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religiöse Weltvorstellung dem Einzelnen innewohnen, verschieden ist: an der Philosophie hat das Individuum durch Denken, an Mythologie und Religion durch Glauben Teil. Eine geglaubte Philosophie ist ein innerer Widerspruch, nicht minder eine erdachte Religion. Das gilt auch von den höchsten Religionsformen, der Einzelne hat an ihnen Teil nicht als denkendes und forschendes Individuum, sondern als Glied eines Volkes, eines geschichtlichen Lebenskreises; sie ist in ihm wesentlich als etwas, das er empfangen hat; wogegen ihm Philosophie, auch wenn ihr Gedankengehalt nicht zuerst von ihm hervorgebracht worden ist, als etwas von ihm Erarbeitetes erscheint, das er wohl auch durch eignes Denken hätte ursprünglich hervorbringen können.

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Aus dem angedeuteten inneren Verhältnis der Philosophie und Religion fällt Licht auf die in der Geschichte des geistigen Lebens so bemerkenswert hervortretende Thatsache, daß zwischen ihnen vielfach ein feindlicher Gegensat herrscht. In ihren beiden großen Entwicke= lungen, im Altertum und in der Neuzeit, steht die abendländische Philo= sophie meist in einem gespannten Verhältnis zur überlieferten religiösen Weltanschauung, das nicht selten in offene Feindseligkeit ausbricht. In der Geschichte der griechischen Philosophie ist das bekannteste Beispiel feindlichen Zusammenstoßes die Verurteilung und Hinrichtung des Sokrates als Verächters der Götter und Verderbers der Jugend. Doch steht der Fall nicht ganz vereinzelt da. Und in der Neuzeit weist die Geschichte der Philosophie kaum ein Blatt auf, das nicht von Kämpfen, inneren und äußeren, erzählte. Die Vorkämpfer und Bahnbrecher der neuen Gedanken sind alle von offiziellen und freiwilligen Hütern der überlieferten Lehre bekämpft und verfolgt worden, wie sie denn auch ihrerseits als Gegner des herrschenden Systems sich fühlten. Ich erinnere nur an Bruno und Galilei, an Descartes und Spinoza, an Hobbes und Locke, an Voltaire und Rousseau, an Leibniz und Wolff, an Kant und Fichte: sie alle sind als Feinde behandelt worden, sei es indem man sie in Person verfolgte und bestrafte, oder ihre Schriften verbot und durch den Henker verbrennen ließ, oder wenigstens ihrer Lehrthätigkeit mit Verboten und Verdächtigungen nach oben und nach unten entgegentrat. Der Kampf ist auch gegenwärtig noch nicht erloschen, wenngleich die alten Mittel meist außer Gebrauch gekommen sind. Auch heute noch wird eine neue Philosophie nicht bloß auf ihre

Wahrheit, sondern ebenso auf ihre Verträglichkeit mit der geltenden Lehre geprüft und, wenn sie in dieser Prüfung nicht besteht, als schlecht und verderblich verworfen.

Die Ursache des feindseligen Verhältnisses liegt offenbar in der nahen Verwandtschaft. Es ist der Kampf feindlicher Brüder oder also Schwestern. Die ältere verlangt Anerkennung ihrer Autorität, die jüngere strebt sich dieser zu entziehen, sie will nicht mehr als ancilla theologiae dienen, sondern frei und selbständig ihr Werk treiben. Es ist zuleßt der Kampf des Individuums um seine Freiheit gegen den Gesamtgeist. Überall findet die Philosophie bei ihrem Entstehen die ältere, aus dem Kollektivdenken entsprungene Form der Weltanschauung vor. Der Gesamtgeist ist älter als der individuelle; auf primitiver Entwickelungsstufe ist die Gattung alles, das Individuum bloßes Exemplar der Gattung; wie im Handeln und Urteilen durch die Sitten, so ist es im Denken durch die religiösen Vorstellungen und Gedanken der Gesamtheit gebunden; die Möglichkeit besonderer Gedanken liegt ihm völlig fern. Allmählich aber findet_mit_der aufsteigenden Entwickelung Differenzierung und Individualisierung statt. Es kommt der Mut, etwas besonderes zu sein und damit auch der Mut, besondere Gedanken zu haben. Die Verwunderung ist nach Aristoteles, der Zweifel nach Descartes der Anfang der Philosophie. Beides ist eins, das Aufwachen nämlich des individuellen Denkens, das bisher durch die allgemeinen Gedanken beschwichtigt oder im Schlaf gehalten worden war. Gegen den Zweifel oder die Verwunderung und ihren Versuch, sich neue und besondere Gedanken über die Welt und die Dinge zu machen, erhebt sich nun das alte allgemeine Denken als gegen eine seltsame und unerhörte Anmaßung: warum willst du dir nicht an den anerkannten und von den Vorfahren überlieferten Gedanken genügen lassen? Das ist frevelhafte Überhebung, die zu unterdrücken Recht und Pflicht ist; um so mehr als die Überschreitung der allgemeinen Gedanken doch nur der Überschreitung der Sitte den Weg ebnen oder ihr zur Beschönigung dienen soll.

