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ERSTE ABTHEILUNG.

ABHANDLUNGEN.

Giebt es in der griechischen Sprache einen modus irrealis?

Man kann dieser Frage kaum aus dem Wege gehen, seitdem in jüngster Zeit die Existenz eines ,,Modus der Nicht wirklichkeit" nicht nur von dem verdienten Grammatiker, der ihn als solchen entdeckte, während eines Vierteljahrhunderts mit Beharrlichkeit gelehrt worden ist, sondern diese Lehre auch in eine ausgezeichnete griechische Schulgrammatik, welche bereits in 5ter Auflage vorliegt, Eingang gefunden hat, so zwar, dass dem Hinweis auf ein hier etwa noch vorliegendes wissenschaftliches Problem und dessen zunächst nur hypothetische Lösung ein Wort nicht gegönnt worden ist, nicht einmal in der Vorrede des Buches, in welcher doch andere vollständig erwiesene" Resultate der Aken'schen Forschung, die der Verfasser besagter Schulgrammatik anerkennt, namhaft gemacht sind. Das sieht beinahe so aus, als wolle die Aken'sche Hypothese sich allmählich als eines zu den übrigen grammatischen Dogmen, mit denen die landläufigen Syntaxen gesegnet sind, zunächst in die Schulgrammatik einbürgern. Und wie es dann mit solchen ,,Grundbegriffen" wohl zu gehen pflegt, weifs man ja auch sie gehören zu den Dingen, welche sich, in gewissen Kreisen wenigstens, wie eine ewige Krankheit forterben können. Die Geschichte der griechischen Grammatik, und natürlich nicht diese allein, ist reich genug an Beispielen davon, dass geistreiche Irrthümer sich nicht blofs einer achtbaren Lebensfähigkeit, sondern auch der sorgsamsten Pflege und Cultur seitens der Mit- und Nachforscher erfreuten. Und das ist ja auch weder verwunderlich, noch tadelnswerth, wenn anders es Irrthümer gibt, Zeitschr. f. d. Gymnasialwesen. XXXII. 1.

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welche in den Entwicklungsphasen wissenschaftlicher Probleme einen man kann sagen nothwendigen Platz haben. Wünschenswerth aber bleibt es darum nicht weniger, dass jene möglichst bald als solche erkannt werden und nicht allzu tief sich einnisten. Gründe genug, um auch jene Aken'sche Lehre von dem Modus der Nichtwirklichkeit einmal eingehender auf ihren wahren Werth zu prüfen und den neuen Eindringling in das grammatische Gehäge etwas dringlicher nach seiner Legitimation zu fragen.

Und damit man nicht glaube, dass ich gegen Windmühlen zu fechten gesonnen sei, oder als ein verbissener,,canis grammaticus“ eine Strohpuppe anbelle, so sei von vornherein betont, dass wir in dem Ausdruck,,Modus der Nichtwirklichkeit",,Modus irrealis“ nicht etwa einen jener zahlreichen unschuldigen grammatischen Termini vor uns haben, welche auf tiefere wissenschaftliche Bedeutung keinen Anspruch erheben1); nicht eine bequeme Bezeichnung für eine bestimmte, vielleicht nur eigenthümlich nüancirte Verwendung eines der alten, landesüblichen Modi, wie man etwa zu Gunsten der didaktischen Praxis denselben Genitiv in einen genitivus subj., obj., partit., qualitatis u. dgl. scheidet; sondern einen Terminus, der einer wissenschaftlich giltigen grammatischen Kategorie entsprechen soll, der ein eigenartiges und selbständiges Moduswesen oder wenigstens die letzten erhaltenen Reste eines solchen zu der lange versagten Anerkennung bringen soll. Aken lehrt nämlich zum erstenmal, so viel ich weifs, in zwei Güstrower Programmen v. J. 1847 § 6 und 1850 § 5, dann in einer Gratulationsschrift v. J. 1853, in dem Progr. 1858 Cap. 13, weiter in verschiedenen Recensionen und Abhandlungen der Zeitschriften3), am ausführlichsten in seinem Buch: Die Grundzüge der Lehre vom Tempus und Modus im Griechischen, 1861, und zuletzt in seiner Griechischen Schulgrammatik, 1868, und in Entgegnungen auf Kritiken derselben, bei den wesentlichsten Bestimmungen sogar im Wortlaut sich treu bleibend, wenn ich die Hauptsache möglichst kurz und präcis aussprechen soll, folgendes: Die griechischen Präterita hätten erst später vergangene Wirklichkeit, ursprünglich nur absolute Nichtwirklichkeit ausgedrückt, und eben dies bezeichneten sie in gewissen Fällen ihrer Anwendung noch

1) Nur in diesem Sinne scheint Autenrieth, Grundzüge der Moduslehre im Griech. u. Latein. 1875 den Ausdruck Irrealis zu gebrauchen; s. § 1 u. Anm. 1, § 44 u. 54.

