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die Geologie kann auch nicht jede Erhöhung und Vertiefung der Erd= rinde, und die Meteorologie nicht jede Schwankung im Luftmeer erklären. Schließlich ist die Aufgabe jeder Wissenschaft eine unendliche. Darwin hat die Biologie so wenig vollendet, daß er sie vielmehr vor neue ungeheure Aufgaben gestellt hat. Soviel aber darf man sagen: die Entwickelungstheorie ist in dem Sinne wirklich eine Theorie, daß sie ein Prinzip der Nachforschung begründet hat, welches zu wirklichen naturwissenschaftlichen Einsichten auf diesem Gebiete führt. Das kann man von der älteren Hypothese, die aus der Einwirkung einer von außen nach Absichten wirkenden Intelligenz erklärt, auf keine Weise behaupten; sie war nie etwas mehr als eine Verlegenheitsauskunft, die durch das oben bezeichnete ratlose Dilemma: Entstehung durch zufälliges Zusammenfallen von Atomen, oder Bildung durch Intelligenz, aufgedrängt wurde. Was sie wirklich leistete, das war, was Wörter auch sonst leisten, daß sie das erste Erstaunen und die erste Fragelust beschwichtigte, keine gute Leistung für eine wissenschaftliche Hypothese. Die neue Hypothese beweist ihren Wert eben darin, daß sie immer neue Fragen aufgiebt und zu ihrer Lösung anreizt. Mit dem alten Xenophanes mag auch Darwin sagen:

Zeigten die Götter doch nicht den Sterblichen alles von Anfang;
Sondern sie suchen es selbst und finden allmählich das Bess're.

5. Die Entwickelung im Gebiet des geistig-geschichtlichen Lebens. Das die geistig-geschichtliche Welt in ihren Bildungen große Ähnlichkeit mit der organischen Welt zeigt, ist oft bemerkt worden. Von den Zeiten Platos her ist es üblich, den Staat als einen Menschen im großen zu betrachten. A. Schäffle führt in seinem großen und geist= vollen Werk: „Bau und Leben des sozialen Körpers" die Vergleichung der Gesellschaft mit einem natürlichen Organismus bis ins einzelnste aus. Ebenso ist es üblich, die Sprache als einen Organismus zu bezeichnen, vielleicht sagte man passender: ein Organsystem, das dem Organismus eines Volkes angehört. In der That liegt die Homologie auf der Hand; wie im organischen Körper, so haben wir auch hier eine große Vielheit ungleichartiger Teile, die regelmäßig zu einem sinnvollen Gesamterfolg zusammenwirken.

Nehmen wir die Sprache. Eine große Vielheit von ungleichartigen Teilen wirkt zu einer Gesamtleistung, der lebendigen Rede, zusammen, die sich augenscheinlich als wertvolle oder zweckmäßige Leistung für den Träger des Organs, ein Volk, erweist: ohne sie wäre ein einheitliches geistiges Leben, wäre das Leben eines Volkes überhaupt nicht möglich. Tausende von Wörtern, die man den Zellen vergleichen kann, aus denen sich der körperliche Organismus aufbaut, sind in der Sprache zu gemeinsamer Funktion vereinigt; die Gesamtheit der Wörter teilt sich in die Aufgabe, den gesamten Schaß eines Volkes an Gedanken und Gefühlen in Lautgebilden zu versinnlichen, jedes Wort hat innerhalb der Gesamtheit seine bestimmte, begrenzte Aufgabe, seine Bedeutung. Der organische Charakter der Sprache erscheint sodann in den eigentümlichen Formelementen. Die verschiedenen Wortarten (Substantiv, Adjektiv, Verb u. s. w.) entsprechen den großen Gattungen der Vorstellungen; sie drücken durch ihre Form die Zugehörigkeit des Bezeichneten zu den Dingen, Eigenschaften oder Vorgängen aus. Jedes Wort ist wieder ausgestattet mit einem höchst sinnreichen Mechanismus, wodurch es seine Beziehungen zu den Elementen, mit denen es in Verbindung tritt, sichtbar zu machen befähigt ist, jenem System kleiner Formveränderungen, die wir Deklination und Konjugation nennen. So stellt sich die Sprache als ein höchst komplizierter und zugleich erstaunlich ficher funktionierender Apparat dar, um alle möglichen Gedanken und Gefühle bis in die kleinsten Nüancierungen auszudrücken, ein Werkzeug von einer Feinheit und Vollendung, daß dagegen die künstlichste Maschine als ein einfaches Gerät erscheint.

