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Die Neue Kant-Ausgabe und ihr erster Band.

Von Dr. Ernst v. Aster in Berlin.

Nachdem ein von Nicolovius, dem Verleger Kants in seinen letzten Lebensjahren, geplantes Unternehmen nicht zur Ausführung gekommen war, erschien die erste Ausgabe der gesammelten Werke Kants, die erste Hartensteinsche Ausgabe, im Jahre 1838; ihr folgte fast unmittelbar die zweite Gesamtausgabe, in Königsberg von Rosenkranz und Schubert veranstaltet, die noch in demselben Jahr 1838 begonnen, 4 Jahre später zum Abschluss gelangte. Beide Ausgaben beschränken sich im Wesentlichen auf die gedruckten Schriften. Von einer Verwertung des handschriftlichen Nachlasses kann, von dem Wenigen abgesehen, das Schubert dem Druck zugänglich machte, noch keine Rede sein; von den mit abgedruckten Briefen war der Briefwechsel mit Lambert schon früher herausgegeben worden, während die Veröffentlichung der Briefe an Marcus Herz ein Verdienst der Königsberger Ausgabe ist, im Übrigen ist auch hier die Ausbeute gering. Aber auch die Wiedergabe der gedruckten Schriften ist keine absolut vollständige. Auf die Herstellung des Textes ist zweifellos sehr viel mehr Mühe verwendet, als in den oft mit geringer Gründlichkeit hergestellten Ausgaben der kleineren Schriften Kants, deren in den voraufgehenden Jahren eine ganze Reihe erschienen war, aber das Resultat ist keineswegs einwandfrei. Endlich fehlt bei beiden die historische Anordnung der Schriften wohl ein Zeichen dafür, dass es nicht in erster Linie das historische Interesse, das Interesse an der Entwicklungsgeschichte der kritischen Philosophie selbst war, das die Herausgeber mit Kant verknüpfte.

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Ein wesentlich andres Bild zeigt dann die schon aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, aus den Jahren 1867/68, stammende zweite Hartensteinsche Ausgabe. Inhaltlich ist die Ausgabe zwar nur in Bezug auf die Sammlung der Schriften selbst bereichert worden ich erinnere an die erste Abhandlung über das Erdbeben von Lissabon während weder die Mitteilungen aus dem Nachlass, noch die Briefe von Hartenstein vermehrt worden sind. Aber vor allen Dingen ist der Text der einzelnen Schriften sorgfältiger behandelt und zunächst mit Rücksicht auf die Originaldrucke festgestellt. Dazu ist zum ersten Mal eine streng chronologische Ordnung aller Schriften durchgeführt.

Kantstudien IX.

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Nach dem Abschluss der Hartensteinschen Gesamtausgabe, die als solche zweifellos vorderhand den ersten Platz behauptete, hat dann mit dem Wachsen des historischen Interesses an der Kantischen Philosophie und ihrer Entwicklung die Hinterlassenschaft Kants immer lebhafter die Philosophie der Gegenwart beschäftigt. Abgesehen von den verschiedentlichen Sondereditionen einzelner Schriften und der durch sie bedingten erneuten Textrevisionen wurde namentlich der ungedruckte Nachlass in Angriff genommen. Um nur die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit zu nennen, erinnere ich an die Herausgabe der Reflexionen" durch B. Erdmann 1882, der „losen Blätter" durch Reicke 1889 und 95, des Briefwechsels mit Beck durch Reicke (85) und Dilthey (89); an die Bearbeitung der Vorlesungen durch Heinze und an die teilweise Veröffentlichung des bekannten Manuskripts, das die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft bis zum Anschluss an die empirische Physik vervollständigen sollte.

