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Zweites Buch. Die Probleme der Erkenntnistheorie.

Einleitendes.

Erstes Kapitel. Das Problem des Wesens oder das Verhältnis der Erkenntnis zur Wirklichkeit.

1. Die idealistische Gedankenreihe

354

2. Wiederherstellung der realistischen Auffassung für die Innenwelt 3. Die Erkenntnis der Außenwelt .

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Zweites Kapitel. Das Problem des Ursprungs
der Erkenntnis.

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Einleitung.

Wesen und Bedeutung der Philosophie.

Es gab eine Zeit, und sie liegt noch nicht so gar weit hinter uns, wo die Ansicht weit verbreitet war, Philosophie sei eine Sache, die sich überlebt habe; an ihre Stelle seien die positiven Wissenschaften getreten. Als eine Art Vorstufe der wissenschaftlichen Erkenntnis möge sie ihre Zeit und ihr Recht gehabt haben; jezt dagegen seien jene Versuche, durch allgemeine Spekulationen zur Erkenntnis der Welt und der Dinge zu gelangen, überlebt und abgethan. Nur als ein unschädliches Spiel für unfruchtbare, zu eigentlich wissenschaftlicher Arbeit nicht angelegte Köpfe möge sie noch eine Weile ein harmloses Dasein fristen, keineswegs aber könne die Beschäftigung mit ihr Allen, die auf wissenschaftliche Bildung Anspruch machen, als Pflicht zuge= mutet werden.

Es kann hier unerörtert bleiben, ob die Philosophie an dieser Mißachtung, der sie um die Mitte des Jahrhunderts verfallen war, selbst einige Schuld hatte. Es ist a priori wahrscheinlich. Nirgends war die Geringschäßung härter als in Deutschland; sie trat hier ein in zeitlicher Folge auf die Herrschaft der spekulativen Philosophie; es liegt nahe, einen ursächlichen Zusammenhang zu vermuten und in der Verachtung aller Philosophie die Reaktion gegen die Selbstüberhebung zu erblicken, mit der die spekulative Philosophie und ihre Jünger die wissenschaftliche Forschung nicht minder als den gesunden Menschenverstand beleidigt hatten. Lange hatte sich der deutsche Leser durch harte Worte einschüchtern, durch trüben Tiefsinn imponieren und durch den Vorwurf der Seichtigkeit das, was er verstand, verdächtig machen lassen; endlich faßte er doch ein Herz und entschloß sich nun alles gering zu schäßen, was an jene peinlichen Erinnerungen

Paulsen, Einleitung. 6. Aufl.

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rührte. Hätte Hegel Kants Alter erreicht, so hätte er selber noch den Rückschlag erlebt. Statt seiner litten nun andere, wie Fechner und Loze, unter der Gleichgültigkeit, die sie nicht verschuldet und nicht verdient hatten.

Inzwischen ist eine neue Zeit herbeigekommen. Ist auch die Verachtung der Philosophie noch nicht ausgestorben, so darf man doch sagen, sie ist für das lehte Drittel des Jahrhunderts nicht mehr charakteristisch, wie sie es für das zweite war. Die Philosophie hat begonnen von der öffentlichen Geringschäßung sich zu erholen; sie gewinnt wieder die Teilnahme größerer Kreise; im besonderen ist auch ihr Verhältnis zur wissenschaftlichen Forschung wieder ein freundlicheres geworden.

Es kehrt damit der natürliche Zustand zurück. Denn in Wahrheit ist Philosophie so wenig eine Sache, die sich überlebt hat, oder die bloß einige leere und abstruse Köpfe angeht, daß sie vielmehr eine Angelegenheit aller Zeiten und aller Menschen ist. Ja, man kann sagen, Philosophie ist nicht eine Sache, die man haben oder auch nicht haben kann, auf gewisse Weise hat jeder Mensch, der sich über die Dumpfheit tierischen Dahinlebens erhebt, eine Philosophie. Es fragt sich bloß, was für eine, ob eine aus einigen zufälligen Wissensfragmenten und Gedankensplittern zusammengezimmerte, oder eine durchdachte und auf allseitiger Betrachtung der Wirklichkeit beruhende.

Was das intellektuelle Leben des Menschen von dem der Tiere unterscheidet, das ist die Fähigkeit zu theoretischer Betrachtung und die Richtung auf das Ganze. Das Tier sieht und hört, hat auch wohl Vorstellungen und Erinnerungen, aber es verweilt nicht dabei; sie kommen und gehen vereinzelt, wie es der Naturlauf fügt, sie haben ihre Bedeutung nur als Motive für den Willen. Im Menschen reißt sich die intellektuelle Thätigkeit vom Dienst des Bedürfnisses los; das theoretische Interesse erwacht; er sammelt und betrachtet die Elemente, welche die Wahrnehmung bietet, und kommt nicht zur Ruhe, bis er sie zu einer einheitlichen Gesamtanschauung der Dinge verknüpft und ergänzt hat. Die Technik läßt sich am Einzelwissen genügen; das theoretische Interesse ist auf das Ganze gerichtet. So entsteht Philosophie. Sie ist im allgemeinsten Sinne des Wortes nichts anderes, als der stets wiederholte Versuch, ein Ganzes von Vorstellungen

und Gedanken über Gestalt und Zusammenhang, über Sinn und Bedeutung aller Dinge zu gewinnen.

