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mit dem lateinischen Aufsatze stehe und falle das Gymnasium. Darnach würde man also in Bayern, Würtemberg, Baden schon längst und seit Kurzem auch in Hessen keine Gymnasien mehr haben. Häten wir uns vor Uebertreibungen und schroffen Einseitigkeiten! In ganz Frankreich schreibt man im Baccalaureatsexamen lateinische Aufsätze freilich sind sie meist

darnach and dennoch möchte ich die Bildung der dortigen Lyceisten in keiner Hinsicht gegen die unsrer Abiturienten eintauschen. Wenn gediegene Franzosen selbst klagen, dass so erbärmlich wenig von den Klassikern des Alterthums gelesen wird, so dürfte auch bei uns die Frage so zu stellen sein: Ist es möglich, dass bei dem durchschnittlichen Umfange unsrer lateinischen Gymnasiallektüre ein Aufsatz mehr als die zusammenfassende Inhaltsangabe des kurz vorher gelesenen Stückes oder eine Sammlung mühsam eingeprägter Reminiscenzen sein wird? versteht sich, immer bei der schlichten Mehrzahl der Schüler, denen eine möglichst gleichmässige Bildung in allen Unterrichtsfächern zur Vorschrift gemacht wird. Noch bis vor dreifsig Jahren konnte man annehmen, dass jeder ernste Primaner mit seinem Ideenkreise mindestens zur Hälfte in den Alten steckte, zur Hälfte allenfalls in der classischen deutschen Literatur; jetzt ist das nicht mehr der Fall, ist auch unmöglich und selbst nicht einmal wünschenswerth. Die Erschütterungen des Jahres 1848 haben den Anfang gemacht, den Gesichtskreis auch von erwachsenen Schülern zu erweitern und theilweise zu verschieben; wie kann aber jetzt noch die Schule es verantworten, den Jüngling ein geistiges Klosterleben führen zu lassen, in welchem die dominirende Rolle von einer Uebung eingenommen wird, die im besten Falle das Duplicat einer andern viel werthvolleren des deutschen Aufsatzes ist? Damit will ich den Bildungswerth derselben für bedeutendere Naturen nicht herabsetzen, aber ich meine: der wirkliche Gewinn wird von der grofsen Mehrzahl der Schüler zu theuer bezahlt, und letztere sind es doch, für welche unsere Ordnungen zugeschnitten werden müssen. Ferner bin ich auch nicht der Meinung, dass die Gründlichkeit des lateinischen Sprachstudiums leiden, dass die Wirkung der Lektüre geschwächt werden soll, wie ich sogleich andeuten werde.

Seit am 31. December 1848 Gottfried Hermann die Augen schloss, haben lateinische Vorlesungen auf Universitäten mit Ausnahme der Uebungen in philologischen Seminarien so ziemlich aufgehört. Von den Philologen selbst werden nur noch kritisch-exegetische Schriften in lateinischer Sprache gedruckt; alles Andere schreibt man deutsch. Die Zahl der Schulmänner, welche auch nur ein Dutzend Bogen Latein für den Druck ausgearbeitet haben, ist gering. Lateinisch geschriebene Schulprogramme werden schon in Rücksicht auf das Publikum von Jahr zn Jahr seltener. Nun, wo die Gewohnheit abnimmt, da pflegt auch die Uebung sich zu mindern. Und dies ist mein zweiter, eigentlich durchschlagender Grund, gegen den lateinischen Aufsatz in Norddeutschland. Wie viele Lehrer, frage ich, geben sich der Sache mit Begeisterung hin1)? Wie viele besitzen die Resignation, nicht

