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102 P332 ed. L

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Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden,

Das alte Wahre, faß es an.

Goethe.

Vorwort zur erßten Auflage.

Nicht eine neue Philosophie ist es, was hier dem Leser geboten wird, sondern eben das, was der Titel ankündigt: eine Einführung in die Philosophie. Was ich durch Vorlesungen, die ich unter dem gleichen Titel seit einer Reihe von Jahren gehalten habe, meinen Zuhörern zu leisten bemüht gewesen bin, das wünscht dies Buch seinen Lesern zu bieten; es will sie anleiten, die leßten großen Probleme, die die Welt dem denkenden Menschengeist aufgiebt, sich als Fragen vorzulegen, und die großen Gedanken, mit denen die geistigen Führer der Menschheit sich diese Fragen beantwortet haben, nachzudenken.

Eine solche Anleitung könnte die Form eines historischen Berichts haben. Sie kann aber auch die Form einer Diskussion dieser Fragen und Gedanken haben. Ich habe die lettere Form gewählt, oder viel= mehr nicht gewählt, sie hat sich mir als die allein mögliche von selbst ergeben. Nur wer zu den philosophischen Problemen und ihren Lösungen selbständig Stellung genommen hat, kann sie andern darlegen; und wieder, wie könnte er es thun, ohne seine Ansicht und sein Urteil in die Darstellung einfließen zu lassen? Ich will also nicht bloß die Probleme und die möglichen und in der Geschichte hervorgetretenen Lösungen vorlegen, sondern zugleich die Auflösung, die ich für die richtige halte, zur Anerkennung bei dem Leser zu bringen suchen. Und so wird er also doch eine Philosophie in diesen Blättern finden.

Um offen zu verfahren und ihm die Stellungnahme zu der im Folgenden entwickelten Philosophie zu erleichtern, will ich sie gleich hier mit einigen Strichen kennzeichnen.

Die Anschauung, der nach meiner Ansicht die Entwickelung des philosophischen Denkens zustrebt, die Richtung, in der die Wahrheit liegt, bezeichne ich mit dem Namen des idealistischen Monismus. Die Gegensäge, durch die diese Anschauung begrenzt und bestimmt wird, sind der supranaturalistische Dualismus und der

atomistische Materialismus. Jener ist die aus der mittelalterlichen Scholastik überkommene, in der protestantischen Neuscholastik bis ins achtzehnte Jahrhundert fortgepflanzte Schulphilosophie der Kirchenlehre; sie trennt Körper und Geist als zwei nur zufällig und zeitweilig verbundene Substanzen, sie sucht Gott und Natur als zwei einander fremde Wirklichkeiten aus einander zu halten. Der atomistische Materialismus dagegen ist die Philosophie, in der die seit dem sieb= zehnten Jahrhundert aufgekommene mechanistische Naturerklärung nicht bloß ihre eigenen lezten Voraussetzungen, sondern die lezten Gedanken über die Welt überhaupt sieht.

Man kann die ganze Geschichte der neueren Philosophie als den fortgesetten Versuch, über diesen Gegensaz hinauszukommen, konstruieren. Der überkommene Supranaturalismus stellt Gott als ein extramundanes und anthropomorphes Einzelwesen der Welt gegenüber und läßt ihn, nachdem er sie erst in einem bestimmten Zeitpunkt aus nichts gemacht, dann noch gelegentlich auf sie einwirken. Dieser Anschauung wurde durch das Aufkommen der modernen Naturwissenschaft mehr und mehr der Boden unter den Füßen fortgezogen. Das Prinzip der Naturforschung ist die Naturgesezmäßigkeit des Geschehens. Ein Gebiet nach dem andern wurde diesem Prinzip unterworfen, und so sezte sich allmählich der Gedanke unwiderstehlich durch: alle Vorgänge in der Natur sind als Erfolg gesetzmäßig wirkender Kräfte zu betrachten. Diesem Gedanken giebt nun der Materialismus, in der Meinung, damit die lezte Konsequenz der wissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge zu ziehen, die Form einer Metaphysik: die ganze Wirklichkeit ist nichts als ein System blind wirkender physischer Kräfte. Das alte supranaturalistische System wehrte sich hiergegen teils mit dem überkommenen Rüstzeug ontologisch-kosmologischer Spekulation, vor allem aber mit Verdächtigung und Verunglimpfung der materialistischen Philosophie und je nachdem auch der neuen Wissenschaften als gottloser, auch dem Staat und der Gesellschaft gefährlicher Neuerungen.

Die Philosophie nun sucht diesen Gegensah innerlich zu überwinden; sie sucht überall, und man kann sagen, das ist das bewegende Moment in der ganzen Entwickelung der neueren Philosophie, die religiöse Weltanschauung und die wissenschaftliche Naturerklärung mit einander verträglich zu machen.

Nach der Ansicht vieler wird das heißen, die Quadratur des Zirkels suchen. Vielleicht hat die Aufgabe hiermit eine gewisse Ähnlichkeit; wie hier nur Annäherungswerte zu erreichen sind, so geht auch dort die Sache vielleicht niemals rein auf. Auf jeden Fall aber muß man es als geschichtliche Thatsache anerkennen, daß das philosophische Denken der lezten drei Jahrhunderte auf dieses Ziel gerichtet war.

Sein Ausgangspunkt und seine Voraussetzung ist die moderne Naturwissenschaft und ihr Grundgedanke, die allgemeine Naturgefeß= mäßigkeit des Geschehens. Was diesen Gedanken nicht anerkennt, liegt außerhalb dieser Entwickelungsreihe. Seine zweite Grundüberzeugung ist die: daß, was uns die Naturwissenschaften über die Wirklichkeit lehren, nicht alles ist, was von ihr zu sagen ist, daß die Wirklichkeit noch ein Anderes und Mehreres ist, als eine nach den Gesezen der Mechanik bewegte Körperwelt. Auf sehr verschiedene Weise hat man dies Andere und Mehrere zu bestimmen oder auch seine Unbestimmbarkeit zu beweisen gesucht, aber anerkannt haben es im Grunde alle. Wer es nicht anerkennt, steht ebenfalls außerhalb der eigentlichen Entwickelungsreihe der neueren Philosophie.

Deutlich treten beide Züge in den beiden großen Richtungen hervor, in denen sich die Philosophie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts bewegte. Die rationalistisch-metaphysische Entwickelungsreihe, deren Hauptvertreter Descartes, Spinoza und Leibniz sind, geht von der Anerkennung der Wahrheit der neuen physischen Weltansicht aus, um sie dann durch eine metaphysische Ansicht zu ergänzen. Die in England einheimische empiristisch - positivistische Entwickelungsreihe, durch Locke, Berkeley, Hume repräsentiert, geht von derselben Voraussetzung aus, wird aber durch erkenntnistheoretische Reflexion auf die Ansicht geführt, daß die physikalische Ansicht nicht die absolute Wirklichkeit, sondern eine zufällige Ansicht, eine Projektion der Wirklichkeit auf unsere Sinnlichkeit sei. In Kant begegnen und durchdringen sich die beiden Ansichten auf höchst eigentümliche Weise; vor allem aber datiert von ihm die bedeutsame Wendung, die den Frieden zwischen der religiösen Weltansicht und der wissenschaftlichen Naturerklärung dadurch zu er= reichen sucht, daß sie das religiöse Verhalten von der intellektuellen Funktion loslöst und auf die Willensseite gründet.

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