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oder einer geistig-geschichtlichen Entwickelung zeigen und faßlich machen. In der Deutung des Wertes der Wirklichkeit hat auch die Religion ihr Wesen, und darum ist sie mit Kunst und Dichtung aufs engste verknüpft, wie es denn auch die Anthropologie überall zeigt. Künstlerischreligiöse Deutung und wissenschaftliche Erklärung bilden demnach einen Gegensah, aber nicht einen ausschließenden. Diese wendet sich an den Verstand, sie will die Wirklichkeit ohne Rücksicht auf subjektive Wertunterschiede unter allgemeine Begriffe und Formeln fassen. Jene dagegen wendet sich an die Willensseite, an das Gefühl, sie will die Wertbeziehungen zunächst im Menschenleben, sodann in der Wirklichkeit überhaupt zur Empfindung bringen, sie will Ziele und Ideale zeigen, die als Maßstäbe das Werturteil, als Motive den Willen leiten, und als beglückender Inhalt das Gemüt erfüllen. Eben diese Verschiedenheit der Aufgaben weist sie nicht auf feindlichen Gegensaß, sondern auf friedliche Ergänzung hin.

Wir berühren uns hier mit dem, was A. Lange in dem Schlußkapitel der Geschichte des Materialismus über die zulässige und unvermeidliche Idealisierung der Wirklichkeit sagt. Nicht das ist die Meinung, daß es ratsam und zulässig sei, sich etwas vorzumachen und die Wirklichkeit gleichsam umzufügen. Die Fertigkeit, nicht zu sehen, was ist, und zu sehen, was nicht ist, so häufig sie sich findet, vor allem auch bei Politikern und Gesetzgebern, staatlichen wie kirchlichen, ist doch nicht eben unter die menschlichen Vollkommenheiten zu rechnen. Dagegen ist es für einen Menschen, sofern er nicht bloß einen Kopf, sondern auch ein Herz hat, unvermeidlich, daß er zu dem Wirklichen sich auswählend und wertschäßend verhält, und wiederum, daß er in dem, was er erwählt hat, das Wesentliche und eigentlich Wirkliche sieht. So halten wir es mit der Auffassung einer Person, das Herz sagt uns, was sie eigentlich und ihrem wahren Wesen nach sei; so halten wir es mit einem Volk, so halten wir es mit den Dingen überhaupt. Wir idealisieren sie, indem die Liebe die Züge auswählt, durch die wir ihr Wesen bestimmen. Und nun erscheint uns dies Wesen oder die innere Form, mit Aristoteles zu reden, zugleich als Ziel und bewegende Ursache der Entstehung und Bethätigung; es bewegt aber, indem es Verlangen erregt (vet s ἐρώμενον).

8. Pantheismus und Weltseele.

Wir kommen nun auf die oben gestellte Frage zurück: ist alles Streben und Wollen, wie es in den tausend Formen der Wirklichkeit vielgestaltig uns entgegentritt, zuleht zur Einheit eines Wesens und Willens zusammengefaßt? entspricht der Einheit der physischen Welt in universeller Wechselwirkung eine Einheit des Innenlebens, in dessen Selbstbewegung und Selbstverwirklichung alles einzelne Leben und Streben beschlossen ist? Die Bejahung dieser Frage ergiebt die kos= mologische Hypothese des idealistischen Pantheismus. Ich fasse ihre allgemeinsten Grundzüge in ein paar Formeln zusammen.

1) Die Wirklichkeit ist ein einheitliches Wesen; die Einzeldinge haben nicht absolute Selbständigkeit, sie haben Dasein und Wesen in dem All-Einen, dem ens realissimum et perfectissimum, dessen mehr oder minder selbständige Glieder sie sind. In Spinozas Formel: die Wirklichkeit ist eine Substanz, die Dinge sind in ihr gesezte Modifikationen ihres Wesens.

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2) Das Wesen des All-Einen offenbart sich uns, so weit es überhaupt offenbar wird, in den beiden Seiten der Wirklichkeit, der Natur und der Geschichte. — In Spinozas Formel: die Substanz entwickelt sich uns faßbar unter zwei Attributen, dem der Ausdehnung und dem des Bewußtseins. Welcher Saß dann durch erkenntnistheoretische Reflexion dahin umgebogen wird, daß die geistige Welt das eigentlich und an sich Seiende, die Körperwelt aber seine Erscheinung und Darstellung in unserer Sinnlichkeit ist.

