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gänzlich unabhängig von den übrigen Dasein und Wesen hat? Die Gleichförmigkeit könnte ihn auf eine andere Vorstellung leiten. Wenn man über ein Gebirgsthal zerstreut eine große Menge Gesteintrümmer fände, die alle völlig gleiche Beschaffenheit zeigten, dann würde man vermuten, es seien Bruchstücke eines ehemaligen Ganzen. Sollte in unserem Falle etwas Ähnliches gelten? Sollten die anscheinend selbständigen Teile der Welt nicht auch, nun freilich nicht Trümmer eines ehemaligen Ganzen, sondern lebendige Glieder eines seienden einheitlichen Wesens sein?

Loze zieht diese Folgerung. Wechselwirkung und Naturgesezmäßigkeit weisen darauf hin, daß die Elemente des Weltlaufs sich nicht so fremd und fern sind, als der Atomismus annimmt. Verständlich wird die universelle Rücksichtnahme aller auf alle im Grunde nur dann, wenn wir annehmen, sie alle sind Glieder eines einheitlichen Wesens, einer einzigen Substanz. Im organischen Körper kommen keine isolierten Veränderungen vor, jede Veränderung an einem Punkt fordert korrespondierende Veränderungen aller übrigen Teile. So ist auch die Welt ein einheitliches System, das nirgends isolierte Vorgänge zuläßt, jeder steht in Beziehung zu allen übrigen, ist die an diesem Punkt erforderte Teilveränderung zur Gesamtveränderung des Ganzen. Nennen wir das Ganze, das All-Eine, mit Spinoza Gott, so geschähe alle Wechselwirkung in Gott, indem die Bewegung an jedem Punkt seines Wesens mit der aller übrigen zusammenstimmte zur einheitlichen Gesamtbewegung.

So führt die Thatsache der universellen Wechselwirkung, wenn man ihr nachgeht und die Begriffe zu Ende denkt, auf den Gedanken der Einheit der Wirklichkeit: es giebt nur ein einheitliches Wesen, mit einer einheitlichen und in sich zusammenstimmenden Bethätigung; die einzelnen Dinge sind nur Momente seines Wesens, ihre durch Wechselwirkung bestimmten Bethätigungen sind in Wirklichkeit Ausschnitte aus einer einheitlichen Selbstbewegung der Substanz. Oder in Kantischer Redeweise: die allgemeine Wechselwirkung im mundus sensibilis ist unitas phaenomenon, der eine unitas noumenon der Substanz im mundus intelligibilis entspricht.

Dürfen wir nun, diese Betrachtung mit dem Ergebnis unserer ontologischen Erörterung, nach der alle Vorgänge in der Körperwelt

Paulsen, Einleitung. 6. Aufl.

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eben so viele Hinweise auf innere Vorgänge sind, verknüpfend, in der Einheit aller kosmischen Bewegungen durch Wechselwirkung eine Spiegelung der inneren Zusammenstimmung des einheitlichen Innenlebens eines geistigen All-Einen erblicken? Wir hätten dann die Anschauung, welche mit dem Namen Pantheismus bezeichnet wird; man kann sie auch Monotheismus im strengen Sinn des Worts nennen: Gott allein ist; alles was ist, ist durch Gott, und in Gott.

Ehe ich diese Frage zu beantworten versuche, gehe ich zuvor auf das Verhältnis von Kausalität und Finalität mit einigen Bemerkungen ein.

7. Kausalität und Finalität.

Es wurde schon oben (S. 168) bemerkt, daß die Ablehnung des anthropomorphischen Theismus und seiner Erklärung des Naturlaufs aus Absichten nicht gleichbedeutend sei mit der Ablehnung einer teleologischen Weltanschauung. Indem wir diese Betrachtung hier wieder aufnehmen, fragen wir zuerst: wodurch ist überhaupt ein Zusammenhang von Elementen als ein teleologischer charakterisiert? Das Wort selbst sagt: dadurch, daß ihre Anordnung oder Bewegung als auf ein Ziel (téλos) gerichtet sich darstellt. Als Ziel aber betrachten wir den Erfolg der Anordnung oder Bewegung dann, wenn ein Wille auf ihn gerichtet war, von dem sein Eintreten auch mit Befriedigung empfunden wird. Hinzuzufügen ist dabei erstens, daß der kausale Zusammenhang der Elemente nicht ausgeschlossen, sondern vorausgeseßt wird; jeder teleologische Zusammenhang ist zugleich ein kausaler. Zweitens, daß Absichtlichkeit in dem Begriff der Finalität nicht eingeschlossen ist; es ist nicht notwendig, daß das Ziel vorher in der Vorstellung ist, und daß die Bewegung nach einem fertigen Plan geschieht. Von einem geistvollen Naturforscher ist für diesen Begriff der Zweckmäßigkeit ohne Absicht die Bezeichnung Zielstrebigkeit gebildet worden.*)