2) Z. B. Archiv für Philol. 1853 S. 42 ff. 1864 S. 261.

Zeitschr. f. Gymnasialw.

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immer, nämlich in den sog. irrealen hypothetischen Sätzen, Wunschsätzen u. s. w. Dieser thatsächliche Gebrauch der Präterita als,,Modi der Nicht wirklichkeit" lasse sich nämlich befriedigend nur erklären, wenn man anerkenne,,,dass die modale Bed. der Präter. ihre ursprüngliche, die temporale erst die abgeleitete ist";,,d. h. zur Bedeutung der Vergangenh. gelangten diese nur dadurch, dass die Vergangenheit das erste Nichtwirkliche war, wofür die Sprache eines Ausdrucks bedürftig wurde; ausgesprochen war durch sie immer nur die Wirklichkeit; dass die Form hernach schon im Griech. gewöhnlich, im Deutschen und Latein allein als temporale galt, ist eben der älteste Vorgang der Verwendung urspr. modalen Ausdrucks für temporalen." Gr. § 438b T. u. M. § 62 ff. Dazu vergleiche man noch Gr. § 433:,,Während das Latein den Weg von Wirklichkeit bis zur Nichtwirklichkeit nur in drei, das Deutsche gar nur in zwei Stufen ausgeprägt hat, finden sich dafür im Griechischen vier Stufen: 1. Indicativ Wirklichkeit; 2. Conjunctiv Erwartung; 3. Optativ das rein Gedachte; 4. die Indic. Präter. Nicht wirklichkeit." Das ist deutlich genug gesprochen, und somit wäre denn die Zahl der griechischen Modi glücklich um einen vermehrt, ein unverhoffter Zuwachs, den man dem Modalsystem fast gönnen könnte zur Ausgleichung so mancher wirklicher und beabsichtigter Einbufsen, die sich dasselbe im Laufe der Zeit hat gefallen lassen müssen. Denn nicht nur dass thatsächlich in unserm Sprachstamm, schon innerhalb der alten Sprachen der modale Ausdruck abgenommen, der temporale zugenommen hat, wofür die Bildungsgeschichte des Futurum einen Beleg bietet, und dass demnächst in den modernen Sprachen an Stelle der flexivischen Bezeichnung modaler Verhältnisse vielfach Adverbia, feinsinnige conjunctionale Bildungen, Hilfsverba und andere das ursprünglich modale Moment des Ausspruchs ablösende und isolirende Ausdrucksmittel getreten sind: nein, auch die Grammatiker selbst, besonders jene ehedem so zahlreiche Species unter ihnen, welche, bisweilen ohne übergrofse Achtung vor den concreten Gestaltungen des Sprachgeistes, die Grammatik in souverainer Weise nach abstracten philosophischen Kategorien construirt, haben sich nicht gescheut, der Sprache diesen oder jenen Modus aus höheren Gründen einfach abzustreifen. Ich will gar nicht reden von dem verdienten Sanchez, der in seiner Minerva seu de causis linguae Latinae commentarius cp. XIII, radical wie gewöhnlich, die Modi überhaupt proscribirte und statt derselben nur eine zwiefache Tempusform anerkennen wollte. Aber wie

zahlreichen Anläufen ist der Imperativ, wie zahlreichen besonders der Optativ ausgesetzt gewesen. So wollte z. B. Vater, Versuch einer allgemeinen Sprachlehre, 1801, S. 208 den Optativ und den Imperativ nicht als eigentliche Modi anerkennen, sondern gleich den inchoativa, frequentativa, desiderativa nur als Verbalformen, deren charakteristische Formen blofs die Bedeutung eines Hilfsverbum hätten; so bezeichnete Bernhardi, und nach ihm andere, in seiner F. A. Wolf gewidmeten Reinen Sprachlehre, 1801 S. 420 den Imperativ als ,,so einen entbehrlichen Modus", den Optativ aber S. 237 als ,,nur eine poetische Schönheit" der griechischen Sprache. Denselben Imperativ hält Herling, Vergleichende Darstellung der Lehre vom Tempus und Modus, 1840 S. 162,,nicht für einen eigentlichen grammatischen Modus, wie den Indicativ und Conjunctiv... sondern nur, wie die Frage, für eine besondere Redeweise, die gleichwohl auf die Flexion einen Einfluss. übte." Wie speciell die griechische Grammatik in z. Th. sehr berufenen Vertretern Decennien hindurch und bis auf die neueste Zeit herab den Optativ nur als einen Conjunctiv der Präterita glaubte ansehen zu müssen, das zu erwähnen ist völlig überflüssig. Umgekehrt erkannte Doederlin, Reden und Aufsätze, 1843, erste Samml. S. 383 ff. nur Indicativ, Optativ und Imperativ als wirkliche Modi an, während ihm der Conjunctiv,,seinem Inhalte nach einerlei mit dem Imperativ" ist.