In der alten Welt fehlt es den Bestrebungen, sich der Philosophie zu erwehren, an Zusammenhang und Konsequenz; weder war die mythisch-religiöse Weltanschauung innerlich zu einem einheitlichen

System durchgebildet, noch hatte sie eine äußere Organisation, die sie wehrhaft und widerstandsfähig gemacht hätte. Daher die Philosophie hier bald volle Freiheit erreichte. Anders lag die Sache in der Neuzeit. Die christliche Religion hat, schon im Altertum und dann wieder im Mittelalter, so viel Philosophie in sich aufgenommen, daß sie selbst ein allumfassendes Lehrsystem bildet, das keinen Raum für freie Gedankenbildung läßt. In der Kirche mit ihrem Verwaltungssystem und ihrem Unterrichtswesen hat sie die äußere Organisation, wodurch sie befähigt ist, allgegenwärtig Abweichungen in der Lehre sogleich zu bemerken und ihr mit gesammelter Autorität entgegenzutreten. Darum ist hier der Kampf so viel heißer und länger gewesen. Er ist hier keineswegs schon beendet, wenngleich in unserer Zeit die Forderung der Unterwerfung der Philosophie unter das kirchliche Lehrsystem kaum mehr prinzipiell gestellt wird, wenigstens nicht auf protestantischem Boden. Eine Neigung dazu regt sich freilich auch hier noch hin und wieder, und wenn es einmal gelingen sollte, die theologischen Fakultäten unter die kirchliche Autorität zurückzubringen, dann würde voraussichtlich der Versuch nicht lange auf sich warten lassen, auch die Philosophie wieder unter Kontrolle zu stellen. Einstweilen ist dazu allerdings ge= ringe Aussicht.

Wie wird dieser Kampf ausgehen? Wird er ewig dauern? Wird er zu friedlichem Ausgleich führen? Oder wird er mit dem definitiven Unterliegen oder dem Untergang einer der Gegnerinnen enden?

In weiten Kreisen ist heutzutage die letztere Ansicht die herrschende. Die Religion, so glaubt man, ist im Aussterben begriffen; Wissen= schaft und Philosophie haben ihr die Wurzeln abgegraben, das Ende wird die Alleinherrschaft der Wissenschaft sein.

Ich vermag mich dieser Ansicht nicht durchaus anzuschließen. In einem bestimmten Sinne wird sie Recht haben: die alte mythische Auffassung der Natur ist ohne Zweifel im Zurückweichen begriffen. Der Glaube an Götter und Dämonen, die als Einzelwesen irgendwo Existenz haben und durch gelegentliche Eingriffe den kausalen Zusammenhang des Naturlaufs unterbrechen, ist im Aussterben begriffen und wird nicht wieder lebendig werden, es sei denn, daß Wissenschaft und Philosophie im Abendland wieder erlöschen. Auch macht es hier keinen

wesentlichen Unterschied, ob man viele derartige Wesen oder nur ein einziges annimmt.

Dagegen glaube ich nicht, daß damit zugleich die Religion aussterben wird. Ich glaube nicht, daß die Menschheit jemals ihr inneres Verhältnis zur Wirklichkeit auf das wissenschaftliche Erkennen einschränken wird. Wäre der Mensch ein rein intellektuelles Wesen, dann möchte er sich an den Bruchstücken von Erkenntnis genügen lassen, welche die wissenschaftliche Forschung nach und nach zusammenträgt. Aber er ist nicht bloßer Verstand, er ist auch und vor allem ein wollendes und fühlendes Wesen. Und in dieser Seite seines Wesens hat die Religion ihre tiefsten Wurzeln. Gefühle der Demut, der Ehrfurcht, der Sehnsucht nach dem Vollkommenen, mit der sein Herz in der Anschauung der Natur und der Geschichte erfüllt wird, bestimmen sein inneres Verhältnis zur Wirklichkeit unmittelbarer und tiefer, als es die Begriffe und Formeln der Wissenschaft vermögen. Aus ihnen erwächst die Zuversicht, daß die Welt nicht ein sinnloses Spiel blinder Kraft, sondern die Offenbarung eines Guten und Großen sei, daß er freudig als ein seinem eigenen innersten Wesen Verwandtes anerkennen dürfe. Denn das ist doch das eigentliche Wesen jedes religiösen Glaubens, die Zuversicht, daß in dem, was ich als das Höchste und Beste liebe und verehre, das eigentliche Wesen der Wirklichkeit sich mir offenbart, die Gewißheit, daß das Gute und Vollkommene, worauf das tiefste Sehnen meines Willens gerichtet ist, Grund und Ziel aller Dinge ist.