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So hat sich die Arbeit an der Sichtung und Sammlung, an der exakten Herstellung des Kantischen Lebenswerks schliesslich über ein volles Jahrhundert erstreckt. Und je tiefer die einzelnen Arbeiten drangen, je mehr sie vor allen Dingen über das Material der gedruckten Schriften hinausgingen, desto mehr musste sich die Notwendigkeit einer einheitlichen endgiltigen Überarbeitung, einer Zusammenfassung des bisher Erarbeiteten in quantitativer und qualitativer Beziehung, kurz die Notwendigkeit einer Gesamtausgabe im umfassenden und abschliessenden Sinn des Wortes geltend machen. Dass die bisherigen Gesamtausgaben sich von diesem Ideal sehr weit entfernten, ist ohne Weiteres klar ebenso aber auch, dass ein solches die Arbeit eines Jahrhunderts umfassendes und zum Abschluss bringendes Werk überhaupt nicht die Aufgabe eines Einzelnen sein konnte. Um so erfreulicher ist es, dass der Plan dieser Gesamtausgabe in dem Kopfe eines Mannes entstand, der zugleich imstande war, seine Ausführung in dem notwendigen Massstabe zu sichern. Durch seinen Namen und sein persönliches Eintreten hat W. Dilthey die wissenschaftliche, dadurch dass er es verstand, die Berliner Akademie der Wissenschaften für den Plan zu interessieren, die materielle Durchführung des Unternehmens ermöglicht.

So stehen wir denn heute, 100 Jahre nach dem Tode Kants, mitten in den Arbeiten an der neuen Ausgabe der „gesammelten Schriften Kants", von der wir angesichts des Stils, in dem sie betrieben wird und der Mittel, die ihr zu Gebote stehen, in der That erwarten dürfen, dass sie die kantphilologische Arbeit im engern Sinn zum Abschluss bringt. Denn der Zweck der Ausgabe ist die „chronologisch geordnete und vollständige Darbietung des ganzen Materials kantischer Gedankenarbeit — die Verwandlung seines Lebenswerks in ein unzerstörbares geistiges Kapital.

Dass eine solche Aufgabe in unsrer Zeit mit Aussicht auf Erfolg gestellt und in diesem Massstabe in Angriff genommen werden konnte, ist von vorn herein nur dadurch möglich gewesen, dass die philosophische Bewegung unsrer Tage in vielfacher Beziehung im Zeichen der Kantischen Gedanken steht, dass die Frage nach dem Sinn, dem Wesen, der Wahrheit dieser Gedanken einem Interesse von so staunenswerter Allgemeinheit und

Intensität begegnen. Es ist ja kein Zweifel, dass diese ganze neue kantische Bewegung - das Wort im weitesten Sinn genommen aus der Behandlung sachlicher, nicht historischer Probleme entstanden ist, entstanden ist aus dem Bedürfnis, gegenüber materialistischem Dogmatismus, metaphysischer Unklarheit und utilitarischer Pseudomoral einen Führer zu kritischer Klarheit und Tiefe zu gewinnen. Aber die sachlichen Probleme führten hinüber zu den Fragen der Interpretation Kantischer Lehren und diese wiederum weckten das Bedürfnis nach einer exakten Feststellung und Sicherung des zu Grunde liegenden Textes. So musste der Plan dieser neuen Gesamtausgabe allenthalben Teilnahme wecken und Mitarbeiter heranziehen. Indem aber diese neukantische Forschung sich und den ihr zu Gebote stehenden wissenschaftlichen Apparat in den Dienst jenes Unternehmens stellte, hat sie schliesslich sehr viel mehr geschaffen, als einen blossen Ausgangspunkt, eine objektive Grundlage für die Interpretationsfragen und -Streitigkeiten der Gegenwart, nämlich einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des deutschen Geisteslebens überhaupt, der als solcher Wert und Bedeutung behalten wird auf unabsehbare Zeiten hinaus.

Dass die Zeit für das Unternehmen eine günstig gewählte war, zeigen Zahl und Namen der Herausgeber. Sehen wir von den weiter unten von uns aufgezählten Mitgliedern der eigentlichen Kant-Kommission der Akademie der Wissenschaften ab, so werden unter den Herausgebern der einzelnen Schriften 16 Namen aufgeführt, unter ihnen eine ganze Anzahl solcher, die in der philosophisch-historischen Wissenschaft mit grosser Achtung genannt werden. Nicht zuletzt gehören zu ihnen auch Männer, wie Rudolf Reicke, für die die Beschäftigung mit Kant Lebensarbeit und Lebensaufgabe geworden ist. Aber die Genannten sind nicht die Einzigen gewesen, die dem Unternehmen ihre Unterstützung gewährt haben: Die Herausgeber waren in hohem Masse angewiesen auf die Hilfe von Privatpersonen und Bibliotheken, von Besitzern von Briefen Kants, von Handschriften, Originaldrucken und Vorlesungsheften und dergl. Auch hier würde ohne die Zauberkraft des Kantischen Namens das Werk nicht das dankenswerte allgemeine Entgegenkommen gefunden haben.

