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Punkten. Zu denen rechne ich, wie schon angeführt, in der Erkenntnislehre, — worin ja Natorp allerdings heute noch nicht zustimmen wird das Abstreifen des erkenntniskritischen, völlig unbegründet hereingeschneiten Vorurteils, dass Raum, Zeit und Kategorien deshalb, weil wir psychologisch unser Weltbild damit aufbauen, auch in ihrer Bedeutung „subjektive Bedingungen der Anschauung und des Denkens" blieben und nicht für eine Welt der Dinge an sich Geltung beanspruchen dürften, ja müssten. Mit diesem thatsächlich aus psychologischen Erwägungen hervorgegangenen Irrtum hat Kant selbst die psychologischen Auffassungen seiner im Wesen durchaus nicht psychologisch gemeinten Entdeckungen verschuldet. Ebenso hat er in der Ethik zwar das Gesetz der Einheitlichkeit vernünftiger menschlicher Handlungen aufs schärfste betont und es als Gesetz fur ein Reich der Zwecke freier Wesen gekennzeichnet; aber er hat es völlig unmittelbar auf das menschliche Handeln für anwendbar gehalten; er hat nicht gesehen, dass es nur Ziel und Richtlinie sein kann, wonach wir die praktischen Ordnungen des Lebens selbst ausgestalten müssen; dass diese Ausgestaltung notwendig ist, wenn es auch nur möglich sein soll, das individuelle Handeln diesem Gesetz gemäss zu gestalten; 1) und er hat mit seinem „Du kannst, denn Du sollst!" einen Rigorismus sehr wider seine Absicht gelehrt, der thatsächlich Ideal und Wirklichkeit unüberbrückt lässt und den Einfluss seines Sittengesetzes auf das wirkliche Handeln und wirkliche Ordnen der Gesellschaft verkümmern musste. Damit erwächst ihm kein grosser Vorwurf. Zu seiner Zeit gab es noch nicht die Anfänge eines Verfassungsstaates in Deutschland und somit noch nicht die praktische Aufgabe aller Staatsbürger, das Gesetz der Einhelligkeit zum Leitfaden ihrer gesetzgeberischen Willensentscheidungen zu machen. Aber ein grosser thatsächlicher Schade war es doch, denn umso leichter konnten in den rückläufigen ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts seine Gedanken verschüttet und vergessen werden, und auch dann noch unbegriffen und unangewandt bleiben, als die Anfänge des Verfassungslebens die altautoritäre Normativethik prinzipiell unmöglich machte. Als es dringend erforderlich gewesen wäre, einen Leitfaden aufzustellen,

1) In seiner Schrift zum „ewigen Frieden" Anhang II spricht Kant betr. des Völkerrechts allerdings davon, die Voraussetzung sei, dass ein rechtlicher Zustand existiere. Das wäre für unseren Fall in seine Konsequenz zu verfolgen.

danach die Willensentscheidung bei gesetzgeberischer Thätigkeit hätte stattfinden sollen, fehlte das Bewusstsein von Kants Vorarbeit. So begründete sich auch von hier aus abgesehen von den Einflüssen der rohen Triebe an Stelle der Einheitlichkeit des Zusammenwirkens ein durch Kompromisse zeitweilig überbrückter Interessenkampf, ein Streit der Geschmacksurteile, in dessen bedenklicher Entwickelung wir mitten inne stehen.

In dieser Hinsicht ist das Wort Liebmanns auch heute noch am Platz. „Also muss auf Kant zurückgegangen werden“. Und ebenso ist es auf theoretischem Gebiete der wissenschaftliche, von allem Zwange der Methodik und des Glaubens völlig freie Gedanke der vernünftigen Einhelligkeit aller Erkenntnisse und aller Erkenntnismethoden, der noch heute sowohl gegenüber den „leoninischen“ Gelüsten eines Willmann, als auch gegenüber den Plattituden der Mr. Gradgrinds und ihrer engen „Thatsachen" gelehrsamkeit den Ruf notwendig macht: Also muss auf Kant zurückgegangen werden.