Wie ist dieser Organismus entstanden? Jezt pflanzt er sich fort durch elterliche Zeugung, die Kinder lernen die Sprache von den Eltern, aber wie entsteht eine Sprache ursprünglich? Durch Zufall, indem bald der eine, bald der andere bei Gelegenheit ein Lautgebilde hervorstieß, das verstanden und festgehalten und so zu einem Namen eines Dinges oder Vorgangs wurde? Das ist offenbar unsinnig. Also wird die Sprache durch Absicht und Erfindung entstanden sein. So erklärte der Rationalismus des vorigen Jahrhunderts, dem Rationalismus des Altertums folgend, die Sache. Die Menschen, so philosophiert in seinem Versuch über den Ursprung der Sprache (1772) der spätere Marburger Professor Tiedemann, lebten zuerst in tierischem Zustande, dieser

war unbequem und beschwerlich; man wurde nach einer besseren Lebensart begierig, das trieb zur Vereinigung, und damit entstand das Be= dürfnis eines Verständigungsmittels. „Man verfiel wahrscheinlich zuerst auf die Sprache der Gebärden. Allein es konnte nicht lange währen, so mußte man die Unzulänglichkeit dieser Sprache einsehen. Die Menschen bemerkten, daß die Gemütsbewegungen ihnen Töne abablockten. Sie wurden auch gewahr, daß die Tiere derselben mit gutem Erfolg sich bedienten. Was war natürlicher, als daß sie suchten, sich diese Entdeckung zu Nuße zu machen und die Töne zu Zeichen ihrer Gedanken zu gebrauchen?" *)

Uns kommen solche Erwägungen einigermaßen komisch vor, sie klingen fast wie eine von den Romantikern auf die Aufklärung gemachte Parodie. Und doch ist diese Erklärung gegenüber der Erklärung der organischen Welt aus der Thätigkeit einer kosmischen Intelligenz im Vorteil, sie rechnet doch mit einer gegebenen und bekannten Ursache. Freilich, eben dieser Vorteil ist es, der zu ihrem Nachteil ausschlägt; die Ursache ist uns allzu wohl bekannt, als daß wir solche Wirkung von ihr erwarten sollten. Wie ist es denn nun, so fragen wir hier gleich weiter, des näheren bei dieser Erfindung hergegangen? Hat eines Tages unter den noch sprachlosen Menschen ein besonders anschlägiger Kopf sich hingesezt und eine Sprache ausgedacht, wie heutzutage einer das Volapük ausgedacht hat? Erfand er im Stillen für sich die tausend Namen der Dinge, Eigenschaften, Vorgänge, Beziehungen, das Deklinieren und Konjugieren, und überraschte dann mit dem fertigen System seine Genossen, zeigte ihnen die Nüglichkeit der Sache und ihren Gebrauch und überredete sie so, die Sprache zu lernen und anzunehmen? Man sieht, es wäre kaum noch erstaunlich, wenn nun hinzugefügt würde, daß dieser selbe Mann ebenso vorher auch schon

*) Bei H. Steinthal, Der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den lezten Fragen alles Wissens. (4. A. 1888, S. 6 ff.) Die kleine lehrreiche Schrift giebt eine Übersicht über die Geschichte der Sprachschöpfungstheorien bis zur Gegenwart, mit Andeutungen der eigenen Theorie des Verfassers. Die psychologischen Grundlagen dieser hat Steinthal ausführlich dargestellt in seiner Einleitung in die Psychologie (2. A. 1881), dem ersten Teil eines Abrisses der Sprachwissenschaft. Umrisse der konkret-historischen Ausführung in der Klassifikation der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaus (1860).

den Verstand erfunden und durch überredung den andern beigebracht hätte. - Arbeiteten also viele zusammen an dem Werk? Wurde etwa, worauf man heute gewiß alsbald verfallen würde, eine Kommission zur Erfindung der Sprache eingesezt? Oder haben die vielen vereinzelt gearbeitet, lieferte bald dieser, bald jener einen Beitrag, ein Dußend Namen oder einige Präpositionen? und dann erfand einer das Deklinieren, vielleicht erst bloß die erste Deklination, und darauf ein anderer die zweite u. s. f., bis die vier oder fünf Deklinationen oder wie viele sonst beisammen waren? Und durch den guten Erfolg aufgemuntert, kam dann einer aufs Konjugieren und brachte das Aftivum zustande, und ein anderer fügte das Passivum hinzu, und ein Dritter flügelte den Konjunktiv aus? Und fürs Griechische ersann ein besonders wißiger Kopf noch den Optativ dazu? und ein Querkopf streute die unregelmäßigen Verba ein? — - Das ist die Richtung, in der Tiedemann der Sache weiter nachgeht, nur daß er zulegt immer wieder das Prinzip der Erfindung verleugnet und Not und Zufall die Sache bewirken läßt.