1) Wie die nächstbetheiligten Kreise hin und wieder denken, zeigt der folgende wörtliche Auszug aus dem Briefe eines dem Schreiber dieses sonst ganz unbekannten preussischen Schulmannes: „Vor etlichen Tagen brachten Zeitungen die Nachricht, dass im Reichslande der lateinische Aufsatz jetzt

etwa hin und wieder auf lateinischen Stil sich zu verlegen, um das für die Schule nöthige Mafs der Gewandtheit sich anzueignen, sondern darin so heimisch zu werden, dass sie stets aus dem Vollen schöpfen, darin so wohl sich zu fühlen, dass sie andres Schätzenswerthe liegen lassen, dass sie, wie Roth und Nägelsbach, eine Lebensaufgabe darin erblicken? Denn auch hier gilt für den echten Jünger das Wort: vos exemplaria nocturna versate manu, versate diurna! Aber trifft es sich nicht vielfach so, dass der Lehrer, welcher den Gegenstand übernehmen soll, erst dann anfängt sich darauf ernstlich vorzubereiten? Und woher kommt das? Natürlich von der allgemeinen Richtung der Zeit und von der gegenwärtigen Richtung des philologischen Universitätsstudiums. Der lateinische Stil wird auf Universitäten nicht sonderlich mehr gepflegt; man beurtheilt darnach nicht mehr vorwiegend die philologische Bildung, man hat andere, vielleicht etwas einseitig betriebene, aber wissenschaftlich mehr förderliche Specialitäten. Der Wegfall der freien lateinischen Stilübungen wird aber auch den Gymnasien keinen Schaden bringen, wenn der richtige Ersatz an die Stelle tritt, welcher längst vorhanden ist und in den Exercitien liegt.

Das lateinische Exercitium für Prima ist in Norddeutschland meines Erachtens einer zweckmäfsigen Erweiterung und Ausbildung fähig, die ihm in Süd-Deutschland schon früher zu Theil geworden ist. So hoch ich die wissenschaftlichen Verdienste M. Seyfferts anschlage, so kann ich doch, und zwar durch die Erfahrung gedrängt, den Einfluss, welchen seine Bücher auf das Lateinschreiben in Schulen gewonnen haben, keinen glücklichen nennen. Insbesondere sind die aus Neulateinern geschöpften ,,Materialien für Prima“ den Schülern langweilig; auch die Palaestra hat einen zu abstracten Ton und die Progymnasmata sind nur höhere grammatische Uebungsstücke; verhältnismäfsig passend ist das Buch für Secunda. Die Scholae Latinae aber dürften unbefangenem Urtheile als eine Anleitung zum Eiertanz und zum Phrasendrechseln erscheinen. Um wie viel frischer präsentiren sich da die Uebungen von Nägelsbach! Sämmtlich deutsche Originalien; wie reizen

definitiv abgeschafft sei. Dieselbe wirkte auf mich, der ich seit Jahren unter dieser Last seufze, welche jeder Direktor gern seinem ersten Oberlehrer überlässt und von der ich schon vergeblich mit einem Plus von 4 Stunden wöchentlich mich loszukaufen gesucht habe, wahrhaft elektrisch, und ich sowohl wie meine Frau, die meine Seufzer in dieser Beziehung kennt, haben seitdem den lebhaften Wunsch in das Reichsland auszuwandern. Denn dass auch bei uns der lateinische Aufsatz, das Unfruchtbarste, Nutzloseste und Zeitraubendste, was es für Schüler und Lehrer geben kann, so bald schwinden sollte, dazu ist leider wenig Aussicht; er steht noch fest, wie ein rocher de bronze, und eine Erlösung ist für die an diesen Felsen Geschmiedeten nicht zu hoffen auf eine Generation hinaus. Ich bin, Gott Lob, ein tüchtiger und unverdrossener Arbeiter, der mit freudigem und trotz seiner Jahre (grade funfzig geworden) jugendlichem Eifer unter den Schülern verkehrt, aber diese Korrekturen machen mich nervös und verdrossen wider Willen, und der Director kann mir natürlich darin nicht helfen. Dazu kommt noch, dass wir ein im lateinischen Stil merkwürdig schwerfälliges Geschlecht hier haben u. s. w."

