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individualisirenden Denk- und Urtheilsmethode ein echter Sohn und Typus deutscher Art wie Keiner, mit ganzer feuriger Seele ergriffen, mit erschütternder Ueberzeugtheit gepredigt und tief in Sinn und Herz des Volkes eingegraben. Wie er, hatte Niemand vor ihm Welt und Leben als ein Geschichtliches erkannt und empfunden, und so hat er geschichtlicher Betrachtung aller Seiten des Völkerlebens siegreich die Bahn gebrochen, durch alles national Besondere hindurch den Strom eines menschheitlichen Culturprocesses vernehmend und wiederum in allem Geschehenen, Gedachten, Gebildeten nach der vollen Summe seiner zeit- und örtlichen, natürlich-geistigen Entstehungsbedingungen forschend. Einer ganzen Familie von Wissenschaften hat er Ziel und Impuls gegeben und selbst ein schöpferisches Werde zugerufen, wie ja doch der ganze Complex der herrlich aufgeblüthen Wissenschaften vom Volksthümlichen in Herders fruchtbar anschauungsreichem Denken, in seiner allem Ursprünglichen in Sprache, Sitte, Kunst und Leben innig sympathischen Natur seine kräftigsten Wurzeln hat. Litteraturgeschichte und Sprachwissenschaft, Völkerpsychologie und Biologie, Pädagogik und Theologie 1) und selbst die Metaphysik haben die mächtigsten Anregungen, die werthvollsten Begriffe, die weitesten Perspectiven von ihm empfangen und haben noch viel zu thun, wollen sie das grandiose Programm erfüllen, das Herder ihnen entworfen hat. Den geschichtsphilosophischen Ruhm Deutschlands hat er begründet 2). In seiner Bahn und seines Geistes voll ist die philosophische Betrachtung der Geschichte geblieben, nicht nur in unserem Lande. Von Schelling und Hegel zu Ritter, Carrière und Lotze, von Coleridge zu Buckle, von Frau von Staël und Camille Jordan zu Quinet und Cousin und Renan3) und Taine zieht sich die schöne Kette der tiefen,

1),,Er ist es gewesen, der über den armseligen Streit der Rationalisten und Supranaturalisten um die unverstandenen Hülsen der Religion hinaus und auf den beiderseits gleich sehr übersehenen Kern der Sache hingewiesen hat, der die Theologie gelehrt hat, statt sich über die Eingebung der Schrift durch den heiligen Geist zu zanken, vielmehr die Schrift lieber selbst mit heiligem Geist und gesundem Sinn zu lesen, um sicher in ihr die Kunde von dem Göttlichsten der Menschengeschichte zu finden". O. Pfleiderer (in seiner Anzeige der Suphanschen Herder-Ausgabe in der protestantischen Kirchenzeitung No. 41).

"),,This last department of inquiry (the history of the human intellect.) we owe chiefly to Germany; for, with the single exception of Vico, no one even suspected the possibility of arriving at complete generalizations respecting the progress of man, until shortly before the french revolution, when the great german thinkers began to cultivate this, the highest and most difficult of all studies. England diffused a love

of freedom; France a Knowledge of physical sciense, while Germany, aided in some degree by Scotland, revived the study of metaphysics and created the study of philosophic history". Buckle, history of civilization in England III, 251.

$) Edgar Quinet hat deutsch gelernt, um Herder's ,,Ideen" ins Französische zu übersetzen. Renan schrieb 1870 an Straufs:,,Ich war im Seminar

