Page images
PDF
EPUB

Als ich vor vielen Jahren diese Worte schrieb, konnte ich nicht wissen, wie genau sie mit einer eigenen Äusserung Kants in einem Briefe an Garve (vom 7. August 1783) übereinstimmen. Dieser Brief ist erst später bekannt geworden. Nachdem Kant auseinandergesetzt hatte, dass es nicht Metaphysik sei, was er in der Kritik bearbeite, sondern eine ganz neue und bisher unversuchte Wissenschaft, fährt er fort: „die Logik, die jener Wissenschaft noch am ähnlichsten sein würde, ist doch in einem Punkte unendlich weit unter ihr, denn sie kann nicht angeben, auf welche Objekte und wie weit die Verstandeserkenntnis geht". Der logischen Gliederung des Systems der Kritik geht eine sachliche parallel und dieser dienen die rationalen oder metaphysischen Wissenschaften als Einteilungsgrund. In der transscendentalen Dialektik werden nacheinander die rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie geprüft; an die Stelle der Ontologie aber tritt die Analytik des reinen Verstandes oder die Grundlegung der Erfahrung. In der Art, wie diese zweifache Gliederung innerlich verbunden und die sachliche der logisch-formalen untergeordnet ist, offenbart sich eine seltene Kunst wissenschaftlicher Systematik.

[ocr errors]

Man kennt die rückwirkende Kraft des Wortes auf den Begriff, den mitbestimmenden Einfluss einer fest ausgeprägten Schulsprache auf die Gedanken, und schon Locke machte auf die Gefahr aufmerksam, die in der Verwechslung der Ausdrücke einer gelehrten Sprache mit wirklichen Begriffen liege, und empfahl zur Probe auf ihren reellen Gehalt ihre Übersetzung in Worte der Umgangssprache. Den Tadel in dieser Bemerkung Lockes haben Hamann und Herder gegen Kant gerichtet; Herder hielt überdies das Locke'sche Prüfungsmittel Kant gegenüber für angezeigt. Was jedoch zu Gunsten einer schulgemässen Terminologie zu sagen ist, hat bereits Kant selbst gesagt. In dem Aufsatz von einem vornehmen Ton in der Philosophie" rechtfertigt er den formalen Charakter der reinen Philosophie als den einzig für sie sachgemässen mit Berufung auf den scholastischen Satz, dass in der Form das Wesen der Sache bestehe. Und in der Vorrede zur Rechtsphilosophie verteidigt er das Erfordernis einer „scholastischen Pünktlichkeit, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten würde, weil dadurch allein die voreilige Vernunft dahin gebracht werden kann, vor ihren dogmatischen Behauptungen (ehe sie sich auf solche einlässt) sich erst selbst zu verstehen." Kants Terminologie mit

[ocr errors]

ihren sorgfältigen Distinktionen ist auch in der That der Genauigkeit und Strenge der Gedanken in hohem Grade förderlich und bildet dadurch ein vorzügliches Mittel der philosophischen Schulung. Auch ist sie, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, in ihrer Anwendung von exemplarischer Consequenz und unterscheidet sich hierin sehr zu ihrem Vorteile von der späteren philosophischen Sprachverwirrung.