Man würde Unrecht thun, diese Meinungen zu belächeln, wie wenig sie auch stichhaltig sind; denn sie alle stehen in einem Zusammenhange relativ werthvoller Gedankenreihen und syntaktischer Systeme von z. Th. noch immer einflussreicher Geltung. Nicht minder aber jener embarras de richesse, mit welchem andere Grammatiker die Sprache beglückten, die freilich überwiegend noch den Anfängen syntaktischer Forschung überhaupt angehören, ich meine jener Zeit, wo man die Kategorie des Modus erst zu entdecken begann, indem man das modale Element des Ausspruchs erst nach und nach ablöste von den verschiedenen Haupttypen des Satzes, die, weil durch hervortretende declamatorische Unterschiede oder einleuchtende Differenzen des Gedankens von einander geschieden, leichter erkennbar waren als die eigentlichen Modalunterschiede. Bis endlich jene Ablösung im Bewusstsein der Grammatiker sich vollzogen hatte und das geschah vollkommen wohl erst bei den Grammatikern des Augusteischen Zeitalters, konnte jeder modus loquendi noch leicht für einen modus verbi genommen werden. So weifs denn, um nur Ein Beispiel anzu

führen, noch Diomedes (Keil, Grammatici Lat. I. p. 338) von. solchen zu berichten, die bis zu 10 oder 11 Modi in der lateinischen Sprache anerkannten, nämlich aufser den auch von ihm unbedingt acceptirten finitivus (d. i. indicativus), imperativus, optativus, subjunctivus und infinitivus noch einen promissivus, impersonalis, percontativus, conjunctivus, adhortativus und participialis. Und mit dem hier genannten percontativus sehen wir noch Harris in seinem Hermes (Uebersetz. von Ewerbeck mit Anm. von F. A. Wolf, 1788, S. 124 ff.) vielfach und unbedenklich operiren.

Also etwas so ganz Unerhörtes ist es nicht, wenn Aken gewagt hat, den scheinbar geschlossenen Modusbestand der griechischen Sprache zu ändern. Aber selbst die Art, wie er das gethan, durch Einführung eines Modus der Nichtwirklichkeit auf Kosten des Präteritum ist nicht vollkommen neu, wie ja selten neue Gedanken ohne Vorgänger oder doch Vorstufen sind. Aken geht, wenn wir der Darstellung in seinem Hauptwerk, Temp. u. Mod., folgen, zwecks der theoretischen Begründung seiner Hypothese, dass die Augmenttempora ursprünglich,,nicht temporaliter, sondern nur modaliter sich vom Indic. ihres Haupttempus scheiden" von dem Entwurf einer genetischen Entwicklung der Tempora aus, deren Hauptsatz, enthaltend eine Reconstruction dieser Genesis in ihren einfachsten Umrissen nach ,,historischen Combinationen" § 13 unverkürzt folgendermafsen lautet: „Die Präsentia, d. h. die Hpttemp. waren die ursprünglich einzige Tempusform; schon deshalb konnte es ihre Aufgabe nicht sein, etwas als gegenwärtig auszusprechen. Aber, da die älteste Sprache, wie alles Denken, von sinnlicher Auffassung ausgeht, auch das Geistige nur unter solchem Bilde zu fassen vermag, (weshalb z. B. auch zur Bestimmung des Wesens der Gottheit Thaten derselben angegeben werden), so war das sinnlich vorliegende allein des Ausdrucks bedürftig, und dies war zugleich gegenwärtig. Im Gegensatz dazu bildete sich zunächst eine Form für das nicht sinnlich vorliegende; in dieser fand dann theils die Vergangenheit ihren Ausdruck, da diese, als doch schon einmal sinnlich erfasst gewesen, solcher Anschauung weit näher lag als die Zukunft, die noch völlig dem Reich des Gedachten angehört; theils blieb jene Form in ihrer modalen Bedeutung, wenigstens noch im Griechischen, daneben bestehen, in welcher sie Nicht wirklichkeit ausspricht. Denn, wo nur das sinnlich Gegenwärtige als etwas wirkliches galt, da musste das nicht sinnlich vorliegende etwas

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