oftmals überwältigenden Einwirkungen seiner Gedanken. Ganz kürzlich hat in England Flint (the philosophy of history in France and Germany. Vgl. F. Paulsen's Anzeige in der Lazarus - Steinthal'schen Zeitschrift VIII, 4) ihm eine eingehende Analyse gewidmet. (An Treue und Universalität des Auffassungsvermögens für die verschiedenen Formen menschlicher Bildung, ganz besonders für die ursprünglichen Formen, sowie für die Bezichungen des Menschen zur Natur wird er, nach des Verfassers Urtheil, von Niemandem übertroffen). Gleichzeitig erschien das ausgezeichnete Werk des Franzosen Joret über Herder und die deutsche Renaissance im 18. Jahrhundert, Zeugnis ablegend von der drüben noch immer fortzeugenden Kraft des genialen Deutschen, Zeugnis ablegend auch von einem erstaunlichen Grade der Vertrautheit des Verfassers mit allen Seiten und Falten seines Gegenstandes. Uns klagt Joret an, dass wir des grofsen Mannes geschichtliche Bedeutung nicht gehörig schätzen. Wohl durfte es ihm so scheinen, nicht eben lärmender Ruhm, nicht eben populäre Berühmtheit ist ihm bei uns zu Theil geworden, ein esoterischer Classiker, möchte man sagen! Aber immer hat in dem seit seinem ersten Auftreten abgelaufenen Jahrhundert die schöne Botschaft die er gebracht, begeisterte, dankbare, glaubensvolle Hörer gefunden, immer hat er ,,edle Geisterschaar verbunden" und gerade gegenwärtig, in dem wendungsreichen Jahrzehnt, in dem wir leben, scheint sein Genius zu erneuter, tiefgehender Wirksamkeit berufen. 1872 erschien Heinrich Boehmer's Schrift: ,,Geschichte der Entwickelung der naturwissenschaftlichen Weltanschauung in Deutschland", ein im höchsten Ton gehaltener Dithyrambus auf Herder der als eine culturgeschichtliche Heroengestalt, als Schöpfer des die Bildungsphase, in der wir stehen, beherrschenden Ideenkreises enthusiastisch gefeiert wird. In diesem Augenblick erscheint die erste umfassende wissenschaftliche Darstellung Herders, von Rudolf Haym, welcher seinen hochgeschätzten mit geistvollster Gründlichkeit, mit einer eigenthümlichen Verbindung scharfsinniger und schwungvoller Darstellungsweise verfassten Schriften über Hegel, Wilhelm v. Humboldt, die romantische Schule nun die Schilderung des Lebens und der zu St. Sulpice, ums Jahr 1843, als ich anfing, Deutschland kennen zu lernen durch die Schriften von Goethe und Herder. Ich glaubte in einen Tempel zu treten, und von dem Augenblick an machte mir alles, was ich bis dahin für eine der Gottheit würdige Pracht gehalten hatte, nur noch den Eindruck welker und vergilbter Papierblumen". Und wenn er weiterhin die wundervollen Sätze schreibt:,,ln Deutschland hat sich seit einem Jahrhundert eine der schönsten geistigen Entwickelungen vollzogen, welche die Geschichte kennt, eine Entwickelung, die, wenn ich den Ausdruck wagen darf, dem menschlichen Geist an Tiefe und Ausdehnung eine Stufe zugesetzt hat, so dass, wer von dieser neuen Entwickelung unberührt geblieben, zu dem, der sie durchgemacht hat, sich verhält, wie einer, der nur die Elementarmathematik kennt, zu dem der im Differentialcalcül bewandert ist“. Wieviel gebührt nicht Herder von dem schönen Lobe!

Werke des gewaltigen Anregers modernen Ideenlebens folgen lässt. ,,Wie mit neu erwachender Liebe", sagt Suphan (Bd. I, S. XI), hat sich bei uns in dem letzten Jahrzent die wissenschaftliche Forschung Herder wieder zugewandt. Auch im Auslande haben sich für ihn, der nach der Weise seines Sinnens und Schauens recht eigentlich zu einem Vermittler zwischen allen gebildeten Nationen berufen ist, neuerdings gewichtige Stimmen erhoben. Aber am meisten doch ist er der unsrige, und eben jetzt, nachdem so viel Grofses und Edles, das er verkündet oder herbeigesehnt, in Erfüllung gegangen, ist es an der Zeit, dass die Wirkungen dieses wunderbaren Genies sich in dem Bewustsein aller Gebildeten seines Volkes erneuern. Diese Ausgabe soll dazu helfen, und die Erwartung, in der sie unternommen ist, kann nicht täuschen, sofern der Deutsche bei dem Grundsatze verharrt, den idealen Mächten, denen er seine Gröfse verdankt, sich in treuer Verehrung und dankbarer Hingebung zu widmen".