Schopenhauer, ein wirklicher Schriftsteller unter den deutschen Philosophen, fand den Stil Kants als glänzende Trockenheit zu charakterisieren. Es bleibe dahingestellt, ob Fülle und Anmut des Ausdrucks der Exaktheit einer wissenschaftlichen Darlegung überall günstig sind; Kant aber wählte mit Absicht den trockenen Ton. In der Metaphysik, meinte er, müsse man subtil sein. Und hätte er auch wie Hume alle Verschönerung in seiner Gewalt gehabt, er würde doch Bedenken getragen haben, sich ihrer zu bedienen, um keinen Verdacht übrig zu lassen, als wolle er den Leser einnehmen und überreden. Dass ihm die Fähigkeit einnehmender und anschaulicher Rede keineswegs versagt war, hat er nicht blos durch die Schriften aus seiner früheren Zeit bewiesen, darunter ,,die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen", die ihm den Namen des deutschen La Bruyère eintrugen. Auch in der Kritik der reinen Vernunft finden sich Stellen (jeder Leser kennt sie) von schriftstellerischem Reize, an denen die glücklichsten Gleichnisse den Gedanken beleben. Sie muten uns aus ihrer Umgebung heraus an wie die melodischen Sätze, die die unendliche Melodielosigkeit eines modernen Musikwerkes unterbrechen. Kant besass die auszeichnende Gabe des überlegenen Geistes, durch den Wechsel des Ausdruckes einen Gedanken von mehreren Seiten zu erleuchten und gerade die von Schopenhauer gerügten mehrfachen Definitionen des ,,Verstandes" geben dafür ein Beispiel. Und wenn Schopenhauer mit seltsamen Missgriff den Ausdruck: ,,transscendentale synthetische Einheit der Apperception" als Beleg für eine willkürliche Wortzusammensetzung wählte und meinte: es könnte dafür ebensogut,,Vereinigung" gesagt werden, so übersah er nur, dass es auch eine analytische Einheit des Bewusstseins giebt und dass jedes Wort in jenem Ausdrucke seinen bestimmten Sinn besitzt.

Es soll übrigens nicht geleugnet werden, dass Kants Terminologie in ihrer allzu üppigen Ausspinnung eine zu weit getriebene Vorliebe für Symmetrie und das Äusserliche der Systematik verrät.

Der Gedanke wird dadurch öfters von der geraden Bahn abgelenkt. Das System wird zur Fessel, seine Rubriken stehen bereit und auf die gelungene Einordnung eines Gegenstandes in das gegebene Schema fällt gelegentlich ein zu grosses Gewicht. Es kann vorkommen, dass ein und dasselbe Problem sich zu verdoppeln scheint, nur weil es an zwei verschiedenen Stellen behandelt werden kann. Man weiss auch, wie gewaltsam Kant überall die Topik seiner Kategorien durchsetzte, und dass er es wirklich fertig brachte, das ästhetische Urteil und den Begriff der Materie unter einen und denselben, viereinigen Gesichtspunkt zu rücken. Jede philosophische Disziplin ferner, die Ästhetik (in unserem heutigen Sinne) und die Teleologie so gut wie die Ethik wird nach dem Muster eines logischen Lehrbuches abgehandelt; jede erhält daher eine Elementar- und eine Methodenlehre, eine Analytik und eine Dialektik und es versteht sich, dass überall auch eine „Antinomie" obligat ist und müsste eine solche, wie es am augenscheinlichsten von der Antinomie der teleologischen Urteilskraft der Fall ist, erst eigens erfunden werden.

Noch aus einem anderen Grunde, als des Einflusses wegen, den die Systematik Kants auf Gang und Inhalt seiner Gedanken genommen hat, wird die sorgfältige Beachtung seines Sprachgebrauches zu einem Mittel des Verständnisses seiner Lehre. Kants Sprache in ihrer feineren Bedeutung ist nämlich nicht mehr ohne weiteres verständlich und erfordert wirklich ein wenig philologische Behandlung. Sind auch viele von ihren Kunstausdrücken im philosophischen Sprachverkehre geblieben, so haben sie doch inzwischen eine mehr oder minder eingreifende Bedeutungsverschiebung erfahren, namentlich in Folge des Wandels der philosophischen Anschauungen, und es erscheint daher geboten, ihren ursprünglichen Sinn auf historischem Wege erst wieder herzustellen. Dass eine solche Bemühung nicht ganz nebensächlich sei, zeigt sich besonders bei dem wichtigen Ausdruck: Möglichkeit der Erfahrung. Die einseitig idealistische Auffassung und Fortbildung der Kantischen Philosophie hat es bewirkt, dass dieser Ausdruck ganz allgemein in subjektivem Sinne genommen wurde. Man verstand und versteht darunter in der Regel selbst heute noch das Vermögen des Subjektes zur Erfahrung, die Thätigkeiten der Sinne und Handlungen des Verstandes also, durch welche Erfahrung zu Stande gebracht wird. Folglich hält man auch,,die Bedingungen zur Möglichkeit der Erfahrung" für gleichbedeutend mit jenen, auf Hervorbringung von Erfahrung zielenden

