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Abstufungen, bis herab zur völligen Unmerklichkeit und Unnachweisbarfeit. Ein Seelenleben wird gebildet aus der Gesamtheit der bewußten und unterbewußten Elemente. Die Vorgänge im Bewußtsein werden jeden Augenblick bestimmt durch das Zusammenwirken aller Elemente, von den eben meist bewußten bis herab zu den völlig vergessenen, die doch auch, sofern sie den Habitus des Seelenlebens bestimmen, nicht ganz unwirksam und unwirklich geworden sind.

Fände aber ein Physiolog Schwierigkeiten in der physiologischen Konstruktion dieser Vorstellung, meinend, nur wenn Erregungen der Gehirnzellen stattfinden, könne Bewußtsein als Begleiterscheinung eintreten, ruhende Dispositionen seien nicht Träger von Bewußtseinsvorgängen, wie herabgesezt immer man sich diese vorstellen möge, so würde ich sagen: es hindert ja gar nichts zu denken, daß alle Zellen der Hirnrinde beständig in Thätigkeit sind. Ja, auf solche Vorstellung wird man doch von allen Seiten geführt. Eine Ganglienzelle ist doch ohne Zweifel nicht als ein ruhendes Atom, sondern als Träger eines Systems mannigfachster, nie rastender innerer Bewegungen anzusehen; beständig findet Zersehung und Neubau, beständig Wechselwirkung mit der näheren und entfernteren Umgebung statt, und in jeder Bethätigung kommt die innere Konstitution und Disposition der Zelle zur Darstellung. Es würde dann der herabgesezten Thätigkeit ein herabgeseztes Maß von Bewußtsein entsprechen. Ich sollte denken, daß dem Physiologen diese Vorstellungsweise eigentlich ganz gelegen sein müßte. Eher müßte es ihm Schwierigkeiten machen, die umgekehrte Vorstellung, daß nur einige wenige Elemente psychisch wirklich sind, zu konstruieren. Sind die physiologischen Vorgänge in der Gehirnrinde überhaupt mit psychischen Prozessen begleitet, so müssen wir ja ein überaus kompliziertes Spiel solcher erwarten, und nicht bloß die wenigen Vorgänge, die den dünnen „Vorstellungsfaden" der Psychologen ausmachen. Oder sollten wirklich in jedem Augenblick nur einige wenige Zellen erregt und in Thätigkeit sein und die übrigen inzwischen wie Sandkörner am Strande ohne innere Thätigkeit müßig liegen? Und wenn das nicht denkbar ist, warum sollte denn ihre Erregung psychisch überhaupt unfruchtbar sein?

Daß aber in Wirklichkeit das Seelenleben in jedem Augenblick ein höchst mannigfaches und kompliziertes Spiel von mehr und minder

bewußten Vorgängen aufweist und nicht bloß jene dürftige eingliedrige Reihe, wie sie nach einigen Psychologen die „Enge des Bewußtseins“ allein zulassen soll, darüber läßt unbefangene Besinnung doch nicht in Zweifel. Ich size im Theater und folge der Aufführung eines Stücks. Zahlreiche Reihen psychischer Prozesse spielen sich neben einander ab, mit mehr oder minder Stärke im Bewußtsein auftretend. Ich habe Gehörsempfindungen, sie folgen in langer Reihe, aus ihnen heben sich am meisten diejenigen hervor, die ich als die Reden der Schauspieler auffasse und in Vorstellungen und Gedanken umseße, doch höre ich da= zwischen auch die Schritte auf der Bühne, das Rauschen der Kleider, die Bewegungen meiner selbst und meiner Nachbarn. Nebenher geht eine ebenso komplizierte Reihe von Gesichtswahrnehmungen, ich übersehe die ganze Bühne mit ihren Dekorationen und ihrer Einfassung, ich sehe die Bewegungen, das Mienenspiel der Darsteller, den Vordergrund bilden die Köpfe und Hüte meiner Vordermänner, auch sie sehe ich so weit, daß mir jede stärkere Bewegung auffällt. Diese beiden Reihen gehen neben einander her, nicht so, daß ihre Glieder intermittierend sich ablösten, sondern jede ist für sich vollständig, wenn auch bestimmte Glieder bald der einen, bald der anderen das Übergewicht im Bewußtsein haben. Auf Grund beider Reihen bildet sich nun die Hauptreihe, die am meisten Bewußtsein hat und am tiefsten sich einprägt: die Reihe der Vorstellungen, welche sich auf das Drama selbst mit seiner Handlung und seinen Charakteren bezieht. In jedem Augenblick steht im Mittelpunkt die Vorstellungsgruppe, die durch die eben jezt gehörte Einzel- oder Wechselrede angeregt wird. Im Bewußtsein ist aber natürlich nicht bloß das Wort oder der Sag, der eben gesprochen wird, sondern in abgestufter Stärke auch alles Vorangegangene; das einzelne Wort, der einzelne Saz hat ja als solcher gar keinen be= stimmten Sinn, er wird verstanden nur dadurch, daß er als Teil dieses Ganzen, als Äußerung dieser Person bei dieser Gelegenheit gegen diese bestimmte andere Person aufgefaßt wird; ein Bewußtsein, das gleichzeitig immer nur eine Vorstellung fassen könnte, wäre überhaupt nicht fähig, eine Rede oder gar ein Stück zu fassen. Gleichzeitig sind in meinem Bewußtsein Gefühle mannigfachster Art, Gefühle der Spannung oder Langeweile, der Erhebung oder Mißachtung, der ästhetischen Befriedigung oder des Unbehagens; auch sie sind nicht

