Page images
PDF
EPUB

unterlag; der Haß gegen das politische Regiment, das mit der Kirche verbündet war, wendete sich gegen die Religion und machte aus dem Unglauben einen politischen Glaubensartikel. So erscheint jezt der Atheismus als Glaubensartikel der Sozialdemokratie. Es ist der umgekehrte Katechismus. Und wie die alte Dogmatik, so ist auch diese neue, negative Dogmatik wissenschaftsfeindlich, insofern sie den Geist der Kritik und des Zweifels in ihren Dogmen gefangen nimmt. Der Name Antipfaffen, den ein Führer der sozialistischen Partei jüngst von gewissen Heißspornen der Atheismusdogmatik gebrauchte, ist in der That durchaus bezeichnend. An sich steht die Religion den politischen und sozialen Parteigegensäßen völlig neutral gegenüber; der Glaube an Gott ist mit dem Glauben an die Menschheit und ihre Bestimmung zu brüderlichem Gemeinschaftsleben durchaus ver= einbar; und nur die seltsamste Verkennung kann dem Christentum eine zärtliche Schwäche für die Reichen und Wohlgeborenen zuschreiben. Freilich ist diese Verkennung nicht allein und nicht ursprünglich bei der Sozialdemokratie heimisch.

Inzwischen ist der Haß da und wird seine Folgen haben. Überwunden werden kann er nur dadurch, daß der Glaube seine Wahrheit beweist nicht durch Haß und Verachtung und Keßergerichte, sondern durch rechtschaffene Früchte der Gerechtigkeit und Liebe. Das Christentum selbst aber, das so viele Staatsumwälzungen und Kulturwandlungen, so viel Reiche und Völker überlebt hat, wird auch die Stürme überleben, denen die europäischen Völker jezt entgegenzugehen scheinen. Ja, wer weiß, ob nicht seine Befreiung von der Umklammerung mit den Interessen der herrschenden Gesellschaftsklassen die Bedingung für eine neue und große Entwickelung seines Lebens ist?

2. Das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften.

Mit den Wissenschaften hat die Philosophie, wie schon angedeutet wurde, als Ausgangspunkt die verstandesmäßige Auffassung der Wirklichkeit gemein; sie ist Wissenschaft. Was unterscheidet sie von den anderen Wissenschaften?

Zwei Ansichten scheinen zunächst möglich. Wissenschaften unterscheiden sich durch ihren Gegenstand und ihre Form. Der Unterschied der Philosophie von den andern Wissenschaften scheint demnach ent

weder in dem Gegenstand, mit dem sie sich beschäftigt, oder in der Art, wie sie ihn behandelt, gesucht werden zu müssen. Beide Ansichten sind aufgestellt worden. Nach der ersten hat die Philosophie ein ihr eigentümliches Wirklichkeitsgebiet, das von keiner andern Wissenschaft in Anspruch genommen wird; in einer Einteilung der Wissenschaften kommt sie demnach als eine den übrigen koordinierte Einzelwissenschaft vor. Nach der anderen Ansicht hat sie die Gegenstände mit den andern Wissenschaften gemein, behandelt sie aber auf eigene Art und ist also durch ihre Methode von ihnen unterschieden.

Die lettere Ansicht war in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bei uns herrschend, es ist die Ansicht der spekulativen Philosophie. Die ganze Wirklichkeit, so nimmt diese an, ist Gegenstand einer doppelten Behandlung, einer philosophischen und einer wissenschaftlichen, einer spekulativen und einer empirischen. In den beiden großen Gebieten der menschlichen Erkenntnis, der Natur und der Geschichte, haben wir neben einander Naturwissenschaft und Naturphilosophie, Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie. Die Aufgabe der Wissenschaft ist, durch methodische Erfahrung Kunde von den Thatsachen zu erwerben, die Aufgabe der Philosophie dagegen, durch ein ihr eigentümliches Verfahren das eigentliche Wesen und den innersten Zusammenhang der Dinge darzulegen.

Mit dem Glauben an die spekulative Methode ist diese Ansicht ausgestorben. Unsere Zeit glaubt nicht mehr an die Möglichkeit, durch dialektische Begriffsentwickelung die Gedanken oder den Sinn der Wirklichkeit a priori zu erfennen. Sie kennt, wie nur eine Wirklichkeit, so nur eine Wahrheit und einen Weg zu ihr: die denkende Erfahrung. Erfahrungsloses Denken führt so wenig zur Erkenntnis der Wirklichkeit, als gedankenlose Erfahrung. Der Philosoph hat keine via regia zur Erkenntnis; die reine Spekulation ist in Wahrheit nichts als eine verzerrte Reflexion über Erkenntnisse, die uneingestandener Erfahrung verdankt werden.