Deutlich liegt das Wesen teleologischer Zusammenhänge in den Vorgängen des Innenlebens zu Tage, und hier ist ihr eigentlicher

*) K. E. v. Baer, Studien aus dem Gebiet der Naturwissenschaften (1876). In mehreren gedankenreichen Abhandlungen wird hier die Teleophobie“ der modernen Naturforschung bekämpft, und die Unvermeidlichkeit teleologischer Betrachtung der organischen Welt gezeigt.

Ort. Auch die seelischen Vorgänge stehen in kausaler Beziehung zu einander. Eine Wahrnehmung, eine Vorstellung ruft eine andere Vorstellung hervor, ihr Eintreten ist Ursache des Eintretens der zweiten; eine Gefühlserregung, ein Verlangen bestimmt die Aufmerksamkeit und giebt dem Vorstellungsablauf eine andere Wendung. Aber derselbe Vorstellungslauf ist zugleich teleologisch bestimmt; die Associationsprozesse führen zu einem Erfolg, der in der Richtung des Willens liegt, zu einer Reihenbildung, die von ihm als eine sinn- und wertvolle mit Befriedigung empfunden wird. Dabei ist dies Ziel nicht vorher in der Vorstellung, wenigstens nicht als ein fertig ausgedachtes, das dann nachträglich in die Wirklichkeit gesezt würde. Ein Baumeister entwirft den Plan eines Hauses; nachdem es auf dem Papier fertig ist, führen es die Maurer und Zimmerer nach dem Plan in Holz und Stein aus. Der Plan selbst aber ist nicht wieder nach einem vorher fertigen Plan gemacht worden; dennoch ist die geistige Arbeit des Baumeisters natürlich so gut wie die der Handwerker teleologisch bedingt. Ein Redner hält eine Rede; er ist angegriffen worden, er will sich verteidigen und den Gegner vernichten; nun fließen die Gedanken, die Argumente ihm zu; die Gleichnisse und Redewendungen, die Stichwörter und Citate, die Bosheiten gegen den Gegner und die Liebenswürdigkeiten gegen die Hörer stellen sich ein wie von selbst. Es ist das Band der Association, an dem jedes vorausgehende jedes nachfolgende herbeizieht, aber von tausend möglichen associativen Verbindungen erweist sich in jedem Augenblick die wirksam, die zum Ziel führt. So ist der ganze Zusammenhang der Rede zu= gleich kausal und teleologisch bedingt; der Wille giebt zulezt die Richtung und empfindet den gelingenden Verlauf mit lebhafter Befriedigung. Nicht überall ist der Vorstellungsverlauf so zielstrebig, wie hier; es giebt auch vage, ziellose Associationsbewegungen; im Traum, in der Geisteszerrüttung erlangen sie die Herrschaft. Aber im gesunden geistigen Leben ist die Bestimmung des Vorstellungslaufs durch das Zwecknotwendige überall sichtbar.

In jedem geistigen Ganzen haben wir dasselbe Zusammen von ursachlicher und teleologischer Beziehung der Elemente. In einer Argumentation, einer Dichtung ist jeder Teil ein zum Ganzen, zur Ausführung der Idee Notwendiges, ist an seinem Ort ein & оло

θέσεως ἀναγκαίον; augleid ift er ein burd affociative Serbinbung Verursachtes. Kausale Bedingtheit und innere, ästhetische, logische Notwendigkeit gehen zusammen. Durchläuft man die Reihe von vorne, so sieht man, wie jedes Element jedes nachfolgende herbeiführt. Durchläuft man sie in umgekehrter Reihenfolge, vom Ende her, so sieht man, wie der Ausgang alles voraufgehende, bis zum Anfang beherrscht: das Demonstrandum beherrscht den Gang der ganzen Argumentation, der Ausgang des Dramas wirkt schon auf die Exposition. So ist das Lezte zugleich das Erste, von dem die Bewegung anhebt, das télos ist, mit Aristoteles, zugleich das ödev ý kivyois; von ihm angezogen, streckt sich alles ihm entgegen. Nicht durch Stoß von hinten, sondern durch spontanes Streben zum Ziel kommt im geistigen Leben die Bewegung zustande; das Ziel aber ist nicht das äußerliche Ende, sondern das verwirklichte Ganze, die vollendete Einheit der Dichtung, der Beweisführung, der Rede, ist die Entelechie des Aristoteles.