3) Die universelle Wechselwirkung in der Körperwelt ist die Erscheinung der inneren, ästhetisch-teleologisch en Notwendigkeit, mit der das All-Eine seinen Wesensgehalt in einer Vielheit von zusammenstimmenden Modifikationen, in einem Kosmos konkreter Ideen (Monaden, Entelechien) entfaltet. Diese innere Notwendigkeit ist zugleich absolute Freiheit oder Selbstverwirklichung. Bei Spinoza:

die Substanz ist causa sui oder causa libera; sie entfaltet ihr Wesen mit innerer (Spinoza sagt, logisch-mathematischer) Notwendigkeit.

Ist diese Anschauung begründet? Man wird nach allem, was vorausgegangen ist, nicht erwarten, daß ich sie nun noch durch Beweise, die den Verstand zwingen, zu begründen unternehme. Worum es sich allein handeln kann, das ist zu zeigen, daß, wer den Andeutungen der Paulsen, Einleitung. 6. Aufl.

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Dinge aufmerksam und offenen Sinnes nachgeht und dem Eindruck der Wirklichkeit unbefangen sich hingiebt, auf solche lezte Gedanken geführt wird.

Ich erinnere an die Ausgangspunkte der in den vorausgehenden Abschnitten angedeuteten Betrachtungen: an die Einheit der physischen Welt in universeller Wechselwirkung und allgemeiner Gesetzmäßigkeit; an die Spontaneität in der Zusammenstimmung aller Teile, es giebt keine Notwendigkeit in der Natur. Ferner an die Unabhängkeit der Wirklichkeit als eines Ganzen von äußerer Gewalt; ihre Bewegung kann nur als spontane Bewegung von innen heraus konstruiert werden, es giebt keine Kraft außerhalb der Wirklichkeit, von der sie ihr durch Stoß mitgeteilt sein könnte. Ich erinnere an die Doppelgestalt, in der das Wirkliche da, wo es uns am meisten aufgeschlossen ist, nämlich in dem eigenen Wesen, uns entgegen tritt, als Leib und Seele, und die daraus fließende Vermutung, daß Körperlichkeit überall Hinweisung auf eine begleitende Innerlichkeit sei. Ich erinnere endlich an die „Zielstrebigkeit", die uns in dem kleinen Bruchstück der Wirklichkeit entgegen= tritt, von dem wir etwas mehr als eine bloß astronomische Kenntnis haben; man thut den Thatsachen nicht Gewalt an, wenn man sie mit der spekulativen Philosophie, die übrigens darin nur den Spuren der allgemeinen Anschauung folgt, so konstruiert: die Entwickelung der Erde strebt zum Leben, das Leben zum Bewußtsein, das Bewußtsein zum Geist, das geistig-geschichtliche Leben ist Zweckmittelpunkt des Erdendaseins, also, wenn der Schluß vom Teil aufs Ganze gilt: ein höchstes geistiges Leben ist Zweckmittelpunkt des Daseins überhaupt. Wollte aber jemand hiergegen einwenden: nicht einmal auf Erden sei, so viel wir sähen, das geistige Leben das Ziel und das bleibende Gut; vielmehr könne es nur als ein kleiner, bald verschwindender Zwischenfall angesehen werden, denn des Aufhören des Lebens und des Geistes sei die unentrinnbare Folge der kosmischen Situation, so würde uns das nicht irre machen. Wenn es so wäre, so würden wir sagen: Blüte und Leben einer Pflanze geht auch vorüber, während der Stoff sich erhält; das hindert uns nicht, im Leben und Blühen ihr Ziel zu sehen. So mag die Erde auch einmal verblühen und sterben, doch war Leben, geistiges Leben, das Ziel der Entwickelung. Und es geht ja nicht verloren damit, daß es zu einem Ende kommt; das Wirkliche wird nicht

vernichtet dadurch, daß es in die Vergangenheit übergeht; das Vergangene bleibt vielmehr ein ewiger Bestandteil der Wirklichkeit, deren Sein ja nicht in dem Augenblick der Gegenwart eingeschlossen ist. Übrigens, was wissen wir von den Schicksalen, die der Erde und dem. Sonnensystem bevorstehen? Sie mögen in größere Kreise hineingezogen werden und zu größerer Zukunft berufen sein, als sich unsere kosmischen Physiker heute träumen lassen. Giebt es keinen Urzustand für die Wirklichkeit, sondern nur einen leßten Punkt für unsere Forschung, so wird es mit dem Endzustand nicht anders stehen; die Grenze unseres Wizes ist nicht die Grenze der Wirklichkeit. Die Eintagsfliege mag, wenn die Sonne untergeht und ihr Leben mit der hereinbrechenden Nacht endet, denken: nun ist alles aus; das Licht erlischt für immer, und die ganze Welt versinkt in Finsternis und Erstarrung. Der Mensch, der so viele Sonnen sinken und wieder aufgehen sah, sollte gelernt haben zu glauben, daß im Unendlichen Rat und Möglichkeit zu manchen Dingen ist, die er nicht sieht.

