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3. Über die praktischen Konsequenzen des Materialismus. Einer Prüfung des theoretischen Werts der soeben dargelegten Ansicht schicke ich ein paar allgemeine Bemerkungen vorauf.

Zuerst ein Wort über die Neigung des Materialismus, das Geistige herabzusehen und mit einer gewissen Geringschäßung als einen unerheblichen und unwesentlichen Nebenerfolg des Naturlaufs anzusehen.

Dem gegenüber wäre zu sagen: wie groß oder wie klein die Rolle sein mag, die das, was wir geistiges Leben nennen, im Universum spielt, für uns ist es auf jeden Fall das Einzige, was dieser Wirklichkeit Bedeutung und Wert giebt. Stellen wir uns eine Welt vor ohne jene dem Anschein nach so geringfügigen Vorgänge des Empfindens und Denkens, des Wollens und Fühlens, eine Welt, von der nichts zu sagen wäre, als was Astronomie und Physik von ihr zu sagen wissen. Und stellen wir uns nun weiter vor, wir würden von außerweltlichen Räumen her in diese Welt von lauter seelenlosen

Publikum gekauft und gelesen, auch in 13 fremde Sprachen überseßt und hier wiederum in zahlreichen Auflagen gekauft und gelesen worden ist. Es kann hiernach jedenfalls den Anspruch erheben, zu den für die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts charakteristischen Erscheinungen gerechnet zu werden; denn eine Zeit wird mehr durch die Bücher gekennzeichnet, die sie lieft, als die sie schreibt. In seiner Jugend hatte das Buch seinen eigentlichen Verbreitungsbezirk in dem gebildeten, mit der Kirche und ihrem Bekenntnis zerfallenen Mittelstande; jezt ist es längst in die niederen Gesellschaftsschichten gedrungen, es gehört jest zum Handwerkszeug sozialdemokratischer Wanderprediger. Fragt man sich, welchen Vorzügen das Buch seine große Verbreitung und Wirksamkeit verdankt, so wird man auf zwei Stücke kommen: es bietet erstens eine Menge in populärer Form mitgeteilter naturwissenschaftlicher Kenntnisse, zweitens Verachtung der Kirche, der Theologie und des Bekenntnisses. Für jene ist der Leser, wie billig, dankbar, und diese erwirbt dem Verfasser Vertrauen und Sympathie: er erscheint als Vorkämpfer der ehrlichen Leute in dem guten Kampf gegen Lüge, Verdummung, Unfreiheit und Unrecht. Eine höchst nachdenkliche Thatsache für jedermann, er mag nun selbst zur Kirche und Religion stehen wie er will. In derselben Absicht ist ein jüngeres, nicht minder erfolgreiches Werk geeignet, das Nachdenken zu erregen: Max Nordau, Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit. (13. Aufl. 1889.) Auch dies Buch ist weder nach Inhalt noch Form irgendwie hervorragend; sein Inhalt ist nichts als die hundertmal wiederholte Versicherung, daß unser ganzes Leben und Denken Lüge ist. Aber gerade dieser Umstand wird es einmal einer hoffentlich glücklicheren Zukunft so rätselhaft machen: woher denn seine Anziehungskraft? Drückte es wirklich das Selbstbewußtsein dieser Zeit aus?

Körpern hineingeführt, und nun gesellte sich zu uns ein mathematischer Physiker und finge an uns diese Welt zu demonstrieren; die Weltkörper mit ihren Massen und Formen und Bewegungen, die geologischen und meteorologischen Vorgänge, die auf jedem sich abspielten, die allmähliche Gestaltung der Oberfläche durch unterirdische und oberirdische Kräfte: so würden wir wohl eine gute Weile mit Interesse alledem zuhören und zusehen. Wenn aber jener kosmische Physiker nur immer fortführe, neue Sonnensysteme vorzunehmen und auf dieselbe Art uns zu demonstrieren, dann würde sich einige Ungeduld unserer bemächtigen und wir würden fragen: aber wozu ist denn dies alles? was bedeutet dieses Spiel geballter Massen? Und wenn unser Führer uns dann fragend ansähe: „Wozu? ich verstehe die Frage nicht; das ist die Wirklichkeit selbst und weiter ist überall nichts von ihr zu berichten"; so würden wir uns verwirrt und enttäuscht ab= wenden und sagen: wenn das wirklich alles ist, was von der Wirklichkeit zu sagen ist, wenn kein Sinn in dem Ganzen ist, außer der mathematischen Geseßmäßigkeit, nun, so haben wir genug von ihr gesehen; wir meinten, jezt solle die Sache erst kommen. Und wenn unter uns ein materialistischer Philosoph wäre, so würde auch er sich nicht anders verhalten. Auch sein Interesse an der Welt hängt schließlich daran, daß in ihr jene Gehirnphänomene mit ihrem subjektiven Reflex sich finden und zu dem erstaunlichen Vorgang zusammenschließen, den wir geistiges und geschichtliches Leben nennen. In praxi natürlich durchaus, auch er betrachtet praktisch alle Dinge als Werkzeuge und Darstellungsmittel des Geistes; auch ihm ist der Leib Organ und Symbol der Seele; auch ihm liegen alle Zwecke im geistig= geschichtlichen Leben. Aber auch rein theoretisch ist ihm der Geist der Mittelpunkt der Dinge; er mag demonstrieren, daß das Auftauchen des Geistes ein verschwindendes Moment in der kosmischen Entwickelung ist; fehlte dieses Moment, so wären auch ihm die Weltkörper nicht wichtiger, als die Sandkörner, mit denen am Strande des Meeres Wind und Wellen ihr Spiel treiben.

