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Dies zu leugnen liegt in den metaphysischen Begriffen des Materialismus gar kein Anlaß vor. Die Erfahrung, die uns andere Naturgeseze kennen lehrt, belehrt auch hierüber. Wer die Geseze der Statik nicht beachtet, dessen Bau stürzt ein, er mag über jene Geseße denken, wie er will. Wer die Geseze der medizinischen Diätetik übertritt, der büßt mit Übelbefinden und Krankheit, er mag an die Gültigkeit jener Geseze glauben oder nicht. Ebenso wer die Gesetze der Moral übertritt, der zahlt dafür mit eigenem Lebensglück, daran wird durch seine Meinung nichts geändert. Wer die Pflichten gegen das Eigenleben verachtet, wer der Unmäßigkeit und Ausschweifung sich überläßt, der zerstört die Grundbedingungen der eigenen Wohlfahrt. Wer dem Müßiggang und der Genußsucht sich ergiebt, meinend, sein Glück auf diesem Wege zu finden, der wird am Ende in Überdruß und Lebensekel untergehen; das ist ein biologisches Geseß der Menschennatur, so gut als das andere, daß gelingender Thätigkeit die Lust folgt, und daß durch Übung die Kräfte wachsen. Endlich wer die Gebote der sozialen Moral übertritt, der stört zunächst das Leben anderer, er büßt aber auch selber dafür als soziales Wesen. Wer gegen seine Umgebung rücksichtslos, hochmütig, niederträchtig, boshaft ist, der ruft Abneigung und Haß und das diesen Gefühlen entsprechende Verhalten hervor; daran ändern seine Meinungen über die Natur der Moralgesete gar nichts. Es giebt aber niemanden, dem dies völlig gleichgültig wäre; es giebt keinen Menschen auf der Welt, der nicht der Liebe und des Vertrauens seiner Umgebung bedürfte, dem nicht Mißtrauen und Haß an sich peinlich und in ihren Folgen verderblich wären. Und selbst dann, wenn es jemand gelänge, Unrecht und Niedertracht unbemerkt und unvergolten zu verüben, würde nicht alle Rückwirkung ausbleiben; es bliebe die Angst vor der Aufdeckung; denn es ist eine wunderliche Thatsache, daß, wer etwas zu verbergen hat, immer glaubt, von den andern beobachtet und gesehen zu werden. Schuldbewußtsein macht einsam. Und sette es jemand durch, alle Beziehungen zu anderen abzuschütteln, so wäre er noch vor einem nicht sicher, vor dem Richter in ihm selber. Er mag, von der Begierde geblendet, sich einen Augenblick darüber täuschen, daß er bei sich das Gewissen mit den lezten Wurzeln ausgerissen habe, es wird eines Tages wieder da sein und vernehmlich zu ihm reden. Wenn die leidenschaftliche Begierde gesättigt

ist, wenn dann Erinnerung und Besinnung hervortreten, oder wenn mit zunehmendem Alter Kraft und Mut nachlassen, dann tritt das Bild vergangener Dinge beänstigend vor die Seele. Es dürfte schließ= lich doch keinen Menschen geben, der mit Gefühlen der Befriedigung auf ein Leben voll Nichtigkeit und Gemeinheit, voll Lüge und Feigheit, voll Bosheit und Niedertracht zurückzublicken vermöchte; wenigstens dürfte es für niemand ratsam sein, es darauf ankommen zu lassen. Das Leben von sogenannten Lebemännern und ihren weiblichen Partnern, oder von Gaunern und Schurken, großen und kleinen, wird nicht leicht breit und offen beschrieben, weder von ihnen selbst noch von anderen. Wenn es geschähe, und es wäre vielleicht keine unnüße Arbeit, es würde doch nicht leicht jemand das Buch mit der Empfindung aus der Hand legen: das war ein glückliches und begehrenswertes Leben. Und wenn es alle äußeren Erfolge erreicht, wenn es straflos alles verübt und alles genossen hätte, so würde es dennoch nicht leicht einem Betrachter als ein schönes und wünschenswertes Lebenslos erscheinen.