Dürfen wir nun, solche Betrachtungen alle in einem letzten Gedanken zusammenschließend, sagen: was wir im kleinen im Eigenleben sehen, was wir im Leben der Erde noch zu erkennen glauben, das gilt von der Wirklichkeit überhaupt, sie hat ihr Ziel und Wesen in einem Allleben, einem unendlichen und ewigen geistigen Leben, dessen Fülle alle unsere Begriffe unendlich weit hinter sich läßt, von dessen Wesen wir aber doch im Wesen des eigenen Geistes einen Schimmer haben?

Ich meine, wir dürfen es, und dürfen dazu sagen: es giebt keine Ansicht, die uns die Wirklichkeit einfacher und einleuchtender zu konstruieren gestattete. Vor allem wird allein bei dieser Ansicht die Thatsache, um deren Einordnung in die Wirklichkeit es sich bei aller Philosophie denn doch eigentlich handelt, die Thatsache des Lebens, konstruierbar; das seelisch-geistige Leben erhält erst hierdurch die zu ihm stimmende Umgebung; sein Ursprung und sein Dasein in der Gesamtwirklichkeit wird erst bei dieser Ansicht faßbar. Bei der Ansicht des atomistischen Materialismus erscheint das geistige Leben als eine seltsame Anomalie in der Wirklichkeit; man kann es nicht beseitigen, seine Wirklichkeit ist ja unbestreitbar, aber es stört die Theorie; wenn es nicht wäre, dann würde die Erklärung des Universums glatt aufgehen; so bleibt ein

unbequemer Rest, und manche sind so aufrichtig mit Du Bois-Reymond zu gestehen: Seele, Bewußtsein, Geist seien bei ihrer Weltansicht ein „absolutes Welträtsel“. Bei unserer Ansicht dagegen darf der Geist sich heimisch fühlen in der Wirklichkeit, darf sich fühlen als Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem Bein. Ich glaube nicht, daß es einen stärkeren Beweis gegen die zulänglichkeit einer Weltansicht geben kann, als das sie das Dasein des Geistes für etwas absolut Rätselhaftes zu erklären genötigt ist. Und andererseits wüßte ich nicht, was es für den Menschengeist für einen überzeugenderen Beweis für die Wahrheit einer Weltansicht geben könnte, als daß er dabei sich selbst in der Wirklichkeit gleichsam wie zu Hause zu fühlen vermag.

Daß dieser Anschauung thatsächlich eine überzeugende Kraft inne wohnt, wie keiner anderen, dafür giebt die erstaunliche Einmütigkeit Zeugnis, mit der in ihr das menschliche Denken, wenn wir von einigen philosophierenden Physikern absehen, den lezten und abschließenden Ausdruck für das Ganze der Dinge gefunden hat. Im Morgenland wie im Abendland, im Altertum wie in der Neuzeit, konvergieren die Gedanken der freiesten und tiefsten Denker gegen dieses Ziel. In einem idealistischen Pantheismus ist das Nachdenken der großen Kulturvölker des Ostens über die Welt zur Ruhe gekommen. In einer verwandten Gedankenbildung hat auch der griechische Geist in der platonischaristotelischen Philosophie seine Weltformel gefunden: die Wirklichkeit ein einheitliches Wesen, eine absolute Einheit alles Geistigen und Guten. Zu dieser Anschauung wird auch das mittelalterliche Denken, fast kann man sagen, wider Willen hingezogen. Zu ihr kehrt endlich das moderne Denken, wo es am freiesten und kühnsten sich entfaltet, jeder Zeit wieder zurück. . Bruno und Spinoza werden ihr durch die neuen kosmologischnaturwissenschaftlichen Gedanken, die spekulative Philosophie der Deutschen durch die neue Auffassungsweise des geschichtlichen Lebens zugeführt: die Wirklichkeit ein einheitliches Geistesleben, dessen uns sichtbares Stück die Entwickelung des Seelenlebens und zuhöchst des menschlich-geschicht= lichen Lebens auf Erden ist.

Zur Zeit der Herrschaft der spekulativen Philosophie erblickte man in dieser Anschauung, in der die Wirklichkeit sich selbst als Geist erfaßt und begriffen habe, die absolute Wahrheit, und man zweifelte nicht

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