller genannt. Schiller war also damals eben 17 Jahre alt geworden. Besonderes Hochgefühl schwellte in diesen Tagen seine Brust: einige Wochen vorher hatte mein Ururgrossvater, der Stiftsprediger und Professor am Gymnasium, sowie an der Karisschule, seit 1769 „Kaiserlicher Hof- und Pfalzgraf", M. Balthasar Haug, im „Schwäbischen Magazin" Schillers Ode: „Der Abend“ veröffentlicht das Erste, was von Schiller gedruckt worden ist, jedoch nicht mit seinem vollen Namen gezeichnet, sondern nur mit den Anfangsbuchstaben Sch. Diesem Gedicht gab mein Ururgrossvater jenes später so berühmt gewordene prophetische Geleitwort mit: „es dünkt mich, der Jüngling habe schon gute Autores ge lesen und bekomme mit der Zeit os magna sonaturum.“ Dieser Jüngling war nun also unter den Respondentes jener Abel'schen Dissertation, und hier ist der volle Name Schillers überhaupt zum ersten Male gedruckt worden.

Ein grosser Teil der übrigen Respondentes ist aus Schillers Leben mehr oder weniger bekannt: am bekanntesten sind F. v. Hoven und W. Petersen als intime Freunde des jugendlichen Dichters. Schon 1774 hat der Erstere über den 15jährigen Freund das Urteil abgegeben: „Seine Hauptneigung geht auf die Poesie, und nichts ist im Stande, ihn davon abzubringen. Zur Tragödie zeigt er den grössten Geschmack." F. v. Hoven war auch gleichzeitig mit Schiller 1775 in die medizinische Abteilung eingetreten, zur Zeit der Übersiedelung der Karlsschule von der Solitüde nach Stuttgart, welche damals im Ganzen ca. 300 „Eleven“ zählte. Jener medizinischen Abteilung gehörten unter den Respon dentes auch noch Folgende an: Plieninger, Liesching, Elwert: von den anderen Respondentes spielen in Schillers Jugend noch Folgende eine Rolle: Miller, Pfeiffer und besonders Kapf, mit welchem zusammen Schiller später als Regimentsmedicus bei der Witwe Vischer (der „Laura“ der Jugendgedichte) wohnte. Fast

alle Respondentes waren gleichaltrig mit Schiller: Diese „Siebzenjährigen waren eine brausende, gährende, leidenschaftliche Generation. (Vgl. Julius Hartmann, Schillers Jugendfreunde. Mit zahlreichen Abbildungen. Stuttgart 1904.)

Die Karlsschule pflegte nach der Sitte der damaligen Zeit und auf Befehl des Herzogs mit besonderer Vorliebe die öffentlichen Disputationen. Die Professoren liessen irgend cine kleine Abhandlung aus ihrem Fach drucken und veranstalteten darüber mit den Schülern der betr. Klasse oder den Zuhörern der betr. Vorlesung eine Disputation, zu welcher sich dieselben natürlich gründlich vorbereiteten; die Disputationen waren öffentlich, meistens in Gegenwart, vielfach auch unter direkter aktiver Teilnahme des Herzogs, und dienten zugleich als Prüfungen nach Abschluss eines Kursus.

In dem Spezialwerk von H. Wagner, Geschichte der Hohen Karlsschule (Würzburg 1856) Bd. I, S. 630 ff., in dem Verzeichnis der Schriften der Stuttgarter Akademie, findet sich auch unsere Dissertation erwähnt; auch befindet sich, wie mir Herr Oberbibliothekar Dr. Steiff aus Stuttgart mitteilt, ein Exemplar derselben auf der Bibliothek daselbst, ebenso eins in Tübingen. (Das von mir aufgefundene Exemplar habe ich dem Marbacher SchillerMuseum geschenkt.) Aber die Dissertation ist bis jetzt, soweit ich sehe, von den Schillerforschern nicht berücksichtigt worden, insbesondere nicht von denjenigen, welche Schillers Jugend- und Bildungsjahre am gründlichsten dargestellt haben, von R. Weltrich (Friedrich Schiller. Erster Band, 1899) und von J. Minor (Schiller. Sein Leben und seine Werke. I und II, 1890); ja Minor sagt sogar (I, 197) ausdrücklich: „über den Fortgang der philosophischen Studien in den folgenden Jahren [nach 1775] sind wir leider wenig genau unterrichtet, weil für die Jahre 1776 und 1777 die Lehrpläne fehlen." So füllt unsere Dissertation von 1776 eine schmerzlich empfundene Lücke aus.