Aber die Zeit war nicht nur günstig, es war auch dringend notwendig, sie zu benutzen, wenn man hoffen wollte, das noch vorhandene Material einigermassen vollständig zusammenzubringen und zu verwerten. Denn gerade bei Kant begegnet der Herausgeber in dieser Hinsicht Schwierigkeiten, wie bei wenigen deutschen Schriftstellern. Ich citiere das gleich zu erwähnende Diltheysche Vorwort: „Über seinem Nachlass waltete ein unglückliches Schicksal. Mit welcher Pietät ist der von Goethe und von Leibniz erhalten worden und wie unvollständig sind dagegen Kants Handschriften auf uns gekommen! Als er starb, waren wahrscheinlich die seinen Schülern übergebenen Papiere nicht wieder in seiner Hand. Und auch was nach seinem Tode sich in seinem Nachlass befand, ist allmählich immer mehr zerstreut worden. So ist das von seinen Handschriften noch Erhaltene in verschiedenem Besitz, und einzelne der losen Blätter und der Briefe treten bald hier bald dort auf, so dass trotz sorgfältigster Nachforschung auch die gegenwärtige Ausgabe nicht hoffen kann, das Erhaltene vollständig zu bieten. Diese Thatsachen sprechen deutlich genug

Sie erweisen, wie notwendig eine Gesamtausgabe Kants war und zugleich lassen sie die aussergewöhnlichen Schwierigkeiten gewahren, welche eine ausreichende Lösung dieser Aufgabe so lange verzögert haben." Man wird sagen dürfen, dass bei diesen Schwierigkeiten und Hindernissen der Erfolg, soweit er in den 3 Bänden des Briefwechsels schon vorliegt, ein sehr günstiger ist. Unsere Kenntnis ist um wichtige und interessante Stücke vermehrt worden und der Veröffentlichung des handschriftlichen Nachlasses durch Adickes dürfen wir wohl mit denselben Erwartungen entgegensehen.

Was nun die Umstände angeht, denen wir trotz aller Schwierigkeiten das Zustandekommen des Werkes schliesslich zu verdanken haben, so habe ich auf die günstigen Zeitverhältnisse schon hingewiesen. Die Einsicht in die günstige Lage dieser Umstände nicht minder wie ihre nutzbringende Verwertung aber verdanken wir Dilthey, ohne dessen Initiative die Ausgabe in der That nicht zu Stande gekommen wäre. Dass der Plan des ganzen Unternehmens von ihm stammt, habe ich schon erwähnt. Seine Ausführung zu beschleunigen wurde er, wie er selbst mitteilt, veranlasst durch die Erfahrungen, die er in der Beschäftigung mit den Handschriften deutscher Schriftsteller gesammelt hatte, und der dadurch gewonnenen Einsicht in die Leichtigkeit, mit der ein solches ungeordnetes Material der Zerstörung oder gänzlichen Zerstreuung unterliegt. Die Arbeit wurde daher auf seine Veranlassung hin begonnen mit einer Enquete, durch die zunächst festgestellt werden sollte, was überhaupt an verwertbarem Material, an Handschriften, Vorlesungsheften und dergl. vorhanden war. Indem aber dieses Material in der Hand der Kommission vereinigt wurde, sollte es zugleich benutzt werden, um aus den „Veränderungen der Handschrift, aus andern äussern Merkmalen, wie aus inhaltlichen Übereinstimmungen und Unterschieden die chronologische Bestimmung derselben herbeizuführen und die inneren Beziehungen zwischen Werken, Handschriften und Vorlesungen aufzuklären“.

Der äussere Entwickelungsgang der Angelegenheiten ist bekannt. Im Jahre 1893 legte Dilthey der Akademie und dem Unterrichtsministerium den Plan mit der zugehörigen Begründung vor; 1894 wurde auf Antrag von Zeller und Dilthey von der Akademie der Beschluss gefasst, die Ausgabe zu veranstalten und zugleich die Kommission eingesetzt, die die Leitung in die Hand nehmen sollte. Vorsitzender wurde Dilthey, ihre Mitglieder sind jetzt, nach dem Ausscheiden von Zeller, Mommsen und Weinhold noch Diels, Heinze, Erich Schmidt, Stumpf und Vahlen, als Sekretär fungiert Menzer. Der Fortgang der Arbeiten wurde durch regelmässige Berichte seitens der Kommission bekannt gegeben, die auch den Lesern der „Kantstudien" jeweils zur Kenntnis gebracht worden sind.