Diese Gewißheit kommt nicht aus der Wissenschaft, darum kann Wissenschaft sie auch nicht aufheben. Sie hat ihre Wurzeln nicht im Verstand, sondern im Willen. Der Verstand urteilt überhaupt nicht durch die Prädikate gut und schlecht, wertvoll und unwert, er unterscheidet wirklich und unwirklich, wahr und falsch. Er ist ein gegen Wert und Unwert gleichgültiger Registrierapparat des Wirklichen. Der Mensch aber ist mehr als ein Registrierapparat des Wirklichen, darum hat er nicht bloß Wissenschaft, sondern auch Dichtung und Kunst, Glaube und Religion. Einen Punkt wenigstens giebt es, wo jeder über das bloße Wissen, das Registrieren von Thatsachen, hinausgeht, das ist sein eigenes Leben und seine Zukunft: er legt einen Sinn in sein Leben und giebt ihm die Richtung auf etwas, was noch nicht ist, aber sein wird, durch seinen Willen sein wird.

So entspringt ihm neben dem Wissen ein Glaube; er glaubt an die Verwirklichung dieses seines Lebensziels, wenn anders es ihm Ernst darum ist. Da aber sein Lebensziel nicht ein isoliertes ist, sondern in dem geschichtlichen Leben seines Volkes, zulegt der Menschheit be= schlossen ist, so glaubt er auch an die Zukunft seines Volkes, an die siegreiche Zukunft des Wahren und Rechten und Guten in der Menschheit. Wer immer sein Leben an eine Sache seßt, glaubt an seine Sache, und dieser Glaube, sein Bekenntnis mag im übrigen sein, welches es will, hat immer etwas von der Form einer Religion.

Sezt so der Glaube zunächst innerhalb der Geschichte zwischen dem Wirklichen und Wertvollen einen inneren Zusammenhang, sieht er in ihr etwas wie eine den Dingen selbst innewohnende Vernunft oder Gerechtigkeit für das Rechte und Gute Partei nehmen und es siegreich gegen alle widerstrebenden Mächte hinausführen, so führt von hier aus ein natürlicher Fortschritt weiter. Das menschlichgeschichtliche Leben ist wieder nicht ein isoliertes, es ist in den all= gemeinen Naturlauf so eingebettet, daß es auf keine Weise davon gelöst werden kann. Gilt nun dort das Gesez, daß die Wahrheit gegen die Lüge, das Recht gegen das Unrecht, das Gute gegen das Böse troß dem entgegenstehenden Schein im Grunde und auf die Dauer das Starke und Siegreiche ist, wie sollte es nicht zulässig sein, dies Verhältnis allgemein zu seßen und an eine die ganze Wirklichkeit umfassende Macht des Guten zu glauben? Am wenigsten, scheint es, sollten dem diejenigen widersprechen, die so entschieden die Gesezmäßigkeit des Weltlaufs und die Eingeschlossenheit der Geschichte in den allgemeinen Naturlauf behaupten. Wer an einen stetigen Fortschritt, an einen sich verwirklichenden Sinn in der Geschichte glaubt, und zugleich das Menschheitsleben als einen Ausschnitt aus dem allgemeinen Naturleben faßt, der hat darin die Voraussetzungen, die ihn, wenn er nicht von dem einen oder dem andern abfallen will, zum Glauben an einen Sinn in den Dingen überhaupt führen müssen zum Glauben, nicht zum Wissen und Beweisen, denn schon der Sinn in der Geschichte, ja der Sinn im eigenen Leben ist nicht Sache des Wissens und Beweisens.

Was hindert hieran? Sind es die schlechten Beweise, die die gute Sache so verdächtig gemacht haben, daß man es jetzt dem Ver

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