Page images
PDF
EPUB

seiner Geschichtsphilosophie der Gegensatz des Rationalen oder Geltenden gegen das Psychologisch-Thatsächliche doch zu spröde und liegt seinem ganzen Denken der Begriff des Individuellen viel zu ferne.

Es ist nicht die Absicht dieser Abhandlung, die Kantische Lehre über das Verhältnis von Religion und Geschichte zu kritisieren. Es galt vor allem einmal, sie zu verstehen. Dass das bisher noch nicht im vollem Umfang geschehen ist, zeigt ein Rückblick auf die am Anfang charakterisierten Darstellungen von Kants Religionslehre. Kuno Fischer hat zwar mit vollem Recht ihre Beziehungen zur Geschichte prinzipiell als charakteristische Anwendung des Kantischen Entwickelungsbegriffes bezeichnet; aber in der Darstellung der Religionslehre selbst lässt er sich viel zu stark durch die exoterischen Elemente des Hauptwerkes bestimmen und lässt damit einen ungelösten Widerspruch zwischen ihm und der Kantischen Entwickelungslehre stehen. Pfleiderer bindet sich. zwar weniger an das Hauptwerk; aber auch er durchschaut den Kompromiss-Charakter der angeblichen Kantischen Offenbarungslehre nicht genügend und hat andererseits zu wenig umfassende Anschauung von Kants Geschichtsphilosophie, um die Zusammenstimmung dieser mit dem Hauptwerk zu empfinden. Schweitzer und Sänger lassen die historischen Elemente völlig bei Seite liegen und vermehren damit den irrigen Eindruck, als dürfe die Kantische Religionslehre ohne prinzipielle Beziehung zur Historie gedacht werden. Von den theologischen Kantianern vollends wird nunmehr gänzlich klar sein, wie weit sie aus dem für Kants Denken wesentlichen historischen Evolutionismus und damit aus den von Kant klar erkannten Voraussetzungen des historischen Denkens überhaupt herausgehen. Wie die Beteiligung historischer, insbesondere religionsvergleichender, Erwägungen an der Religionsphilosophie der Aufklärung überhaupt gerne unterschätzt wird, so hat sich gezeigt, dass auch für Kant eine solche Unterschätzung üblich ist. Kants Lehre nimmt negativ und positiv zu einer universalen, wenn auch noch sehr mageren, Religionsgeschichte Stellung. Die Einsatzpunkte für die Kritik treten dabei von selbst zu Tage. In der Hauptsache aber ist eine Kritik nicht nötig. Hier liegt alles völlig klar und zwingend. Kants Lehre ist weit entfernt von dem ihr gewöhnlich

an Schleiermachers Geschichtsphilosophie ein äusserst wichtiges und lehrreiches Thema, von dem sie sich bisher stets sorgfältig fern gehalten hat.

154 E. Troeltsch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie.

zugeschriebenen geschichtslosen Sinne, sie zieht vielmehr geradezu die Konsequenz der beginnenden Historisierung des menschlichen Denkens und der Einverleibung der heiligen Geschichte in die allgemeine Religionsgeschichte. Es ist der Bruch der modernen Welt mit dem auf der urchristlichen Apologetik beruhenden Wissenschaftssystem des Katholizismus. Wer diesen Bruch vollzieht, wer die Quasi-Historie des Wunders aufgiebt und die reale Historie. der Kritik und analogischen Rekonstruktion anerkennt, für den bleibt nichts anderes übrig als die Ausarbeitung und Vertiefung des Kantischen Satzes: „Das Historische dient nur zur Illustration, nicht zur Demonstration."

Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis. Ein Gedenkblatt zum hundertjährigen Todestag des Philosophen.

Von F. Heman in Basel.

Als Kant am 12. Februar 1804 seine Augen schloss, schien er schon seit einer Reihe von Jahren seinen Ruhm überlebt zu haben. Nicht allein, dass Kant schon seit fünf Jahren aller öffentlichen Thätigkeit hatte entsagen und auf alle berufliche Wirksamkeit hatte Verzicht leisten müssen, sondern Andere, Jüngere, waren aufgetreten, die mit der Verwegenheit der Jugend noch zu seinen Lebzeiten ihn und seine Philosophie für veraltet und abgethan erklärten, mit dem Lorber seines Ruhmes ihre Stirnen schmückten und ihn und seine Philosophie nur noch als Piedestal ihrer eigenen Grösse wollten angesehen wissen und gelten lassen. Und die grosse Menge war ihnen gefolgt; sie hatten es ja verstanden, die herbe Schärfe der kritischen Philosophie durch ausgiebigen Missbrauch ihrer produktiven Einbildungskraft in berauschend süssen Nektar umzuwandeln, durch den die Sterblichen an Erkenntnis und Wissen den Göttern gleich zu machen, sie ruhmredig sich anheischig machten. Als Kant starb, schien auch seine Philosophie endgiltig mit ihm begraben zu werden.

Und in der That, ein Menschenalter hindurch steigerte sich immer ärger der Taumel des absoluten Wissens bis zur Selbstvergötterung der Philosophie und ihrer Koryphäen; kein Mensch dachte mehr an den bescheidenen Kant oder wollte sein Wissen in die engen Schranken des Kantischen Kritizismus bannen lassen. Zwar brach jählings dann das Erwachen herein und alle Denkenden waren wie aus den Wolken gefallen, als sie die hochgerühmten Systeme ihrer Philosophen vor der Macht der Thatsachen, welche die Naturforscher ins Feld führten, wie Spinngewebe zerreissen sahen. Allein es dauerte noch einmal ein Menschenalter, bis man zur reuigen Einsicht in die Ursache der verfehlten Entwickelung

kam. Da endlich im Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ertönte immer lauter und lauter der Ruf: Zurück zu Kant! Es war ein guter, heilbringender Ruf der Selbstbesinnung.

