Page images
PDF
EPUB

Es wird nicht nötig sein, noch des breiteren zu erörtern, ob die Geschichtsteleologie erfolgreicher sein würde, wenn sie anstatt objektiver Lebensgestaltung im Sinne menschlicher Vollkommenheit die allgemeine Glückseligkeit als das Ziel sezte und nun zu zeigen unternähme, daß hierauf die Thatsachen als Mittel bezogen wären. Wie wenig eine solche Anschauung der allgemeinen Lebensstimmung und also wohl auch der Wahrheit entsprechen würde, dafür genügt es, auf eine Thatsache hinzuweisen: die beiden Religionen, welche die meisten Bekenner zählen, Christentum und Buddhismus, sind, wenigstens in ihrem Ursprung, Erlösungsreligionen; sie verheißen nicht Glückseligkeit, sondern Erlösung vom Übel, nicht durch Kultur und Befriedigung aller Bedürfnisse, sondern durch Erlösung von der Begierde, durch Erlösung vom Willen zu leben, vom Streben nach irdischen Gütern, Reichtum, Ehre und Wollust. Ihr Urteil über den Lustwert des irdischen Lebens ist einstimmig: Leben ist Leiden; Sünde und Elend sind der Inhalt des Lebens des natürlichen Menschen. Teleologisch gerechtfertigt wird, nach christlicher Anschauung, das irdische Leben allein dadurch, daß es zu einem höheren, dem jenseitigen Leben in Beziehung steht; nicht als Selbstzweck, sondern als Vorbereitungs- und Prüfungszeit für das ewige Leben hat es Sinn und Bedeutung. Womit denn zugleich gesagt ist, daß sie eine teleologische Konstruktion des Menschenlebens durch Wissenschaft nicht für möglich hält, das jenseitige Leben ist nicht Gegenstand der Wissenschaft, sondern des Glaubens.

Freilich, das hat nicht verhindert, daß nicht später, als das Christentum in ein positiveres. Verhältnis zur Welt getreten war und eine christliche Philosophie entstand, auch eine teleologische Geschichtsphilosophie auf diesem Boden zustande kam, die das geschichtliche Leben als Verlauf zu jenem transcendenten Ziel konstruierte; die Vermischung des Transcendenten und des Empirischen ist ja für die ganze Entwickelung der Wissenschaft unter dem übermächtigen Einfluß des kirchlich-religiösen Lebens charakteristisch. Und man kann auch zuge= stehen, daß die Geschichtsteleologie ein formell vollendeteres System als in der kirchlichen Philosophie nie erreicht hat: der Himmel und die ewige Seligkeit das große Endziel des geschichtlichen Lebens, die Erde sein diesseitiger Schauplag; sein Mittelpunkt die Menschwerdung Gottes und die Gründung des Gottesreichs auf Erden; die ganze

[ocr errors]

Vorzeit zu diesem großen zentralen Ereignis hinstrebend, die ganze Folgezeit von ihm bestimmt und erfüllt; der ganze Verlauf eingefaßt von der Weltschöpfung auf der einen, dem jüngsten Gericht auf der anderen Seite in der That eine so einfache und große Philosophie der Geschichte, daß wir aus unserer Ratlosigkeit nicht ohne ein Gefühl des Neides darauf zurückblicken können. Was sind Hegels oder Comtes dürre Abstraktionen gegen diese kronkret-lebendige Anschauung. Freilich, wir müssen es tragen. Uns fehlt die Unbefangenheit, mit der das Mittelalter Glauben und Wissen in Eins zusammen schmiedete. Uns fehlt auch die Enge seines Gesichtskreises. Wie sein kosmischer Horizont durch die neue Astronomie, so ist sein historischer Horizont, der wesentlich durch die Geschichte des alten Bundes und, seit der Wende der Zeiten, durch die Geschichte der Kirche bestimmt war, durch die an den Humanismus sich anknüpfende geschichtliche Forschung aufgehoben worden. Ins Grenzenlose ist endlich der Ausblick durch die jüngsten sprachgeschichtlichen und biologischen Forschungen erweitert. Nicht die Willkür menschlicher Gedanken, die Thatsachen selbst haben den Rahmen des alten Systems zersprengt; es ist vergeblich, die Bruchstücke wieder zum Ring einer teleologischen Demonstration zusammen zu fügen.