Und da unsere Kultur an einem Schwebepunkte angelangt ist, wo es sich ernstlich fragt, ob nicht die destruktiven Mächte eines heute immer anarchischer sich entwickelnden Autoritarierund Interessentums wieder über die bildenden Kulturmächte siegen und uns wiederum um einige Stufen herabdrücken sollen: so tritt vor allem auf das' dringendste die Frage heran, ob diejenigen wissenschaftlichen Grundsätze, auf denen die ernste Wissenschaft bereits ruht, diejenigen sittlichen Grundsätze, auf denen unser Rechts- und Verfassungsleben, wenn es nicht ein Spott sein soll, ruhen muss, nicht auch bewusst und folgerecht die Grundlagen der Jugenderziehung bilden sollen und müssen. Denn auf der Jugend beruht unsere Zukunft. Ob wir es durchsetzen können, dass sie zu völlig vorurteilsloser, von keiner Dogmenscheu angekränkelter Wahrhaftigkeit und zu einer von keiner Menschenfurcht getrübten sittlichen Selbstbestimmung erzogen werden, das ist die Hauptfrage, um die sich in den nächsten Jahrzehnten geradezu alles dreht. Und insoweit, als Herbarts psychologischer Schematismus und erkenntniskritischer Eklektizismus, ebenso wie sein ideal gefärbter Halbautoritarismus diesem Ziel im Wege stehen, handelt es sich auch auf dem Gebiete der Pädagogik und vor allem auf ihm darum, ihn zu überwinden. Hier vor allem also müssen wir den Ruf erheben: Also muss auf Kant zurückgegangen werden!

Herder und Kant

an ihrem 100 jährigen Todestage.

Von Eugen Kühnemann in Posen.

Der hundertjährige Todestag Kants ist ein echter Jubiläumstag, ein Tag, der jeden wissenschaftlichen Mann zur Einkehr zwingt. Denn es ist unmöglich, über ihn zu schreiben, ohne ein Bekenntnis abzulegen und ein Bekenntnis nicht nur über den Begriff, den wir von der Wissenschaft haben, sondern über unsere ganze Art, zu Leben und Welt zu stehen. Dies ist das Ruhmeszeugnis für ihn, wie es in der Geschichte des wissenschaftlichen Geistes einzig dasteht. Das Werk Kants bedeutet diejenige Klarheit des Menschen über sich selbst, nach der die intellektuelle Geschichte der modernen Menschheit drängt, und damit zugleich den Ausgangspunkt einer unendlichen weiteren Arbeit.

Es ist aber auch eine ganz seltsame Fügung, die die Todestage Herders und Kants so nahe zusammengerückt hat, zweier Männer, die in der Jugend Herders als Lehrer und Schüler in innigster Gemeinsamkeit verbunden waren und am Lebensende in tötlicher Feindschaft von Herders Seite zum Ausdruck wurden für zwei

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entgegengesetzte Richtungen des Geistes, der Mann der grossen, mitlebenden und mitfühlenden Phantasie, der Seher der Geschichte und prophetische Erwecker eines neuen Dichtungsfrühlings und der Mann des logischen Gewissens, dem kein Leben möglich ist als in wissenschaftlich zweifellosen, ihrer Begründung gewissen Begriffen,zugleich der letzte geniale Ausläufer der alten metaphysisch dichtenden Philosophie und der erste, ganz reine Typus des spezifisch modernen Geistes, für den das Wissen, das wirkliche Wissen Inbegriff seiner Sehnsucht und die bestimmende Macht im Leben geworden ist.

Um diese Dinge wieder zum Austrag zu bringen, scheint der Augenblick sehr günstig zu sein. Schon bei den vielen Herder

feiern glaubte man etwas mehr zu spüren als litterarische Mode, Mache und Neugier. Es wirkte etwas mit wie ein Zug nach jener Zeit, deren führender Genius Herder gewesen ist, wie ein Bedürfnis, wenigstens sich in eine neue Beziehung zu setzen zu dem innersten Geiste, der die Blütezeit unserer grossen Dichtung beseelt hat. Vollends für Kant ist die Epoche eines neuen Kantianismus gekommen, in der aber nun der letzte Anschein einer philosophischen Schulbildung abgestreift wird. Der Geist seiner Methodik arbeitet sich aus allen traditionellen, bloss historischen Formen heraus. Es handelt sich nicht mehr um das System mit seinen Theorien in allen Einzelheiten, das als etwas Fremdes neben die spezialwissenschaftliche Arbeit tritt. Sondern die Grundgedanken Kants erscheinen als der Ausdruck der tiefinnerlichsten gemeinsamen Überzeugung in der wissenschaftlichen Arbeit der verschiedenen Wissensgebiete selber, wobei dann der Gegensatz und die entschiedene Bekämpfung der einzelnen Positionen des Systems sehr wohl möglich bleiben. Kant soll wieder einmal und auf neue Weise der Zeit seinen Dienst erweisen als der Punkt der Orientierung für alle die auseinandergehenden Tendenzen des Tages. So gilt uns seine Jubiläumsfeier noch mehr als diejenige Herders nicht als ein Gedächtnistag, sondern als eine Sache für das Leben.