Man grub ihn und seine grossen Werke aus dem Grab ihrer Vergessenheit wieder aus; es entstand ein freudiges und eifriges Kantstudium. Jetzt erst wurde Kant der eigentliche Schulphilosoph der Deutschen, der Meister und Lehrer aller, die auf philosophische Kenntnisse Anspruch machten. Man hegte allenthalben die besten Hoffnungen und Erwartungen einer neuen Blütezeit der Philosophie; die Verachtung, in welche einst Kants spekulatividealistische Nachfolger die Philosophie gestürzt hatten, sollte ein Ende nehmen und ein neues Zeitalter der Glorie anbrechen.

Allein trotz allem Eifer und aller Mühe wollte keine der Hoffnungen in Erfüllung gehen. Zwar rühmten Einige, wir verstünden heute Kant besser, als er sich seiner Zeit selber verstanden habe; es erschienen grosse und glänzende Darstellungen der Kantischen Philosophie, eine ganze Flut von Monographien über einzelne Teile und Punkte seiner Philosophie traten zu tage, aber die Philosophie selber verblieb in dem wirren, trostlosen Zustand, in den sie gestürzt war. Ja, trotz allen Anstrengungen schien durch die Ungunst der Zeit ihr gänzlicher Verfall nicht verhütet werden zu können. Selbst einige Kantianer glaubten durch Kant genötigt zu sein, die Philosophie auf dürre und unfruchtbare Erkenntnistheorie reduzieren zu müssen. Es entstanden nicht nur endlose Streitigkeiten über das Verständnis und die Auslegung der Kantischen Philosophie, sondern auch, was noch viel schlimmer war, über die Möglichkeit, die Berechtigung und den Begriff der Philosophie selber. Man stritt der Philosophie das Recht der Existenz ab im Namen der Kantischen Kritik. Manche kehrten daher auf den Humeschen Standpunkt des Skeptizismus zurück, von dem ja doch Kant die Philosophie hatte befreien wollen. Andere warfen sich dem Positivismus in die Arme. Aber dennoch waren diese eifrigen Kantstudien nicht umsonst. Der Sinn für echte, die Probleme prinzipiell behandelnde Philosophie wurde dadurch während der traurigen Zeit der materialistischen Hochflut in Deutschland wach und rege gehalten. Der Neukantianismus hat das grosse, nicht zu unterschätzende Verdienst, den Zusammenhang der philosophischen Entwickelung in Deutschland gewahrt und das Erlöschen rein philosophischen

Denkens verhütet zu haben, sodass Deutschland seinen Ruhm behielt, die Pflegestätte der Philosophie in Europa zu sein. Dies Verdienst bleibt ihm unbestreitbar, obwohl es ihm damals noch nicht gelang, durch die Wiedererneuerung Kants die Philosophie selbst auf eine neue, höhere Stufe zu erheben und eine neue Epoche derselben zu inaugurieren.

Wir haben zunächst zwei Fragen zu beantworten:

1. Warum irrten Kants direkte Nachfolger so weit von Kant ab, dass seine Philosophie in Vergessenheit geriet?

2. Warum hat die Erneuerung der Kantischen Philosophie noch nicht ihr wirkliches Ziel erreicht?

Dann wollen wir das betrachten, was Kant selber in den allerletzten Jahren vor seinem Hinscheiden uns noch als Wegleitung für eine künftige Entwickelung und Weiterbildung seiner Philosophie, als der Philosophie selbst, hinterlassen hat; es ist Kants philosophisches Vermächtnis an die Nachwelt, an uns, auf die es gekommen ist.

I.

In bezug auf die erste Frage können wir kurz sein und brauchen nur an Bekanntes zu erinnern. Der Punkt in Kants Philosophie, der Fichte zum Sprungbrett diente, um kurzweg über Kants ganzes System hinwegzukommen, war „das Ding an sich“. Schon Änesidemus-Schulze hatte das Ding an sich für einen Widerspruch in der Kantschen Erkenntnistheorie erklärt. Wenn es unerkennbar ist, dann ist auch nicht erkennbar, ob es nicht doch anch Ursache der Form unserer Erkenntnis ist und nicht bloss des Stoffes unserer Empfindung. Auch machte Schulze schon darauf aufmerksam, dass sich Kant von Berkeley nur dadurch unterscheide, dass er noch unberechtigter Weise Dinge an sich als ausser uns annehme, während Berkeley nur Geister und ihre Vorstellungen oder Ideen kennt. Ziehe man bei Kant die Selbsttäuschung mit dem Ding an sich ab, so bleibe nur Hume und Berkeley übrig. Auch Maimon machte geltend, dass es unmöglich sei, dass ein ausser unserem Bewusstsein befindliches Ding in unserem Bewusstsein rot, süss, sauer bewirke. Als Erkenntnisprinzip bleibe einzig unser Bewusstsein übrig. So wenig aber der Stoff der Empfindung aus dem Bewusstsein könne abgeleitet werden, so wenig könne das aus dem Ding an sich geschehen. Aus

« PreviousContinue »