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Die Philosophie spielte in dem Lehrplan der Karlsschule eine sehr grosse Rolle, entsprechend der Sitte der damaligen Zeit: des philosophischen Jahrhunderts". Näheres findet sich bei Minor I, 192, sowie bei Weltrich I, 115 ff. Der Herzog selbst legte, in Nachahmung Friedrich des Grossen, auf die Philosophie ganz besonderen Wert. Schon 1773 trieb die Schillersche Abalso durchschnittlich aus 14jährigen Jungen zusammen

teilung

gesetzt

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wöchentlich 6 Stunden Metaphysik, Logik und Ge

schichte der Philosophie! Im Jahre 1775 wurden nicht weniger als 15 Stunden wöchentlich für Philosophie und Redekunst zu-! sammen angesetzt!

Den Unterricht in Philosophie erteilte in der Schillerschen Abteilung zuerst ein alter Schulmann, Namens Jahn, in unzuläng licher Weise. An seine Stelle trat im Jahre 1775 der ausserordentliche Professor Böck aus Tübingen, ein sehr kenntnisreicher Mann, ein guter Redner und ein selbstdenkender Philosoph, aber ohne Schwung und daher ohne tiefere Einwirkung auf Schiller.

Nach Böcks Abgang kam Schiller in die Hand von Abel. „Magister" Abel wirkte seit 1772 an der Akademie. Als er eintrat, war er erst 22 Jahre alt, aber sein Unterricht war äusserst anregend: die Schüler hörten ihn mit Begeisterung, seine Richtung war eklektisch dem Zug der Zeit entsprechend. Die strenge Wolfsche Methode wurde gemildert durch Einflüsse der Engländer (Locke, Ferguson, Shaftesbury) und der Franzosen (Robinet und Bonnet). Noch nicht 23jährig, entwarf Abel 1773 einen neuen Lehrplan für Philosophie, über welchen Minor aus den Akten Folgendes berichtet:

„Die Philosophie ist ihm nicht bloss eine Sache für den Kopf, sondern auch für das Herz der Schüler; und von den auswendig gelernten Distinktionen und Definitionen will er sich weder einen Gewinn für den einen noch für das andere versprechen. Nach seiner Methode sollten die übrigen Fächer des Unterrichtes, besonders die realen, den Stoff liefern, aus welchem vermittelst der sokratischen Methode eine Philosophie der Natur und des Menschen zu abstrahieren sei. Auf diese Weise sollte das Denken der Schüler geschärft und eine „natürliche Logik" in ihnen eingepflanzt werden. Um aber der jungen Pflanze Raum zum Wachstum zu geben, sollten unmittelbar auf die philosophischen Lehrstunden ein paar Stunden der Selbstbeschäftigung folgen, in welchen die Zöglinge angehalten werden sollten, das Gelernte selbstthätig zu verarbeiten."

Nach dieser trefflichen Methode unterrichtete Abel seit 1776 nun auch den Eleven Schiller und eben aus dieser Zeit stammt auch unsere Dissertation. Wie schon bemerkt, fehlen aus dem Jahre 1776 die Lehrpläne. Unsere Dissertation füllt diese Lücke

Und dies ist um so wertvoller, als die Lehrweise von Abel bald nachher eine bemerkenswerte Störung und Änderung erlebte. Im Dezember 1777 kam der Professor Ploucquet aus Tübingen,

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Original im Besitz der Kgl. Landesbibliothek in Stuttgart.

Aus dem Marbacher Schillerbuch", Verlag von J. G. Cotta Nachfolger, Stuttgart u. Berlin.

Kantstudien X.

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