Also, so lange die Welt ist, wie sie ist, und die menschliche Natur bleibt, wie sie bisher war, werden auch die Sittengeseße in Geltung bleiben, man mag nun die Wirklichkeit aus Atomen oder aus immateriellen Substanzen oder wie immer konstruieren. Die Aufgabe, die der Materialismus sich hier allein stellen kann, ist die: zweifellos gegebene Thatsachen mit seinen Mitteln zu erklären. Hat er Recht, ist das Seelenleben eine Funktion des Gehirns, so wird es für ihn sich darum handeln, auch die Geseze der Moral, ebenso wie die der Logik, als eine eigentümliche Einrichtung des menschlichen Gehirns darzustellen; er wird versuchen müssen zu zeigen, wie diese Struktur der Rindensubstanz, diese Konstitution gewisser Ganglienzellen Ursache solcher Bestrebungen und Gefühle, solcher Urteile über fremdes und eigenes Verhalten sei. Als Biolog mag er hinzufügen, wie diese Einrichtung, nicht minder als die übrigen Einrichtungen des organischen Systems, im Sinne der Erhaltung des Individuums und der Gattung wirke. Und die Sache ins Praktische wendend, mag er sich Mühe geben, auf seine physiologische Erkenntnis des Gehirns eine Gymnastik und Diätetik der „Moralganglien" oder der Gewissensregion" zu be= gründen, um so endlich einmal die Erziehungslehre auf eine „wissenschaftliche" Grundlage zu stellen.

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Bis das gelungen ist, wird sich auch der Materialist mit jenen „provisorischen“ Gefeßen behelfen müssen; er hat gar keinen Grund, das nicht zu thun; die Ungültigkeit der Moralgeseße ist schlechterdings keine logische Konsequenz der Ansicht, das alles Wirkliche Körper oder Funktion eines Körpers ist. Es mag sein, daß hin und wieder bei materialistischen Schriftstellern eine Neigung sich findet, von Moral und Gewissen mit einer gewissen Mißachtung zu reden, als von Dingen, von denen die „Wissenschaft“ zu handeln keine Veranlassung habe; der Neigung, Dinge, die der Konstruktion durch die eigene Theorie Schwierigkeit machen, geringschäßig zu behandeln oder sie überhaupt zu übersehen, begegnet man überall. Das ist zufällig. Der antike Materialismus, der überhaupt philosophischer, d. h. universeller in seiner Betrachtung ist, als der Materialismus moderner Ärzte und Physiologen, hat gerade in der Moral sein Ziel; und nur Unkunde kann meinen, daß die Moral Demokrits oder Epikurs mit einer Moral der Zügellosigkeit etwas gemein habe; Disziplin des Gemüts ist es, wozu sie anleitet.

Und nun noch eine Bemerkung. Man vergesse nicht, daß die Befämpfung einer gegnerischen Theorie aus ihren gefährlichen Folgen allemal einen üblen Eindruck macht; sie erweckt den Argwohn, daß man vor einer theoretischen Prüfung sich scheue; man preist eine Ansicht nicht als die gute an, so lange man glaubt, ihre Wahrheit beweisen zu können. Und zuleht liegt doch die Sache überhaupt so, daß nur der Irrtum gefährlich ist; die Dinge sind, wie sie sind; wie sollten uns wahre Vorstellungen von ihnen schaden oder falsche nüßen?

4. Kritik des Materialismus. Parallelistische Theorie von dem Verhältnis des Physischen und Psychischen.

Wir wenden uns nun zur Prüfung des theoretischen Wertes der materialistischen Theorie. Ist die Behauptung wahr, daß alles Wirkliche Körper oder Bethätigung eines Körpers ist?

Ich will gleich bekennen, daß ich mich davon nicht überzeugen kann. Es mag diese Ansicht für die Zwecke der Naturforschung ausreichen; die Wirklichkeit überhaupt zu konstruieren, ist sie nicht zulänglich. Die universelle oder philosophische Betrachtung der Wirklichkeit kommt erst in einer idealistischen Theorie zur Ruhe, die in dem SeelischGeistigen das wahrhaft Wirkliche sieht.

Es ist heutzutage üblich, wenigstens in philosophischen Kreisen, die Unzulänglichkeit des Materialismus vor allem durch erkenntnistheoretische Erwägung darzuthun; Kant gilt als sein definitiver Überwinder; durch den erkenntnistheoretischen Idealismus, der Raum und Zeit zu Formen der subjektiven Anschauung und damit die Körper zu Erscheinungen mache, habe er den dogmatischen Materialismus für alle philosophisch Denkenden für immer unmöglich gemacht. So urteilt F. A. Lange, der Geschichtsschreiber des Materialismus: nach Kants Kritik sei dieser eigentlich ein Anachronismus. So preist Schopenhauer die kritische Philosophie: sie habe die große Wahrheit zur Geltung ge= bracht: kein Objekt ohne Subjekt; das absurde Beginnen des Materia= lismus bestehe aber eben in dem Versuch, das Subjekt erst aus dem Objekt abzuleiten.