sie den Primaner grade durch die scheinbar abschreckende moderne Färbung, durch den Inhalt selbst! Wenn beim freien lateinischen Aufsatze der mittelmäfsige Schüler eigentlich nie in Verlegenheit gerathen kann

denn

er umgeht jede Schwierigkeit, er lässt den unbequemen Gedanken einfach fort, wenn er nicht sogleich den passenden Ausdruck zur Hand hat, und er verwässert überhaupt den Extract seines eigenen Geistes so heilst es hier: hic Rhodus, hic salta! Der originale deutsche Ausdruck soll mit dem möglichst gleichwerthigen lateinischen vertauscht werden, hier wird Anstrengung verlangt, das Gedächtnis herausgefordert, der Geschmack gebildet; hier kann Jeder zeigen, wie weit er die eigenthümlich römische Gedanken form aufgefasst hat, in Umbildung ganzer Perioden, in Weglassung, Zusätzen, Umschreibung, Verschiebung, Subordination und scharfer Darstellung des logischen Verhältnisses. Man muss dem Meister Nägelsbach selber zu Fülsen gesessen und solche Uebungen, wie er sie im Seminar anstellte, mitgemacht haben, um den ganzen Reiz derselben zu empfinden. Eine hübsche Sammlung in Nägelsbachs Sinne hat auch Weidner herausgegeben (Duisburg 1865), dessen Vorrede dies ebenfalls bezeugt. Dass solche Studien noch in gröfserer Zahl veröffentlicht werden, ist schon deshalb sehr zu wünschen, weil es seine Bedenken hat, wenn jeder Lehrer den Text zu den Exercitien selbst componirt. Das können nur Auserwählte, wie Rector R. Schmid in Stuttgart, dessen vortreffliche Schrift,,Aus Schule und Zeit" Proben enthält, welche nicht blofse Schaustücke sind, wie ich selbst an Ort und Stelle mich zu überzeugen Gelegenheit gehabt habe. Eher ist es vortheilhaft, als Vorübung und nebenher lateinische Originalien zu Grunde zu legen, die der Lehrer selbst nach stilitischer Regel überträgt und dictirt, wobei auch schliefslich nach der Correctur und Durchnahme um die Probe zu machen, der Urtext vorgelesen wird. Dem Lehrer erwächst dabei natürlich die Aufgabe Nägelsbach Stilistik gründlich zu kennen, ein Buch, welches dem Schüler in die Hand zu geben, durchaus überflüssig und verkehrt ist. Noch weniger sind die neuesten Extracte und Excerpte aus Nägelsbach und Seyffert zu empfehlen: eitler Gedächtniskram! Bei der Lectüre der Classiker dagegen, wo wissenschaftlich richtig und geschmackvoll übersetzt werden soll, müssen auch die nöthigen stilistischen Regeln und Anweisungen gegeben und geübt werden; diese höhere Sprachvergleichung ist mindestens ebenso wichtig, wie die Etymologie der einzelnen Vokabeln.

Es ist meine feste Ueberzeugung, dass unsere Schulen bei diesem Verfahren an Intensität der Bildungsübung nichts verlieren werden, auch dann nicht, wenn ihnen gestattet wird, den lateinischen Unterricht in Prima auf sieben Stunden wöchentlich herabzusetzen. Die Ansichten unserer Gymnasialdirectoren finden sich in den kürzlich gedruckten Verhandlungen der Directoren Conferenz der elsass-lothringischen, höheren Lehranstalten am 30. November und 1. December 1877 auf Seite 13 ff. und 20-231) in Kürze

1) In diesen Verhandlungen, welche bei J. Schneider Strafsburg 1878 in Druck erschienen sind (Preis 3 M.), findet man auch die Referate über den Hauptgegenstand der Besprechung, den Unterricht in der Mathematik and Naturgeschichte abgedruckt, welche vor manchen ähnlichen den Vorzug haben, dass sie von erfahrenen Fachlehrern abgefasst sind.

wiedergegeben. Der Unterzeichnete aber darf zum Schluss die Bemerkung nicht vorenthalten, dass die besonderen Sprachverhältnisse bei einem Theile unserer elsass-lothringischen Schüler auf die Entscheidung dieser Frage eben so wenig wie auf den Wegfall des griechischen und des französischen Scriptum Einfluss geübt haben, dass vielmehr sein persönliches Urtheil in jeder Provinz des deutschen Vaterlandes und er hat mehrere in amtlicher Thätigkeit kennen gelernt über diese Fragen ganz das gleiche sein würde.

Strafsburg i/E.

Baumeister.

Berichtigungen.