Ziehen wir die Summe. Weder die Natur noch die Geschichtsteleologie hat den Wert einer wissenschaftlichen Theorie; hierüber kann seit der Aufhebung der geo- und anthropozentrischen Weltanschauung sich keine ernsthafte Philosophie mehr einer Täuschung hingeben. Alle Beweise, die den Verstand nötigen wollen, in der Weltordnung die Wirkung eines nach uns faßbaren Absichten thätigen Geistes anzuerkennen, bleiben unendlich weit hinter der Aufgabe einer wissenschaftlichen Beweisführung zurück.

Was trozdem so lange Zeit hindurch die Gedanken immer wieder in jene Richtung zurück lenkte, das war vor allem die absolute Ratlosigkeit, in welche die Naturphilosophie durch die Frage nach dem ersten Ursprung der lebenden Wesen versezt wurde. Daß der Zufall die Atome einmal gerade so sollte zusammengewürfelt haben, das blieb doch unglaublich. Und so schien nur die andere Auskunft übrig zu sein.

Freilich, für den Naturforscher war damit doch gar nichts ge= wonnen. Den Wert einer befriedigenden Erklärung oder auch nur

einer brauchbaren Hypothese hat sie nie gehabt. Eine Erscheinung im Sinne der Naturwissenschaft erklären heißt, sie als naturgeseßmäßige Wirkung bekannter Kräfte aufzeigen. Nun ist Intelligenz allerdings ein bekanntes Agens, nämlich in der Gestalt, in der sie in Menschen und Tieren auftritt. Dagegen ist sie als kosmisches Agens keineswegs bekannt. Der Naturforscher, dem man sagt: Pflanzen und Tiere sind ursprünglich von einer Intelligenz gemacht worden, wird daher gleich erwidern: so zeigt mir Natur und Wirkungsweise dieser Intelligenz, zeigt mir, wo, wann und vor allem auf welche Weise sie die organischen Wesen gebildet hat. Vermögt ihr das nicht, kommt ihr nicht über den allgemeinen Sag hinaus: bei der Ordnung der Welt ist ein Geist im Spiel gewesen, dann ist mir damit allerdings gar nichts geholfen. Eine solche, zu einmaliger Wirkung angenommene Kraft, von deren Natur und Wirkungsweise im übrigen nichts bekannt ist, das ist eine vis occulta im eigentlichsten Sinn. In meinen Augen ist es daher einerlei, ob ihr auf die Frage nach dem ersten Ursprung der lebenden Wesen antwortet: ein Geist hat sie gemacht, wir wissen nicht, auf welche Weise und kennen auch sein Wesen nicht weiter; oder ob ihr sagt: wir wissen nicht, wie sie entstanden sind.

Und, so könnte er hinzufügen: ihr sagt, blinde Naturkräfte können kein lebendes Wesen bilden; aber ich sehe ja täglich, daß sie es thun. Ich lege ein Samenkorn in die Erde, und es wächst ein Halm daraus; die Henne legt ein Ei, und nach ein paar Wochen Brütens kommt ein Huhn daraus. Ich kann zwar nicht alle Kräfte und Wirkungen, die dabei beteiligt sind, im einzelnen darlegen; aber so viel meine ich doch zu sehen, daß dabei keine Überlegung und keine geistige Wirksam= keit stattfindet, weder bei der Bildung des Samenkorns oder des Eis und des Keims, noch beim Brüten und Wachsen. Können jezt blinde Kräfte gegebenen Stoff in lebendigen Samen umwandeln und aus ihm wieder ein lebendiges Wesen hervorgehen lassen, warum nicht ursprünglich? Oder, war damals die Mitwirkung einer Intelligenz notwendig, warum jezt nicht eben so gut? Durchaus müßtet ihr dann auch sagen: wir können das Wachstum des Hühnchens im Ei nicht begreifen; also ist notwendig, eine Intelligenz, einen Geist anzunehmen, der noch alle Tage in all den tausend Eiern und Keimen, die der Tag hervorbringt, durch absichtliche Anordnung die Stoffteile so zusammenführt, daß

daraus ein lebendes Geschöpf wird. Und dann wird es noch notwendig bleiben, daß eben dieser Geist auch die Bewegungen der Teile im lebenden Körper bewirkt, denn von blinden Kräften dürfte die Leistung nicht erwartet werden; die intellektuellen Kräfte der Wesen selbst aber sind offenbar nicht die Ursache; was versteht das eben ausgeschlüpfte Hühnchen von Muskeln, Nerven und Verdauung? Ja wie viel versteht der Physiolog davon?

