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der Vorzug vor der Neigung, sofern beide collidieren, gegeben wird, was an sich jedermann als richtig einleuchtet. Aber flugs wird für viele Interpreten nun Kants Ethik selbst rigoristisch, während der Rigorismus doch lediglich ein persönlicher, wenn auch stark entwickelter Zug des Menschen Kant ist. Es wird behauptet, jede Handlung aus Neigung, alles Streben nach Glückseligkeit habe Kant für verwerflich in seiner Ethik erklärt, während er doch beides nur der sittlichen Bestimmung und zwar mit absoluter logischer Notwendigkeit untergeordnet hat. Wie gering Kant allerdings den Glückseligkeitswert auch als solchen nicht blos gegenüber dem sittlichen Werte bemass, wie treffend er die ganze Schwäche und Haltlosigkeit des Eudaimonismus gerade durch die Aufdeckung seines logischen Widersinnes und des menschlichen Unvermögens, das eudämonistische Ziel zu erreichen, an den Tag gebracht hat, das wissen wir. Wenn man Kant darum einen Pessimisten nennen will, weil er erkannte, auf welch haltlosem sandigen Grunde alle Sucht nach Glückseligkeit basiert ist, wie weitab sie von ihrem erstrebten Ziele bleibt und mit logischer Konsequenz bleiben muss, so lässt sich gegen die Bezeichnung nichts einwenden. Allein es lässt sich eben auch nur solange nichts dagegen einwenden, wie man sich der von vornherein gemachten Einschränkung auf eine besondere Spezifikation des Begriffs „Pessimismus“ bewusst bleibt. In der Einschränkung, wie sie E. von Hartmann statuiert, dass Kant irdischer eudämonologischer Pessimist sei," 1) wird man es gelten lassen können; aber zugleich auch jeden Gedanken an einen ethischen oder metaphysischen Pessimismus, nach Art Schopenhauers etwa, fernhalten müssen.

Dieser „eudämonologische Pessimismus“ ist übrigens auch für sich schon ein Beweis dafür, wie wenig Kants Persönlichkeit die Gefühlsanlage gefehlt hat, und dass sie nur durch seine praktische Intellektualität in allzuengen Schranken gehalten war.

Dass aus solcher charakterologischer Konstitution Stimmungen fliessen können, die der Melancholie ähnlich sehen, ist sehr begreiflich. In gewisser Abhängigkeit von Platon sieht schon Aristoteles, der wohl gerade in dieser Konstitution die Konstitution des Genies erkannt zu haben glaubte, in der Melancholie, wie nach

1) Kantstudien V. S. 21 ff. vergl. auch die hier zitierten Schriften „Zur Gesch. u. Begr. d. Pess. 1. Aufl. S. 26 f. u. 2. Aufl. S. 135 f. u. Phil. Fragen der Gegenwart S. 113 ff."

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ihm Bruno, Schopenhauer und andere in neuerer Zeit, ein notwendiges Ingredienz der geistigen Bedeutsamkeit. Ja, was das Wichtigste ist, Kant selbst glaubt die Melancholie allen auf das Erhabene gerichteten Naturen beigegeben. Dass seine Natur auf das Erhabene gerichtet war, wagt wohl Niemand zu bezweifeln. Es hat darum auch nicht an Auffassungen gefehlt, die im Wesen Kants melancholische Neigungen sehen wollen. 1) Ganz haben solche Anwandlungen in der That nicht gefehlt. Das ist sicher. Aber ebenso gewiss ist es, dass Kant ihrer sehr bald „Meister" geworden ist durch die Macht des Gemütes", „den blossen Vorsatz", den starken persönlichen Willen, der den Grundzug seines Charakters bildet.

Das ist in aller Kürze ein Bild des Menschen. Nur die schärfsten und stärksten Züge sind in ihm herausgearbeitet; aber sie genügen, um aus dem Wesen des Mannes sein Wirken zu verstehen. Nur dieser still-gewaltige sittliche Wille konnte die intellektuelle Kraft, den philosophischen Tiefsinn und die kritische Schärfe beständig auf sein als sittlichen Beruf erfasstes Erkenntnisideal so hingerichtet halten, ihm so nahe bringen, wie er sie darauf hingerichtet, ihm nahe gebracht hat. Nur diese sittliche Kraft und Tiefe, diese heroische sittliche Grösse konnte die erhabene praktische Lehre schaffen, die sie geschaffen hat. Und damit sie diese sittliche Grösse haben konnte, musste sie wohl auch die aussersittlichen Schranken aufweisen, die in der praktischen Lebensauffassung ihren Ausdruck finden.

Die charakterologische Niedrigkeit wissenschaftlicher Gegner zeigt sich gewöhnlich darin, dass sie auch den sittlichen Wert des überlegenen Geistes herabzuziehen sucht. Kants Charakter ist wohl noch von keinem ernstlichen Gegner ernstlich verunglimpft worden. Wer an ihn sich wagen, wer über ihn ungünstig richten wollte, der hätte schon ebendamit über sich selbst gerichtet.

Die Geschichte der deutschen Philosophie kann darum stolz sein auf den Genius, der ihr die neuen Bahnen gewiesen hat. Und mit ihr die Geschichte der Philosophie überhaupt, die von diesem deutschen Geiste befruchtet ist. Sie kann stolz sein auf diesen Genius als Genius nicht bloss, sondern ebenso stolz auf ihn als Charakter.

1) So Vaihinger und Menzer, vgl. Kantstudien II, S. 139 ff.

Kantstudien IX.

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Die Gesamtheit seines Wesens, die Totalität seiner Persönlichkeit mag ihre Schranken haben, ebendarum ist sie Persön

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lichkeit, so hat sie doch die Besonderheit ihres Wesens Einheit entwickelt, zu gleicher Vorbildlichkeit gestaltet die Erhabenheit des Geistes und die Erhabenheit ihrer sittlichen Eigenart. Und ebendarum ist die Persönlichkeit Kants doch eine Persönlichkeit im eminenten Sinne des Wortes; für jeden, der sie versteht.

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