Wie sehr der Geist dem Geist das Interessante an der Welt ist, das tritt in der Verteilung der wissenschaftlichen Arbeit an die beiden Seiten der Wirklichkeit, die Natur und die Geschichte, greifbar zu Tage. Wenn man aus unsern großen Bibliotheken alles aussonderte,

was sich auf das geistig-geschichtliche Leben des Menschen bezieht, alles, was zur Geschichte und Philologie, zur Politik und Moral, zur Theologie und Philosophie, zur Gesellschafts- und Rechtswissenschaft, zur Medizin und Technik gehört, es würde ein sehr bescheidener Rest bleiben. Oder man streiche aus unsern großen vielbändigen Encyklopädien und Konversationslericis dieselben Artikel und behalte nur, was sich auf Astronomie und Physik, Chemie und Mineralogie bezieht: der Rest wird in ein dünnes Bändchen gehen. Und schwerlich wird hierin jemals eine Änderung eintreten. Dem Menschengeist wird immer der Menschengeist das unmittelbar Bedeutende an der Wirklichfeit bleiben.

Eine zweite Bemerkung widme ich der Frage nach den Folgen des Materialismus für Moral und Lebensführung. Es ist eine weit verbreitete Ansicht, daß der Materialismus moralisch gefährliche Folgen habe. Mit der Religion zerstöre er auch die Sittlichkeit und den Glauben an Ideale. Seine praktische Konsequenz sei: die Tugend ist ein leerer Wahn, das Gewissen eine Grille, und das Sittengeseß eine Erfindung der Pfaffen; die wahre Lebensweisheit ist: das Leben genießen, und an sich bringen, was man kriegen kann.

Ich glaube nicht, daß man dieser Ansicht beitreten kann, wenigstens nicht in dieser Form. Die Lebensführung eines Mannes wird nicht durch metaphysische Vorstellungen über die Natur des Wirklichen, sondern wesentlich durch Naturtriebe und Charakter, Erziehung und Lebenslage bestimmt. Besteht dennoch ein Zusammenhang zwischen dem theoretischen und dem, was man praktischen Materialismus nennt, so wird er nicht dadurch zustande kommen, daß die Metaphysik das Leben, sondern dadurch, daß das Leben die Metaphysik bestimmt. Ein leeres und gemeines Leben hat die Tendenz, zunächst eine nihilistische Lebensanschauung hervorzubringen; ihre Züge sind: niedrige Schäßung des Lebens und seiner Bestimmung, Verkennung und Verspottung der edleren Seiten der Menschennatur, Verlust der Ehrfurcht vor sittlicher und geistiger Größe, Unglaube und Hohn für alle idealen Bestrebungen. Und eine solche nihilistische Auffassung des Lebens hat dann allerdings eine natürliche Hinneigung zu einer materialistischen Weltanschauung; sie wird sich gern an das „Ergebnis der Wissenschaft“ anlehnen, daß die Welt, wie die Geschichte, ein Spiel sinnlosen Zufalls sei; blinde

Kräfte führten die Atome zusammen, um sie im nächsten Augenblick ebenso gleichgültig wieder zu zerstreuen. Umgekehrt hat ein tüchtiges und rechtschaffenes, ein gutes und großes Leben eine natürliche Hinneigung zu einer idealistischen Metaphysik; es findet Erhebung und Ruhe in einer Weltanschauung, welche seine höchsten Ziele und Ideale als die Kräfte darstellt, in denen die Wirklichkeit selbst gegründet ist. Die Vermittelung geht auch hier durch das geistig-geschichtliche Leben: aus dem Streben nach großen Zielen erwächst der Glaube an die Herrschaft der Ideen, an das Walten einer Vorsehung im geschichtlichen Leben der Menschheit, und dieser Glaube gewinnt sich in der Vorstellung, daß die Wirklichkeit überhaupt in Ideen gegründet, daß die Welt Gottes Werk sei, einen theoretischen Unterbau.