Erkenntnisvermögen oder glaubt gar im Sinne Kants von vor aller Erfahrung gegebenen reinen Anschauungen und Grundsätzen reden zu dürfen. Kant aber gebrauchte jenen Ausdruck durchweg in objektivem Sinne. Dies wird schon durch die parallelen Bezeichnungen:,,mögliche Erfahrung", oder gar: „eine mögliche Erfahrung überhaupt" hinlänglich angedeutet, durch den feststehenden Gebrauch aber des Wortes Möglichkeit für in der Wolff'schen Schule Begriff ausser Zweifel gesetzt. Möglichkeit der Erfahrung bedeutet demnach bei Kant das Wesen oder den Begriff der Erfahrung und die Bedingungen einer möglichen Erfahrung sind den subjektiven Erkenntnisquellen, aus denen Erfahrung entspringt, nicht einfach gleich zu setzen.

So kann schon die unscheinbare Berichtigung des Sinnes eines Ausdruckes für unsere Gesamtauffassung der Philosophie Kants von entscheidenden Folgen sein. Man war gewohnt, die Kritik der reinen Vernunft um des Namens Vernunft willen und mit Verkennung der ihr eigentümlichen Methode für die Kritik eines Erkenntnisvermögens des Menschen zu betrachten, sie also psychologisch oder anthropologisch zu deuten; in Wahrheit ist sie eine objektive Wissenschaft gleich ihrem Muster der Logik, ihr Gegenstand ist die reine Vernunft im Sinne der Erkenntnis aus reiner Vernunft und zum Massstab der Prüfung dieser Erkenntuis nimmt sie den Begriff der Erfahrung.

Reden

zur Feier der Wiederkehr von Kants 100. Todestage.1) Von Hugo Renner-Berlin.

Kants Todestag wurde auf fast sämtlichen deutschen Universitäten, es sei offiziell oder inoffiziell gefeiert; und darüber hinaus zog der Tag seine Kreise. Er war ein Erinnerungstag der deutschen Nation. Er wird ein Merktag in der Geschichte der Philosophie bleiben. Er hat gezeigt, dass in weit ausgedehnterem Mass, als man bislang annahm, auch solche Gelehrte von Kant befruchtet sind, die man abseits der von Kant herlaufenden Richtung zu stellen gewohnt war. Vom metaphysischen Idealisten bis zum psychologistischen Positivisten war eine Stimme der Bewunderung und des Dankes; nicht für das eine oder das andere seiner Philosophie, sondern für den ganzen Philosophen, für das Wesen seiner Philosophie.

Der Aspekt ist ein verschiedener, damit auch das Wesen des Mannes und seiner Philosophie und es mag auf seiner Darstellung beruhen, oder auf der Mannigfaltigkeit der Denkantriebe, die er verarbeitete, dass soviele verschiedene Denksysteme sich auf ihn berufen. Vielleicht beruht es auch darauf, dass der einzelne von seinem eigenen Standpunkt aus Kant sich deutet und zurechtlegt. Der Gedankenreichtum des Philosophen scheint es zu ermöglichen. Und doch ist es nicht die Mannigfaltigkeit, sondern die einheitliche Verarbeitung, die ihre mächtige Wirkung bis auf die Gegenwart erstreckt. Und wie die Philosophie, so der Mann, innerlich reich, aber ausgeglichen reich, also einfach und schlicht.

So denken denn alle mit warmer Zuneigung und Verehrung des Mannes, der uns ein Führer und Berater als Denker, ein Vorbild fürs Leben war. Wenn ich im folgenden den Versuch mache, die Reden zur Feier der hundertjährigen Wiederkehr von I. Kants Tode zu skizzieren, so wird es mir nicht möglich sein, auch den Gefühlston wiederzugeben, der beredter ist als die Worte. Ich werde mich auf die Worte beschränken müssen, auch wird es nicht meine Aufgabe sein zu kritisieren, ich habe nur Bericht zu erstatten.

1) Anm. der Redaktion: Ein vollständiges Verzeichnis der zum 100. Todestage Kants gehaltenen Reden und erschienenen Publikationen verschieben wir wegen Raummangels bis zum Erscheinen des nächsten Heftes.

« PreviousContinue »