Dasselbe, was von einzelnen geistigen Erzeugnissen gilt, gilt auch von dem Seelenleben als Ganzem. Ein gesundes Menschenleben bildet ein in sich geschlossenes Ganzes, eine sinnvolle Einheit; es ist nicht eine Reihe von Zufällen, nicht ein mechanisches Geschiebe von Bewußtseinselementen, sondern eine durch innere Notwendigkeit verbundene vielgliedrige Einheit, ähnlich einer vielstimmigen und viel= teiligen Tondichtung. Wir können wohl nicht jedes Element als ein teleologisch notwendiges konstruieren, wie wir es in einer Dichtung können. Es greift ein, was wir Zufall nennen. Aber wir können nicht umhin, das Ganze so zu betrachten; jeder Biograph sieht das Leben seines Helden als ein durch innere, verstehbare Notwendigkeit verknüpftes Ganzes an; jedem stellt die eigene Erinnerung seine Vergangenheit unter diesem Gesichtspunkt dar. Und in jedem Augenblick empfindet der Lebende das Leben als ein sich strecken nach dem, was vorne ist. Nicht durch schieben und stoßen von hinten geschieht die Bewegung, sondern gleichsam durch ein gezogen werden zum Ziel. Das Ziel aber ist die Erfüllung der Idee. Das Bild des Mannes ist in der Seele des Knaben die verborgene Triebkraft, die die Entfaltung beherrscht; die Idee eines Lebenswerkes, die sich selbst erst in und mit dem Leben entfaltet, giebt der Thätigkeit des Mannes Rich

tung und Kraft. Zielstrebigkeit ist der Charakter alles gefunden Lebens. Und dasselbe gilt auch von dem Volksleben. Auch dieses bewegt sich, nicht durch Druck oder Stoß geschoben, sondern angezogen von einer Idee gleichsam seiner vollkommenen Bildung. Nicht so, daß eine einfache, durchsichtige, in allen gleichartig vorhandene Vorstellung sie bestimmte, sondern im lebendigen Wechselspiel mannigfachster Bestrebungen wirkt sich das Wesen des Volkes aus; aber in allen ist eine Idee das durch Anziehung Bewegende, in allen ist irgendwie die zukünftige Bildung des Volkes gegenwärtig. Alle Gruppen, alle Parteien erblicken in dem grauenden Morgennebel der Zukunft unbestimmt umrissene, schimmernde Bilder des Vollkommenen und werden von diesen Bildern unwiderstehlich angezogen.

Also, Kausalität und Finalität gehen im geistig-geschichtlichen Leben zusammen; spontanes Zusammenkommen einer Vielheit von Elementen zu einer Reihe, in der jedes Glied mit innerer, logischästhetisch-ethischer Notwendigkeit gesezt ist, das ist der Charakter geistiger Bewegung.

Hierin liegt, das will ich im Vorübergehen anmerken, was an dem Widerstand gegen deterministische Theorien berechtigt ist. Wenn das Wesen der Kausalität in einer äußeren Notwendigkeit bestünde, welche die innere Notwendigkeit ausschlösse, dann hätten diejenigen recht, die sich gegen ihre Anwendung zur Konstruktion der geistigen Welt sträuben. Nur sollten sie dann weiter gehen, als sie zu thun pflegen: dann gilt das Kausalgeseh nicht bloß nicht für den Willen, sondern für das ganze Seelenleben gilt es nicht. Faßt man aber den Begriff der Kausalität richtig, versteht man darunter mit Hume und Leibniz nichts als Geseßmäßigkeit, d. h. regelmäßige Zusammenstimmung der Veränderung vieler Elemente, dann liegt auf der Hand, daß sie in der geistigen Welt nicht minder gilt als in der Natur. Mag hier die Regelmäßigkeit schwerer zu erkennen oder auf Elementargeseße zurückzuführen sein, als in der Natur, so ist doch offenbar, daß sie nicht fehlt. Hier so wenig wie dort kommen isolierte oder geseßlose Elemente vor; jedes steht in bestimmter Beziehung zu anderen, vorausgehenden, gleichzeitigen und nachfolgenden Elementen. Wir können diese Beziehungen so gut wie nirgends auf rechnungsmäßige Formeln bringen, aber ihr Dasein tritt überall zu Tage. Stillschweigends wird von allen

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