Ich halte diese Betrachtung für durchaus wahr, will aber an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, sondern dies der erkenntnistheoretischen Betrachtung des zweiten Buchs vorbehalten. Hier bemerke ich nur: der materialistischen Metaphysik wird durch die Besinnung auf das Wesen unserer sinnlichen Erkenntnis ohne Zweifel definitiv ein Ende gemacht. Sie zeigt, daß die Körper, weit entfernt, das einzige absolut Wirkliche zu sein, überhaupt keine absolute Wirklichkeit haben; Körpern kommt nur eine relative Existenz zu, nämlich die Existenz von Erscheinungen für ein so organisiertes Subjekt. Ihr ganzes Wesen ist Wahrnehmungsinhalt; ein Körper ist weiß oder schwarz, weich oder hart, hat Gestalt und Ausdehnung, nimmt einen Raum ein und leistet dem Eindringen in diesen Raum Widerstand, alle diese Bestimmungen kommen ihm zu mit Beziehung auf ein Subjekt mit solcher Sinnlichkeit und Intelligenz: ohne Zunge kein Geschmack, ohne Auge kein Licht und keine Farbe, ohne Sinnlichkeit und Verstand kein Raum und kein Körper, ohne Subjekt kein Objekt. Das ist ein Gedanke, von dessen Wahrheit jeder, der diesen Dingen nachdenkt, sich überzeugen muß. Schopenhauer spißt ihn einmal in Form eines Gesprächs zwischen dem Subjekt und der Materie in folgender Weise zu. Die Materie spricht: „ich bin und außer mir ist nichts. Die Welt ist meine vorübergehende Form. Du bist ein bloßes Resultat eines Teils dieser Form und durchaus zufällig. —- Noch wenige Augenblicke, und du bist nicht mehr. Ich aber bleibe von Jahrtausend zu Jahrtausend." Worauf

das Subjekt: „Diese unendliche Zeit, welche zu dauern du dich rühmst, ist, wie der unendliche Raum, den du füllst, bloß in meiner Vorstellung, in der du dich darstellst, die dich aufnimmt, wodurch du zu allererst bist.“ *)

Indessen halte ich es nicht für zweckmäßig, die Widerlegung der materialistischen Weltanschauung wesentlich oder allein der erkenntnistheoretischen Reflexion zu überlassen. Eine Betrachtung, wie die oben angeführte, ist wohl geeignet zu überraschen und vielleicht zu erschüttern, aber nicht so leicht wird es ihr gelingen, eine dauernde Überzeugung zu begründen. Wem sie zum erstenmal begegnet, der wird leicht die Empfindung haben, als sei er nur überrumpelt worden: sagen freilich lasse sich das, und vielleicht sei es schwer oder unmöglich, die Rede zu widerlegen; aber wahr sei sie darum doch nicht. Sondern wahr bleibe es doch, daß die Welt vor mir und meiner Vorstellung war, daß Sonne, Mond und Sterne nebst der Erde vorhanden waren, ehe ein Auge da war, sie zu sehen. Sobald der Blick der Anschauungswelt sich wieder zuwendet, kehrt mit überwältigender Macht der Glaube zurück, daß sie, die solide Körperwelt, doch eben die Wirklichkeit ist und ihrem Dasein nach von dem vorstellenden Subjekt nicht abhängt. Wie Antäus bei der Berührung mit der Erde, so gewinnt der Materialismus bei der Berührung mit der Anschauung seine Kraft wieder. Es mag das immerhin eine Schwäche des gesunden Menschenverstandes sein, dem beim abstrakten Denken der Atem ausgeht, und Meynert mag Recht haben, wenn er findet, es sei eines der „unbedingtesten Reaktionsmittel auf die Denkfähigkeit eines Menschen, ob er die Unwirklichkeit der Welt in den Formen, wie sie durch unsere Gehirnthätigkeit geschaffen werde, begreifen könne oder nicht“.**) Dennoch wird, wer eine wirkliche Überzeugung von der Unzulänglichkeit der materialistischen Wirklichkeitstheorie hervorbringen will, nicht gut thun, bei erkenntnistheoretischen Erwägungen stehen zu bleiben. Auf dem Boden der Metaphysik oder der Naturphilosophie ist der Materialismus entstanden und einheimisch; hier muß ihn aufsuchen, wer ihn besiegen will. Auf diesen Boden wollen wir im folgenden uns stellen.

Die These des Materialismus ist also der Saz: auch die Bewußtseinsvorgänge sind Funktionen der Materie; sie lassen sich als Thätig

*) Welt und Wille als Vorstellung, Bd. II, 1. Kap.

**) Psychiatrie (1884) S. 170.

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