Die neue Ausgabe, welche so dazu helfen will und, hoffen wir es, dazu helfen wird, dass in weitesten Kreisen der Gelehrten und Gebildeten noch einmal die ,,Morgensonnenstimmung" von Herder's Schriften, die intensive Lebendigkeit des grofsen Erweckers energisch wirksam werde, die neue Ausgabe ist selbst ein Zeugnis und eine Frucht seiner unerschöpften Wirkungsfähigkeit. „Ein junger Gelehrter", es sei gestattet, Worte Rudolf Hayms zu wiederholen mit dem ersten Eintritt in die wissenschaftliche Laufbahn für das Studium der Herder'schen Schriften gewonnen, wird von immer wachsender Bewunderung ihres anregenden Inhaltes ergriffen. Gleich erstaunt über die Fülle dieses tiefen und beweglichen Geistes, wie aufmerkend auf die sprachlichen Mittel, deren er sich bedient, auf die Art, wie bei ihm Gedanken und Empfindung am Ausdruck klebt, fasste er den Entschluss, sich ihm ganz in Dienst zu geben. Er erfährt sehr bald alle Beschwerden dieses Dienstes, bei dem es nicht gestattet ist, dem grofsen Manne nur bei seinen Siegen und Triumphen zu folgen, sondern der ihm zur Aufmerksamkeit auf den kleinsten Wink und zu Handreichungen der alltäglichsten Art verpflichtet. Er bedarf der Gunst und der Unterstützung derer, die dem Andenken Herder's, der Erbschaft seines Geistes und seiner Schriften, nahe stehen. Nur langsam kann er sich an den entscheidenden Stellen das Vertrauen erwerben, dass er dem weitaussehenden Unternehmen gewachsen, ein treuer Verwalter der Schätze sein werde, die er zu heben gedenkt. Schritt für Schritt erobert er sich das Terrain, er muss warten, es giebt Ausweichungen und Vertröstungen, Rückschläge und Hindernisse aller Art. Unverdrossen arbeitet er weiter, jede Stunde, die ein mühevoller Beruf ihm frei lässt, zu immer tieferer Durchforschung der Schriften benutzend, die ihm das Herz und den Sinn nun einmal gefesselt haben. Ausdauernd trotz aller Hemmungen, kraft der liebevollen Hingebung Zeitschr. f. d. Gymnasialwesen. XXXII. 1.

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an seinen Gegenstand, hat er eine neue Probe zu bestehen, als nun die Quellen reichlicher, nur zu reichlich fliefsen. Er sieht sich von einer Fluth von Handschriften umgeben, und wenn er hier auf ganz ungewohnte Schätze stöfst, so muss er ein andermal mit der Geduld eines Goldwäschers arbeiten, um zwischen werthlosem Staube hin und wieder ein kostbares Körnchen zu finden".

Was irgend peinlichste Sorgfalt und sichere Beherrschung philologischer Technik und Methode1) verbunden mit kritischem Scharfblick, Gefühl für Individuelles in Sprache und Stil und ausgebreitetem literarhistorischem Wissen im vielverzweigten Quellgebiete unserer klassischen Zeit ist der Herausgeber wie kein anderer heimisch zum glücklichen Gelingen der grofsen Arbeit beitragen können, nichts davon wird sie vermissen lassen. Die vorliegenden beiden Bände leisten dafür die zuverlässigste Bürgschaft. Gleichmäfsig hat Suphan seine musterhaften Bemühungen allen Seiten seiner beziehungsreichen Aufgabe zugewendet, hier vornehmen Fragen der Echtheits- oder der Wortkritik, dort den bescheidensten Dienstleistungen eines ,,Amanuensis". Die knappen, substantiellen Einleitungen zu den einzelnen Bänden orientiren in lehrreichster und anziehendster Weise über Vor- und Entstehungsgeschichte der einzelnen Schriften. Sie gehen weder rühmend noch rettend auf den Inhalt der Schriften ein, sondern suchen lediglich das historische Verständnis zu vermitteln. Von den Keimen und Trieben aus, die in den Studienheften des Autors verborgen liegen, verfolgen sie die Ausbildung der Schriften zu ihrer druckfertigen Gestalt, und wenn, wie dies öfters der Fall ist, in dieser letzten Gestalt die Idee, welche dem Autor vorschwebte, sich nur bruchweise verwirklicht, so versuchen sie aus den erhaltenen Plänen zu neuer Bearbeitung das Ziel, dem er zustrebte, festzustellen. In der Darstellung des Werdens liegt für viele Schriften Herder's zugleich die beste Erklärung. Ist diese gegeben und das Verhältnis des gereinigten Textes zu der früheren Ueberlieferung dargelegt, so ist des Herausgebers Arbeit gethan. Hier muss der Litterarhistoriker oder Biograph den Faden aufnehmen". (Bd. I S. X).