Nicht überall seßen sich diese Tendenzen durch; es giebt rechtschaffene Leute genug, die bei einer materialistischen Metaphysik stehen bleiben, und es giebt umgekehrt Leute, die troß einem idealistischphilosophischen oder kirchlichen Glaubensbekenntnis, nicht bloß der Lippen, sondern auch des Verstandes, in ihrem Leben niedrigen, sinnlich-egoistischen Motiven folgen. Aber doch ist es so: die großen Formen der Lebensrichtung haben eine Neigung, sich in der angedeuteten Weise mit den großen Formen der Vorstellungswelt zu umgeben. Aus den tiefsten Erfahrungen seines Eigenlebens versucht ein jeder, so gut er vermag, Sinn und Bedeutung des Lebens und der Wirklichkeit überhaupt zu deuten.

Freilich, es findet dann auch eine Rückwirkung der Weltvorstellung auf die Lebensanschauung statt. Der Wille wird dadurch seiner selbst sicherer, daß er mit einer zusammenstimmenden Vorstellungswelt sich umgiebt. Und vor allem kann eine große und plötzliche Wandlung in der Vorstellungswelt einen erheblichen Einfluß auf die Lebensgestaltung üben. Ein junger Mann, dem Schule und Elternhaus die Vorstellungen der Kirchenlehre eingeprägt haben, tritt in eine neue Umgebung. In der Fabrik, in der Handlung, auf der Schule oder Universität kommt er mit aufgeklärten Kameraden in Berührung, er lernt die populär-wissenschaftliche Litteratur kennen, worin Natur und Geschichte vom Standpunkt der Feindschaft gegen Aberglauben und Pfaffentum behandelt wird. Und nun fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: das ist ja alles Schwindel, was man mir als Kind ins

Hirn gepflanzt hat; die Welt ist von Ewigkeit her, der Mensch ist nichts anderes, als eine besonders entwickelte Tierart, die Sittengesehe und das Jenseits sind eine Erfindung der Pfaffen, die Dummen zu schrecken. Ein solcher Umsturz in der Vorstellungswelt wird denn freilich nicht ohne Rückwirkung auf das Leben bleiben. Der neue Aufgeklärte wird nun weiter philosophieren: da es keinen Gott und fein Jenseits giebt, so kann ich also thun und lassen, was mich gelüstet; erlaubt ist, was gefällt. Jene Leute, die so sehr dafür sind, daß dem „Volk“ die Religion erhalten werde, halten es für ihre Person ja auch nicht anders. — Und nun beginnt er, anfangs vielleicht nicht ohne inneres Widerstreben, zu thun, was durch Religion und Moral verboten war; die Niedertretung ererbter Sitte und die Verachtung des Gewissens wird ihm zum stolzen Zeichen der Freiheit und Aufklärung.

Daß dieser Vorgang wirklich stattfindet, ist gar nicht zweifelhaft, er trägt sich alle Tage um uns her in tausendfältiger Wiederholung zu. Vielleicht giebt es in unserer Zeit selten ein Leben, dem ein der= artiges Räsonnement ganz fremd bliebe. Aber, und das ist nun weiter hinzuzufügen, damit wird es nicht wahr. Die Verwerfung des Sittengesetzes ist nicht die logische Konsequenz einer materialistischen Wirklichkeitstheorie, sondern vielmehr die Folge einer falschen Vorstellung von der Natur des Sittengesetes, der Vorstellung nämlich, an der unser Unterricht nicht unschuldig ist, daß das Sittengesez nichts sei als eine Summe von willkürlichen Geboten und Verboten, mit denen ein überirdischer Willkürherrscher uns beschwert habe. Bei dieser Vorstellung fällt dann freilich mit dem Glauben an das Dasein eines solchen Willkürherrschers auch die Bedeutung seiner angeblichen Gebote. Aber diese Vorstellung ist falsch; das Sittengeseß ist nicht unserer Natur fremd; es ist uns nicht, wie am Anfang des Jahrhunderts den Völkern Europas die Kontinentalsperre, von einem Gewaltherrscher auferlegt, zu tausend Gütern und Freuden den Zugang wehrend; es ist vielmehr das Gesez unseres Wesens selbst. Die Geseze der Moral sind Naturgeseze. Man mag ihnen eine transcendente Bedeutung beilegen oder nicht, zunächst sind sie auf jeden Fall Naturgeseze des menschlichen Lebens in dem Sinne, daß sie die Bedingungen seiner Gesundheit und Wohlfahrt darstellen. Nach dem natürlichen Laufe der Dinge bringt ihre Übertretung über Völker und Einzelne Unheil und Verderben, während ihre Befolgung Wohlfahrt und Frieden mit sich führt.

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