Man sieht, wir stehen hier genau vor demselben Dilemma, wie oben: ist die Sprache, sind die Tiere durch Zufall oder durch planmäßige Erfindung entstanden? Ein Drittes scheint es nicht zu geben, und doch ist beides gleich unvorstellbar.

Die Sprachwissenschaft ist der Schwierigkeit zuerst Herr ge= worden und zwar genau auf demselben Wege, den dann später die Biologie eingeschlagen hat. Die Ursache, die zu jenem heillosen Dilemma führte, war die Vorstellung, daß die Sprachen, ebenso wie die Arten der Tiere und Pflanzen, unveränderliche, starre Wesenheiten seien. So hatten bisher die Grammatiker die Sache angesehen: eine Sprache ist ein starres, ein für allemal fertiges Instrument, das die Grammatik beschreibt, und in dessen Gebrauch sie unterweist. Die geschichtliche Betrachtungsweise, die um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts unter dem Einfluß des großen und allgemeinen Rückschlages gegen den starren Rationalismus der Aufklärung auf allen Gebieten sich erhob, und der auf dem Gebiet der Sprachforschung durch Männer wie W. v. Humboldt, Bopp, die beiden Grimm die Bahn ge= brochen worden ist, hat jene alte Vorstellung von dem Wesen der Sprache gänzlich beseitigt. Sie führte zu der Erkenntnis, daß eine

Sprache nicht ein fertiges, von Geschlecht zu Geschlecht vererbtes Werkzeug, sondern eine stets neu erzeugte Funktion sei, oder mit Humboldts Ausdruck, nicht ein ergon, sondern eine energeia. So sieht nun die heutige Linguistik in einer Sprache eine mit dem Volksleben selbst fortwährend ihre Gestalt ändernde Funktion, die gegen= wärtige Gestalt das Ergebnis Jahrtausende langer Entwickelung und zugleich Ausgangspunkt für neue Bildungen. Man sieht, es ist ganz dieselbe Vorstellung, welche die neue Biologie auf die Tier- und Pflanzenformen überträgt.

Die Sprachwissenschaft hat nun aber den großen Vorteil, daß sie den Entwickelungsprozeß, oder wenigstens ein Stück davon, wirklich vor Augen hat; die Wandlung der geschichtlichen Organismen geht schneller als die der physischen vor sich. Wir kennen die Gestalt, welche die deutsche Sprache vor fünfhundert oder tausend Jahren hatte; wir haben im Gotischen wieder eine um ein halbes Jahrtausend ältere Form. In den schriftlichen Denkmälern liegen gleichsam Versteinerungen der älteren Sprachformen vor, und zwar Versteinerungen von sehr viel größerer Vollkommenheit, als sie in den paläontologischen Resten dem Biologen zur Verfügung stehen: hier ein paar vereinzelte Bruchstücke, zum Teil nur Spuren der ehemaligen Lebensformen, dort zwar auch nicht das volle Leben, Klang und Accent lassen sich nur ungefähr erraten, aber verhältnismäßig doch eine unvergleichlich vollständige Darstellung des Baues und der Funktion der Sprache. Ebenso liegt uns die Entwickelung der lateinischen Sprache durch einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrtausenden vor. Und hier sehen wir vor unsern Augen den Prozeß der Bildung neuer Sprachen sich vollziehen: die französische, italienische, spanische Sprache sind Töchter der einen Mutter, die übrigens daneben auch selbst als Sprache der Kirche und der Gelehrsamkeit am Leben blieb. Die vergleichende Sprachwissenschaft endlich geht noch viel weiter; sie unternimmt es, beinahe alle Sprachen, die in Europa gesprochen werden und gesprochen worden sind, nebst den Sprachen der Perser und Inder, als geschichtliche Wandlungen einer gemeinsamen Ursprache der arischen Völker darzustellen.

Hier haben wir also, was die Kritiker des Darwinismus auf biologischem Gebiet noch vermissen: die Bildung neuer Arten, zwischen

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