Mit wenigen Andeutungen möchten wir bei dieser Fügung verweilen, die die beiden Männer, die sich so nahe gestanden und schliesslich soweit von einander rückten, hundert Jahre nach ihrem Tode noch einmal zusammenbringt und zu Nachbarn macht. Nicht nur für jene Zeit sind sie uns zwei typische Richtungen des Geistes und der Wissenschaft. Auch in dem Ringen unserer Tage um eine Weltanschauung klingt es oft, als setzten die beiden grossen Geister ihre Zwiesprache fort. Für den Reichtum der deutschen Bildung ist nichts so charakteristisch, als dass sie das geistige Leben beider in sich aufnehmen konnte. Vielleicht tritt in keiner anderen Betrachtung so deutlich hervor, wie sehr die Todestage dieser Männer feiern heisst der Gegenwart dienen.

1.

Herder ist der Mann der grossen schauenden, mitfühlenden und mitlebenden Phantasie. Ihm hat die Natur die Gabe verliehen, sich hinein zu versetzen in das Lebensgefühl eines Dichters

oder eines Volkes, wie es etwa in den wahrhaft empfundenen Liedern zu ihm spricht. Daher der starke Zug seiner Seele zu der aus ursprünglichem Gefühl hervorbrechenden, lebendigen, innerlich wahren Dichtung, weil er beinah der erste ist, der sie in ihrer ganzen Bedeutung als menschliches Zeugnis versteht, indem er die Tiefen seelischen Lebens herausliest, die sich in ihr offenbaren. Es ist dasselbe menschheitliche Leben, das da überall hervortritt, in den nordischen Urvölkern wie in den reichen Kulturen des Südens, in uralter Zeit wie in den grossen Geschichtsepochen und in der Gegenwart. In allen den tausend so verschiedenen Klängen erkennt er die eine Stimme der Menschheit. Den Begriff der Menschheit hat er mit eigentümlichem Leben erfüllt. Auf diesem Wege wird er der grosse Kündiger des menschlichen Seelenlebens in der Geschichte, da er zugleich, in einer und derselben Kraft, besitzt den Sinn für die Mannigfaltigkeit der Völker und für die Einheit des Menschengeschlechts. Er versteht ein jedes in seiner Art und in allen zusammen Erscheinungsformen derselben menschheitlichen Anlagen. Aus diesen Gedanken besteht die Herdersche Geschichtsphilosophie. Wie sie aber im wahrsten Sinne des Wortes für ihn erlebte Gedanken sind, denn sie sind nur der Ausdruck der mit ihm geborenen Art zu sehen, zu verstehen, zu erfahren, so ist ihm diese ganze Forschung, dieses Finden der Menschheit in ihrem Reichtum von Lust und Freude erfüllt. Und dies ist der eigentliche Inhalt der Herderschen Menschenliebe, seiner inbrünstigen Liebe der Humanität. Sie ist nichts anderes als die Freude am lebendigen Reichtum der Menschheit.

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Das Charakteristische bei Herder aber liegt in der allgemeinen Weltanschauung, die sich bei ihm im Gefolge der erlebten Gedanken herausbildet. Diese Weltanschauung findet ihre völlige Erklärung darin, dass er der Philosoph des Lebens und zunächst des seelischen Lebens ist. Die Menschheit begreift er als eine einheitliche Kraft, die sich in so vielen Erscheinungen, in jeder aber ganz und ungeteilt offenbart. Die Menschheit selber aber ist eine der unendlich vielen Formen des Lebens in der Natur. Überall in der Welt entfaltet sich das Leben in den Formen, wie sie nach den jeweiligen Bedingungen möglich sind, in allen so unendlich verschiedenen Formen also dieselbe zahlloser Wandlungen fähige, doch immer gleiche Lebendigkeit. Und so erhebt er sich zu der letzten Anschauung der unendlichen Gotteskraft,

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