Von der Ausgabe ist in den Jahren 1900 und 1902 der von Reicke herausgegebene Briefwechsel Kants, Band X bis XII füllend, vollständig erschienen. Er hat im V., VI. und VIII. Bande der „Kantstudien“ eine ausführliche Würdigung erfahren. Heute liegt der 1. Band der Ausgabe vor. Er enthält sachlich den 1. Teil der vorkritischen Schriften (1746-1756); ausserdem aber ein Vorwort zu dem ganzen Werk aus der Feder Diltheys, eine allgemein orientierende „Einleitung in die Ab

teilung der Werke", endlich die Anmerkungen der einzelnen Herausgeber zu den Schriften dieses 1. Bandes und die nötigen Bemerkungen über ihre Eigenart in philologischer Beziehung, verfasst von dem germanistischen Mitarbeiter der Kommission, Dr. Frey. Durch das Vorwort Diltheys und die erwähnte Einleitung erhalten wir genauer, als es bisher möglich war, einen Überblick über die Anlage und die Ziele des Ganzen, durch die Anmerkungen (Band XIII, der die Anmerkungen Reickes zu den Briefen bringen soll, steht noch aus) und die philologischen Berichte einen Einblick in die Arbeitsweise und den Weg, den die Herausgeber eingeschlagen haben. Über Beides wird an dieser Stelle Einiges zu sagen sein, wenn auch das Wichtigste schon von Vaihinger anlässlich des Erscheinens des 1. Bandes vom Briefwechsel hervorgehoben und besprochen worden ist. (Kantstudien, V, 73 ff.)

Die Ausgabe, deren Umfang auf 22 bis 25 Bände geschätzt ist, gliedert sich bekanntlich in 4 Abteilungen. Die erste derselben soll die Werke Kants enthalten, die Band I bis IX füllen werden. Leiter dieser Abteilung ist Dilthey, als Mitarbeiter werden genannt: Erich Adickes, Benno Erdmann, Paul Gedan, Max Heinze, Alois Höfler, Karl Kehrbach, Oswald Külpe, Kurd Lasswitz, Heinrich Maier, Paul Menzer, Paul Natorp, Johannes Rahts, Rudolf Stammler, Wilhelm Windelband. Die zweite Abteilung wird vom Briefwechsel eingenommen, welchen Reicke besorgt, die dritte umfasst den von Adickes herausgegebenen hand

schriftlichen Nachlass. Die vierte endlich soll den aus erhaltenen Nachschriften hergestellten Text der Vorlesungen Kants bringen. Ihr Leiter ist Heinze, Mitarbeiter sind Gedan, Heinze, Külpe, Menzer und Stammler.

Bezüglich der Abgrenzung der Abteilungen gegen einander sind bestimmte Grundsätze befolgt worden, die Dilthey in seinem Vorwort mitteilt. In die Abteilung der Werke, die uns hier vor allem beschäftigt, sind alle wissenschaftlichen Arbeiten Kants aufgenommen, „von den kleinsten Journalartikeln und den Beiträgen zu Schriften Anderer bis zu den grossen Werken", die von ihm selbst oder in seinem ausdrücklichen Auftrag zum Druck befördert sind. Ausgeschlossen bleiben nach diesem Princip einmal Veröffentlichungen Kants nichtwissenschaftlichen Inhalts, also öffentliche Erklärungen und dergl. Sie findet der Leser, soweit sie überhaupt aufgenommen sind, im Schlussband des Briefwechsels, dem schon erschienenen Band XII der Ausgabe. Zweitens finden in die Abteilung der Werke keine Aufnahme Aufsätze wissenschaftlichen Inhalts, die nicht von Kant ausdrücklich zur Veröffentlichung bestimmt worden sind. Was an solchen gefunden wurde, ist alles der Abteilung des schriftlichen Nachlasses überwiesen worden. Von den hierher gehörigen Arbeiten Kants werden von Dilthey namentlich die Vorreden zur „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft und die Einleitung zur Kritik der Urteilskraft, deren Manuscript vor einigen Jahren in Rostock aufgefunden ist, genannt. So nahe diese Arbeiten formell und inhaltlich den Werken stehen, so sind sie doch aus diesem Zusammenhang weggelassen worden, weil ihnen die letzte Entschliessung Kants mangelt, sie zum Druck zu bringen.

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