Giebt es keine besondere philosophische Methode, so scheint die zweite Ansicht übrig zu bleiben, daß Philosophie durch ihren besonderen Gegenstand von den andern Wissenschaften sich unterscheide. Diese Ansicht ist jezt vorherrschend. Und so hat man denn auf mancherlei Weise versucht, der Philosophie ein eigentümliches Gebiet abzugrenzen.

Nach einer gegenwärtig ziemlich häufig vorkommenden Ansicht ist der besondere Gegenstand der Philosophie das Erkennen. Kant hat, wenn wir K. Fischer glauben wollen, das Verdienst, der Philosophie zu einer sicheren Stellung unter den Wissenschaften verholfen zu haben, indem er ihr ein besonderes Gebiet verschaffte, das keine andere Wissenschaft in Anspruch nimmt, nämlich das Erkennen. „Objekt der Erfahrung sind die Dinge, Objekt der Philosophie ist die Erfahrung, überhaupt die Thatsache der menschlichen Erkenntnis.“ *)

Andere wollen der Philosophie im Gegensatz zu der Naturwissenschaft das Gebiet der inneren Erfahrung zuweisen, sie erklären sie als Geisteswissenschaft. So Lipps in den Grundthatsachen der Psychologie (S. 3). A. Döring dagegen sezt die Philosophie als die Untersuchung der Güter und Werte den übrigen Wissenschaften entgegen, die sich mit dem Wirklichen beschäftigen; in seiner philosophischen Güterlehre (1889) wird die Notwendigkeit dieser Bestimmung durch begriffliche und historische Betrachtung dargelegt. Eine ältere, weit verbreitete Ansicht, die auf gewisse Weise auf Aristoteles zurückgeht, erklärt die Philosophie als die Wissenschaft von den ersten Prinzipien oder von den allgemeinen Grundbegriffen und Vorausseßungen der Einzelwissenschaften.

Mir scheinen auch diese Versuche, die Philosophie gegen die Einzelwissenschaften abzugrenzen, begründeten Bedenken zu unterliegen. Wissen= schaft vom Erkennen soll die Philosophie sein. Aber eine solche Wissenschaft hat ja längst einen anderen Namen: Logik oder Erkenntnistheorie. Warum soll sie diesen Namen gegen einen andern vertauschen, noch dazu gegen einen, der schon eine andere und zwar weitere Bedeutung hat; denn nach dem herkömmlichen Sprachgebrauch ist die Logik oder Erkenntnistheorie eine philosophische Disziplin neben anderen. Und dasselbe gilt gegen die beiden folgenden Erklärungen. Die Untersuchungen über das geistig-geschichtliche Leben pflegen wir im Gegensatz zu den Naturwissenschaften Geisteswissenschaften zu nennen, und so heißt die

*) Geschichte der neueren Philos. III2, 16. Ihm stimmt A. Riehl bei in seiner Antrittsrede über wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Philos. (jezt auch in dem Werk: der philos. Kritizismus u. s. Bedeutung für die positive Wissenschaft II, 2 S. 1 ff.): unwissenschaftlich ist die Philosophie, die nach der Art der griechischen über alle Dinge räfonniert, wissenschaftlich dagegen die Philosophie, die sich seit Locke neben den anderen Wissenschaften als die Wissenschaft vom Erkennen konstituiert hat.

Paulsen, Einleitung. 6. Aufl.

2

Untersuchung der Güter und Werte mit üblichem Namen Ethik oder bildet einen Teil dieser Wissenschaft. Ethik aber und die übrigen Geisteswissenschaften sind nicht die Philosophie, sondern nach herkömmlichem Sprachgebrauch Teile der Philosophie.