Es ist offenbar, daß in diesem Sinne jedes Volk und jeder Mensch, wenigstens jeder normal entwickelte Mensch Philosophie hat. Auch der einfache Mann aus dem Volke hat eine Philosophie; sein Katechismus mag ihm die Grundzüge dazu geliefert haben; er weiß eine Antwort auf die Frage nach Ursprung und Bestimmung der Welt und des Menschenlebens. In diesem Sinne haben auch die Naturvölker eine Philosophie; auch der Indianer und Neuseeländer hatte sich eine Vorstellung von dem Weltganzen und seinem räumlichen Aufbau gemacht, er wußte eine Antwort auf die Frage nach dem Woher und Wohin der Dinge und sah zwischen den kosmischen Begebenheiten und dem menschlichen Leben einen sinnvollen Zusammenhang.

In diesem Sinne ist also Philosophie eine allgemein menschliche Funktion. So weit es geistiges Leben giebt, so weit giebt es auch Philosophie.

1. Das Verhältnis der Philosophie zur Religion und Mythologie.

Der übliche Sprachgebrauch faßt nun freilich den Begriff der Philosophie enger. Wir pflegen nicht mehr, wie es früherem Sprachgebrauch allerdings geläufig war, von einer Geschichte der Philosophie vor der Sündflut zu reden; auch nennen wir den Inhalt des Katechismus oder die Vorstellungen der Naturvölker vom Weltganzen nicht Philosophie, sondern unterscheiden sie von dieser als Mythologie oder Religion. Natürlich ist es nicht meine Absicht, diese Unterscheidung aufzuheben oder zu verwischen; vielmehr will ich versuchen, sie zu definieren und dadurch auch das Wesen der Philosophie näher zu be= stimmen.

In zwei Stücke läßt sich der Unterschied fassen, es ist ein Unterschied des Subjekts und der Funktion. Was den ersten Unterschied anlangt, so ist Subjekt oder Träger der mythologischen Weltvorstellung der Gesamtgeist, der Philosophie der Einzelgeist. Wo wir immer von Philosophie reden, da ist sie das Erzeugnis individueller Geistesarbeit; es giebt keine Philosophie ohne einen Philosophen; darum wird sie nach seinem Namen genannt: platonische, spinozistische, kantische Philo

sophie. Mythologie dagegen geht, wie Sage und Sprache, nicht aus bewußter Arbeit eines Einzelnen hervor, sondern ist ein Erzeugnis des Gesamtgeistes. Wie es keinen Erfinder der Sprache giebt, so auch nicht der ursprünglichen mythisch-religiösen Weltanschauung, die übrigens in ihrem Ursprung mit Sprache und Dichtung aufs engste zusammenhängt. Von einem Stifter der ägyptischen oder der griechischen Religion redet in unserem Jahrhundert niemand mehr. Die christliche oder die muhammedanische Religion hat einen Stifter; aber hier handelt es sich nicht um die ursprüngliche Hervorbringung einer vorher nicht vorhandenen Vorstellungswelt, sondern nur_um_eine Umbildung, die übrigens weniger auf die theoretische, als auf die praktische Seite geht.

Der Verschiedenheit des Subjekts entspricht die Verschiedenheit der Funktion. Philosophie wird durch die Arbeit des forschenden und denkenden Verstandes hervorgebracht; die mythisch-religiöse Weltanschauung ist ein Erzeugnis der dichterischen Phantasie, welche die gegebenen Anschauungen kombiniert, ergänzt und aus der Beziehung zu einer von ihr geschaffenen transcendenten Welt deutet. Alle Ereignisse am Himmel und auf der Erde werden, wenn auch nicht in systematischer Durchführung, so doch gelegentlich als Willensbethätigungen jenseitiger Mächte aufgefaßt, die zu dem Ich in freundlicher oder feindlicher Beziehung stehen, Förderung oder Hemmung seiner Zwecke verheißen. Alle Erklärung der Dinge hat die Form der Deutung des Warum und Wozu.

Die Philosophie dagegen beginnt mit der verstandes mäßigen Auffassung, die dadurch charakterisiert ist, daß sie die Dinge nimmt, wie sie sind. In erster Linie auf die Frage nach dem Was und Wie, statt der Frage nach dem Wozu gerichtet, sucht sie zunächst die Erscheinungen als solche und ihre Beziehungen in Raum und Zeit festzustellen. Auf diesem Wege gelangt sie zur Erkenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge und mit ihrer Hilfe versucht sie dann mit fortschreitender Vollkommenheit die Konstruktion der Dinge im Großen. Das ist das wissenschaftliche Verfahren. Philosophie ist ursprünglich gar nichts anderes als wissenschaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit, im Unterschied oder im Gegensah zur mythisch-religiösen Weltvorstellung.

Damit ist gegeben, daß die Form, in der Philosophie und mythisch

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