zwischen die Glieder der Wahrnehmungs- und Vorstellungsreihe eingesprengt, sondern bilden einen eigenen Zusammenhang, der bald stärker bald schwächer im Bewußsein sich zur Geltung bringt. Den ständigen Hintergrund endlich dieses Spiels von Bewußtseinsvorgängen bildet eine Fülle von Berührungs- und Bewegungsempfindungen, wodurch ich der Lage, Stellung und Bewegung meines Leibes und seiner Teile inne werde. Begleitet sind sie von der nicht minder großen Fülle der Gemeingefühle, die zwar als einzelne faum ins Bewußtsein kommen, in ihrer Gesamtheit aber als Gemeingefühl oder Lebensstimmung den Untergrund bilden, auf dem die ganze Gefühlswelt aufgetragen er= scheint: Müdigkeit und Schlaffheit oder Frische und Elastizität, be= friedigtes Behagen des ganzen Systems oder störende Gefühle der Hiße oder Kälte, der Erschöpfung oder der Übersättigung und Indisposition und so fort.

Alles das ist gleichzeitig im Bewußtsein, und dazu ist es be= gleitet von dem Bewußtsein, zu diesem individuellen Seelenleben zu gehören: ich weiß jederzeit um mich selbst, wer ich bin und woher ich komme, in welcher Stellung und Umgebung ich lebe, welche Aufgaben und Pflichten ich habe; nicht im einzelnen ist es eben Gegenstand der Aufmerksamkeit oder des Nachdenkens, aber doch ist es als ein immer Bereites da, in jedem Bewußtseinsvorgang als das Ich sich selber gegenwärtig.

So stellt sich der Inhalt des Bewußtseins in jedem Augenblick dar: eine große Fülle von Elementen sind gleichzeitig bewußt, freilich nicht gleich bewußt; jederzeit steht eine eng begrenzte Gruppe als stärkstbewußte im Mittelpunkt, um sie gruppieren sich, anfangs mit rasch abnehmender Bewußtseinsstärke, die übrigen. Aber nur einen Augen= blick dauert die Konstellation; das Bewußtseinsmaximum ist gleichsam beweglich, wie eine Welle läuft es über die Vielheit der Elemente hin, bald dieses bald jenes zum Gipfel hebend.

Man kann mit Wundt den Inhalt des Bewußtseins mit dem Inhalt des Sehfeldes vergleichen. Eine große Menge von Objekten ist gleichzeitig im Sehfeld, davon steht ein geringer Teil im Blickpunkt und wird mit größter Deutlichkeit gesehen; die übrigen werden auch gesehen, aber mit einer Deutlichkeit, die mit der Entfernung vom Blickpunkt abnimmt. Wenn man den Blick auf ein aufgeschlagenes Buch

richtet, so übersieht man das ganze Blatt mit seinen Zeichen, man sieht auch noch die Umgebung, den Tisch und die Gegenstände, die darauf liegen, bis schließlich am Rande des Sehfeldes die Bilder der Dinge ganz verschwimmen. Aber auch das Blatt mit seinen Buchstaben sieht man nicht mit gleicher Deutlichkeit; fixiert man das Auge auf einen bestimmten Buchstaben und versucht nun, ohne ihm Bewegung zu gestatten, die angrenzenden Buchstaben zu erkennen, so findet man, daß man kaum noch den dritten oder vierten nach beiden Seiten deutlich sieht. Die übrigen werden nur noch als unbestimmte Masse ge= sehen, man unterscheidet etwa noch einen großen Buchstaben als solchen, oder ein fett gedrucktes Wort, oder eine Halbzeile, kann aber die einzelnen Zeichen nicht mehr erkennen. Sich selbst überlassen, beharrt aber das Auge nicht auf einem Punkt; über die Zeilen hinfliegend, bringt es in schneller Folge die einzelnen Zeichen auf einen Augenblick auf den Punkt des deutlichsten Sehens und gewinnt so ein deutliches Bild des Ganzen.