Was endlich die Erklärung der Philosophie als Wissenschaft von den Prinzipien anlangt, wie sie z. B. Überweg an die Spiße seiner Geschichte der Philosophie stellt, so wird es vielleicht unvermeidlich sein, auf gewisse Weise darauf zurückzukommen. Dennoch kann man sie in dieser Form nicht gelten lassen. Zuerst wegen ihrer Unbestimmtheit: wo hören die Prinzipien, die Grundbegriffe, von denen die Philosophie handeln soll, auf, wo fängt das Gebiet der andern Wissenschaften an? Soll die Philosophie vom Wesen der Materie, der Kraft, der Bewegung, von Raum und Zeit handeln? Nun, dann muß sie wohl auch von den allgemeinen Eigenschaften der Materie und von den allgemeinen Geseßen der Bewegung handeln; und damit wäre sie denn mitten im Gebiet der Physik. Soll die Philosophie vom Wesen der Seele, des Lebens, von den Prinzipien des Rechts und des Staates handeln? Aber wo ist dann die Grenze gegen die Politik, die Rechtswissenschaft, die Biologie, die Psychologie zu ziehen? Offenbar kann sie nur durch Willkür, nicht durch Begriffe bestimmt werden; was als prinzipielle Frage anzusehen ist, was nicht, ist Sache des zufälligen Standpunkts. Die Prinzipien des Pfandrechts oder des Autorrechts sind so gut Prinzipien, als die des Eigentums- oder des Staatsrechts. Sodann aber: woher soll denn die Philosophie ihre Wissenschaft um die Prinzipien nehmen? Sie soll den empirischen Wissenschaften, so wird gesagt, ihre unbesehenen Grundbegriffe erklären. Aber wie soll sie zur Erkenntnis dieser Dinge kommen? Soll sie die Materie durch die Mittel der Beobachtung und des Experiments erforschen? Aber auf diesem Wege suchen ja auch Physik und Chemie das Wesen der Materie. Hat die Philosophie keine anderen Mittel, so ist ja offenbar, daß diese Wissenschaften keine Philosophie brauchen, um zu erfahren, was es mit der Materie auf sich hat. Und durch die Einrede, daß sie dadurch die Aufgabe und damit das Wesen und den Begriff einer empirischen Wissenschaft überschritten“,*) würden sie sich

"

*) Harms, Philos. Einleitung in die Encyklopädie der Physik von Karsten § 89.

schwerlich zurückhalten lassen; was geht uns, würden sie sagen, diese von einem draußen Stehenden ganz unwillkürlich aufgerichtete Grenze an? Oder hat Philosophie einen andern Weg zur Erkenntnis des Wesens der Dinge, als die Wissenschaften? Damit kämen wir auf die Erklärung zurück, die wir eben verworfen haben.

Aber was bleibt dann für ein Unterschied zwischen der Philosophie und den übrigen Wissenschaften? Wenn sie weder durch eine besondere Methode noch durch einen besonderen Gegenstand von ihnen unterschieden ist, dann muß sie ja mit ihnen zusammenfallen.

=

In der That ist dies meine Ansicht. Philosophie ist von den Wissenschaften nicht zu trennen, sie ist nichts anderes als der In begriff aller wissenschaftlichen Erkenntnis. Alle Wissenschaften sind Glieder eines einheitlichen Systems, einer universitas scientiarum, deren Gegenstand die gesamte Wirklichkeit ist. Dieses nie vollendete System, an dem die Jahrtausende bauen, das ist die Philosophie. Jede Wissenschaft erforscht einen bestimmten Ausschnitt oder Querschnitt der Wirklichkeit; die Physik betrachtet die Wirklichkeit, sofern sie körperlich ist und gewisse allgemeine Verhaltungsweisen zeigt; die Biologie betrachtet die Lebensvorgänge, die an derselben Materie sich abspielen; die Psychologie betrachtet das Wirkliche von einer anderen Seite, soforn es im Bewußtsein für sich ist: indem wir alle diese Erkenntnisse in eins fassen, um eine Antwort auf die Frage zu geben, was es mit der Wirklichkeit überhaupt auf sich habe, haben wir Philosophie.

Mit einem Bilde: die Wirklichkeit ist dem Menschengeiste als ein großes Rätsel aufgegeben. Alle einzelnen Wissenschaften geben Bestimmungsstücke; der Versuch, die Lösung des Rätsels auszusprechen, den Schlüssel zu dem mysterium magnum des Daseins zu finden, das ist die Philosophie.

Auf diese Auffassung führt auch der Sprachgebrauch. Philosophie ist nach ihm nicht eine Einzelwissenschaft, sondern ein Inbegriff, ein System von Wissenschaften. Man pflegt Logik, Metaphysik, Ethik als Teile der Philosophie zu bezeichnen. Man muß nur einen Schritt weiter gehen und sagen: auch Physik und Chemie und Biologie und Kosmologie, kurz alle Wissenschaften gehören zur Philosophie.

Man wird einwenden: ist das Philosophie, so ist sie eine un

« PreviousContinue »