S. 3 Z. 9 v. o. lies Nichtwirklichkeit st. Wirklichkeit. S. 3 Z. 5 v. u. lies abzusprechen st. abzustreifen. S. 4 Z. 20 v. o. lies Doederlein statt Doederlin. S. 7 Z. 12 v. o. lies Völkerpsych. st. Völkergesch. S. 8 Z. 17 v. o. lies Identitätsparallelismus st. Identitätsparallismus. S. 9 Z. 10 v. o. lies Zeitgeltung statt Zeitgestaltung. S. 10 A. 1 Z. 3 v. u. lies Ausdrucksweise st. Auskunftsweise. S. 11 Z. 18 v. u. lies Verneinungspartikel statt Verneinungsartikel. S. 13 Z. 1 v. o. lies würde st. wird. S. 13 Z. 14 v. o. lies aus st. uns. S. 13 Z. 20 v. o. lies wofür statt wodurch. S. 28 13 Z. 28 v. o. lies dieser st. diesen. S. 14 A. Z. 3 v. u. lies errant statt erant. S. 16 Z. 3 v. u. lies Verdichtung st. Verständigung. S. 17 A. 1 Z. 12 v. o. lies beides st. bereits. S. 18 Z. 15 v. o. lies II. vor Indessen. S. 100 Z. 18 lies homöopathische st. homöopatische. S. 101 Z. 17 v. u. lies Bedenken st. oben. S. 117 Z. 4 v. u. lies dieses st. dieser. S. 119 Z. 10 v. u. lies p. 34 D st. pg. 34 A. S. 130 Z. 21 v. o. lies mit st. und.

Das auf S. 19 der jüngst besprochenen Schrift „Die Consecutio temporum bei Cäsar" für den Gebrauch von si ob angeführte Citat, das der Herr Referent vergebens gesucht hat, ist leider durch einen Druckfehler falsch angegeben worden. Dasselbe steht nicht c. I, 85, 4, sondern ib. 83, 4: postero die munitiones institutas Caesar parat perficere; illi vadum fluminis Sicoris temptare, si transire possent. Auf einzelne Punkte des Referats werde ich zu gelegener Zeit zurückkommen.

Eisenberg.

Procksch.

ERSTE ABTHEILUNG.

ABHANDLUNGEN.

Zu Tacitus Germania.

Folgende Bemerkungen über ausgewählte Stellen der Germania sollen vornehmlich beweisen, wie in den neuesten Bearbeitungen dieser Schrift, bei all ihrer sonstigen Verdienstlichkeit, doch die sprachliche Seite der Erklärung hinter der sachlichen etwas zu sehr zurückgetreten ist und wegen Mangels an Schärfe in Auffassung der eigenthümlichen taciteischen Form die Conjecturalkritik zu weit Platz gegriffen hat. Man hat Zweideutigkeiten und Unebenheiten des Ausdrucks gesehen, wo solche gar nicht vorliegen und entweder zu Vermuthungen gegriffen oder wo solche sich nicht leicht boten, zu der im Vergleich zu den Annalen allerdings anzuerkennenden Unreife des Stils der Germania seine Zuflucht genommen.

c. 2-4. Sogleich hier ist der Zusammenhang namentlich deshalb schwierig, weil bei des Schriftstellers Bemühen um nachdrückliche Kürze die Uebergangsformen, so weit sie blofse Formen sind und den Gedanken nicht materiell bereichern, gemieden worden sind. Der Hauptgedanke:,,Die Germanen sind Eingeborene und kein Mischvolk" steht an der Spitze, und ihm folgt zunächst eine kurze Begründung vom Standpunkte des Römers aus. Mit celebrant beginnt dann die Begründung aus dem eignen Glauben und der Sitte der Germanen, und hier ist die Voranstellung des Verbums bedeutsam. Celebrant erhält dadurch die Kraft von celebrant quidem. Etwas weitläufig umschrieben, würde der Uebergang so heifsen: Und wenn das blofse Vermuthungen sind, so ist doch so viel sicher, dass sie in alten Gesängen u. s. w.“ Was nun bis vocentur man beachte den Conjunctiv Zeitschr. f. d. Gymnasialwesen. XXXII. 5.

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