4. Die Entwickelungstheorie.

Eine neue Epoche in der Behandlung des Problems beginnt mit dem Durchdringen der neuen biologischen Anschauung in unserer Zeit; die Entwickelungstheorie eröffnet einen Ausweg aus jenem Dilemma. Sie giebt der natürlichen oder spontanen Entstehung der Lebewesen eine Gestalt, in der sie vorstellbar wird. Sie nimmt bekanntlich an, daß die Tiere und Pflanzen nicht in der Gestalt, in der wir sie jezt sehen, eines Tages plöglich fertig aus unorganischer Materie hervor= gingen, sondern betrachtet sie als die Ergebnisse eines langen Bildungsprozesses. Nicht nur die Individuen, auch die Arten haben Entwickelung; aus einer oder aus wenigen Urformen einfachster Struktur sind, unter dem Zusammenwirken äußerer und innerer Ursachen, allmählich die mannigfachen und komplizierten Bildungen entstanden. Insofern diese Ansicht eine lange Reihe von Thatsachen beizubringen vermag, die auf sie hinweisen, ist sie die erste Hypothese, die den formellen Anforderungen an eine wissenschaftliche Erklärung entspricht. Die frühere Auskunft, welche die Arten der Tiere und Pflanzen durch eine von außen formende Intelligenz ursprünglich hervorgebracht werden ließ, ist damit als naturhistorische Theorie endgültig beseitigt, beseitigt nicht durch Widerlegung, sondern wie jede überlebte Theorie beseitigt wird: durch das Dasein der rechtmäßigen Nachfolgerin, der besseren Theorie.

Der Erste, der diese Vorstellungsweise wissenschaftlich durchzuführen unternahm, war der französische Biolog de Lamarck in seiner Philosophie zoologique (1809). In verwandten Bahnen bewegten sich die Gedanken gleichzeitiger deutscher Naturphilosophen, Schelling, Oken, Goethe. Die exakte Forschung verhielt sich zunächst spröde gegen so ausschweifende Hypothesen. Der Boden mußte erst besser vorbereitet

werden. Dies geschah vor allem durch die Entwickelung der Geologie und Paläontologie. Die zahlreichen ausgestorbenen Lebensformen, die nach und nach ans Licht traten, machten es zur Gewißheit, daß die organische Welt im Laufe der Zeiten von großen Veränderungen betroffen worden war. Für die alte anthropomorphische Erklärungsweise waren die neuen Thatsachen ebenso viele Schwierigkeiten; sie nötigten zur Annahme großer Katastrophen mit wiederholter Zerstörung der organischen Welt, und ebenso oft wiederholter Schöpfung, eine Annahme, die denn freilich den Anthropomorphismus, indem sie ihn vollendet, zugleich ad absurdum führte: wie unzulängliche und weggeworfene Versuche erschienen nun die ausgestorbenen Formen. Gleichzeitig entzog die Geologie dieser Vorstellung den Boden; sie ging unter Lyells Führung zu der Anschauung über, daß die Erde ihre Gestalt nicht so sehr einmaligen, gewaltsamen Katastrophen, als der Summierung regelmäßiger Wirkungen derselben Kräfte, die noch heute thätig sind, in langen geologischen Zeiträumen verdanke.

So war die Zeit vorbereitet für die große Umwälzung in den biologischen Anschauungen, die sich an den Namen von Charles Darwin knüpft. Das Werk, in dem er die neue Theorie zuerst darlegte: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (1859), bezeichnet den Beginn einer neuen Epoche nicht bloß in der Biologie; es hat mit dem folgenden Werk: Abstammung des Menschen (1871), auf die gesamte Weltanschauung, vor allem auf die geschichtlichen Wissenschaften, mit Einschluß der Politik und Moral, einen bedeutsamen Einfluß geübt. Ich versuche die Hauptpunkte zu bezeichnen.

Darwins Verdienst besteht nicht in der ersten Konzeption des Gedankens der Entwickelung überhaupt, auch nicht eigentlich in der Entdeckung der Ursachen der Transmutation; er hat selbst in einer einleitenden historischen Skizze mit der freien und freudigen Anerkennung fremden Verdienstes, die ihn als wissenschaftlichen Charakter so liebenswert macht, gezeigt, wie alle seine Gedanken, wenigstens in Ansäßen und Spuren, schon vor ihm ausgesprochen sind; sondern in der Durchführung und Erprobung dieser Gedanken in der Welt der Thatsachen. Die Vereinigung genialer Kombinationsgabe, kritischer Besonnenheit und erstaunlicher Beharrlichkeit hat ihn befähigt, aus zerstreuten Gedanken und Thatsachen eine Theorie oder vielmehr ein Forschungsprinzip zu

« PreviousContinue »