Die im Anhange der Bände gegebenen Anmerkungen machen die in den Studien- und Collectaneenheften zusammengedrängten Aufzeichnungen für die Erklärung nutzbar, decken Beziehungen auf, die zwischen Herder's Werk und der gleichzeitigen Litteratur bestehen, weisen die nach der Mode jener Zeit möglichst fern

1) Methode d. h. das dem Fall am meisten angepasste wissenschaftliche Verfahren. ,,Eine Behandlung des Textes nach ein und demselben Schema ist bei Herder nicht möglich. Ob von mehreren Ausgaben eines Werkes nun eine, ob alle, oder welche zur Geltung kommen sollen, welche ferner als Haupttext zu betrachten sei, dies sind Fragen, die je nach besonderer Erwägung entschieden werden müssen“. (Bd. I S. IX.)

hergeholten Citate und möglichst räthselhaft periphrasirten Autorennamen nach oder geben sprachgeschichtlich oder sonst irgendwie werthvolle Winke.

Nicht selten war Conjecturalkritik zur Heilung der Textschäden erforderlich. Hier wäre eine Reihe evidenter Emendationen zu verzeichnen, aus vertrautester Kenntnis des Schriftstellers geflossen und von einer über die besondere Stelle hinausreichenden Tragweite, Berichtigungen jener schönsten Art, welche Wissen voraussetzen und Wissen begründen 1).

Ein nicht unbeträchtlicher Theil des Inhaltes der beiden Bande war bisher noch ungedruckt, Anderes fehlt in der bisherigen Gesammsausgabe, so die erste Ausgabe von Herder's erstem gröfserem Werke, den Fragmenten, von deren Geschichte der Herausgeber eine überaus genaue Darstellung giebt. So wie sie in unserer Litteratur vor elf Jahrzehnten Epoche gemacht, die productiven Geister machtvoll erregt haben, so wie sie,,das kanonische Buch für die ästhetische Kritik des jungen Geschlechtes, mit ihrem morgenfrischen Wehen den Tag der Wiedergeburt einer echt nationalen Poesie eingeleitet haben", so liegen nun die Fragmente uns wieder vor, und das Wogen ihrer Bilder, das Sprühen der Gesichtspunkte, die Fülle der Ahnungen ergreift uns darum nicht minder, weil die von dem jungen Herder mit über vollen Händen ausgestreute Ideensaat so überschwänglich herrlich aufgegangen ist. Aus der Handschrift konnte der Herausgeber Stücke der umgearbeiteten zweiten Sammlung sowie zur dritten Sammlung Gehöriges hinzufügen (zusammen 138 Seiten), und auch das geistvolle zweite Stück der Schrift auf Thomas Abbt, von dem die ältere Gesammtausgabe angab, dass es nicht geschrieben sei, hat

1) In Herder's Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fragmente ist in der Originalausgabe Folgendes zu lesen: „,die beste Nachbarschaft hat indessen immer Vortheile und Nachtheile und zum Unglück wird die menschliche Bequemlichkeit eher diese als jene inne. Und so ist auch meinen Nachbarn mit den Litteraturbriefen ihnen, mir selbst und vielleicht auch den Lesern unbequem geworden". Was ist mit dem sinnlosen meinen Nachbarn" anzufangen? Der Herder-feste Herausgeber weifs Rath. Er erinnert sich einer Notiz seines Autors in einer Skizze zu den Fragmenten:,,der Infinitiv werde Substantiv wie im Englischen" und desgleichen einer Stelle in der Recension von Bodmer's Grundsätzen der deutschen Sprache (allgem. deutsche Bibliothek II, 1, 199), wo Herder die Verwendung der Verba oder Substantiva wiederum mit Hinweis auf englischen Sprachgebrauch empfiehlt und schreibt demgemäfs,,mein Nachbarn", eine evidente und eine instructive Berichtigung; sie bietet ein neues Beispiel und Zeugnis des von jener Zeit ab zu verfolgenden Bestrebens, der kurzangebundenen Energie des Englischen Einfluss zu verschaffen auf den deutschen Ausdruck, seine volle Breite ,,und geringere grammatische Beweglichkeit" auf diesem Wege zu überwinden. Das „Nachbarn" unserer Stelle ist in doppeltem Sinne ein solcher Versuch, denn neben der Substantivirung des Infinitivs ist es ein deutsches,,verbmaking", Nachhildung des im Englischen so leichten Functionstausches zwischen den Werthklassen (vgl. the neighbor and to neighbor). Es würde nicht unnützlich sein, der englischen Sprachader in unserer klassischen Dich

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