Ähnlich ist es mit dem Bewußtsein. Auch hier haben wir ein weites Sehfeld, mit zahlreichen Elementen erfüllt, darin einen Blickpunkt, den in jedem Augenblick ein engbegrenzter Inhalt einnimmt; um ihn gruppieren sich die übrigen Inhalte, mit rasch abnehmender Deutlichkeit vorgestellt, bis sich am Rande die Umrisse verlieren; der Blickpunkt ist auch hier beweglich, er eilt über die Objekte hin, hebt eines nach dem andern heraus und gewinnt so die Anschauung des Ganzen. Auch das Mehr oder Minder von Helligkeit überhaupt, wie es für das Sehfeld bedingt ist durch die äußere Lichtquelle, wodurch die Objekte beleuchtet werden, kehrt hier in den verschiedenen Intensitätsgraden des Bewußtseins überhaupt wieder.

7. Von dem Wesen der Seele: Aktualistische und substantialistische Auffassung. Ihr Siß im Leibe.

In den Kreisen, die dem Materialismus nicht anhangen, ist etwa folgende Vorstellung von dem metaphysischen Wesen der Seele herrschend: die Seele ist eine einfache, unausgedehnte, immaterielle Substanz; als solche ist sie absolut beharrlich und unvergänglich; sie ist Träger von Kräften, wodurch sie die Bewußtseinsvorgänge bewirkt; endlich, sie hat an einem bestimmten Punkt des Gehirns ihren Sih,

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von dem sie mit dem Leibe in einem Austausch von Wirkungen steht.

Diese Ansicht geht, wie Wundt zeigt,*) durch Vermittelung der Wolffischen Philosophie, die im Zeitalter der Aufklärung die allgemeine Bildung beherrschte, auf Descartes zurück, dessen Philosophie hierin wie in anderen Punkten, trot Spinoza und Kant, sich als eine sehr dauerhafte erwiesen hat. Ihr Vorteil ist, daß sie der gemeinen Vorstellung mit ihren handlichen Begriffen nahe bleibt.

Mit Fechner und Wundt bin ich der Überzeugung, daß dies keine haltbare oder auch nur mögliche Vorstellung ist. Es giebt keine für sich seiende, beharrliche, immaterielle Seelensubstanz; das Dasein der Seele geht in dem Seelenleben auf, hebt man die psychischen Vorgänge auf, so bleibt kein Substantiale als Rückstand. Das Seelenatom ist nichts als ein Rückstand überlebter Metaphysik.

Auf den Begriff der Substanz überhaupt wird uns die erkenntnistheoretische Betrachtung später zurückführen (S. 367 ff.); ich verweise darauf als auf eine notwendige Ergänzung der hier gegebenen Erörterung des Problems. An dieser Stelle mag das Folgende genügen. Die immaterielle und beharrliche Seelensubstanz ist nicht Gegenstand der unmittelbaren Wahrnehmung, der inneren so wenig wie der äußeren. Gegeben sind im Selbstbewußtsein nur wechselnde Zustände und Vorgänge; das beharrliche Substantiale wird hinzu gedacht. Was nötigt hierzu? Seine Anwälte sagen: hierzu nötigt unmittelbare Denknotwendigkeit; eine Empfindung, ein Gefühl, ein Gedanke kann nicht für sich bestehen, so wenig wie eine Bewegung, sie sehen einen Träger voraus, das ist die Substanz. An einer förperlichen Substanz aber wollen die Bewußtseinsvorgänge nicht haften; man versuche es, in der inneren Anschauung ein Gefühl, eine Vorstellung einem Atom oder einer Gruppe von Atomen anzuheften, und man wird die Unvollziehbarkeit empfinden; das Einheitliche will an dem Ausgedehnten und Teilbaren nicht haften. Folglich muß man eine unausgedehnte oder einfache Substanz als Träger des Seelenlebens annehmen, dadurch wird allein seine innere Einheit faßlich und verständlich.

Daß die Anheftung eines Gefühls oder eines Gedankens an einen ausgedehnten Körper sich nicht vollziehen läßt, ist ohne Zweifel wahr. Aber nun mache man mit der unausgedehnten Substanz denselben

*) In einem Aufsatz: Gehirn und Seele, in den Essays (1885) S. 89 ff.

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