Page images
PDF
EPUB
[ocr errors]

>> membrum<< zu Schulden hat kommen lassen. Ich hoffe im Namen des gesunden Verstandes, dass Marx und Lobe den von Reicha eingeführten Missbrauch nicht für die Ewigkeit zur Geltung gebracht haben, sondern dass es noch Zeit ist, zu der schönen Nomenklatur der Alten im richtigen Gebrauche der Ausdrücke >> Periode « und »rhythmisches Glied« zurückzukehren.

Methode und Disposition des Buches ist der »Griechischen Metrik«< so ähnlich wie möglich geworden. Der Grund davon liegt weniger darin, dass der Mitherausgeber der » griechischen Metrik«< zugleich der Verfasser des vorliegenden Buches ist, als vielmehr in der wirklichen Wesensidentität beider Disciplinen. Die letztere ist es, welche bewirkt hat, dass die moderne musikalische Rhythmik genau angelegt ist wie die griechische Metrik oder vielmehr wie ich die griechische Metrik anlegen würde, wenn ich sie noch einmal zu schreiben hätte. Was die Differenzen betrifft, so konnten in der griechischen Metrik die Beispiele viel zahlreicher sein, als hier in der musikalischen Rhythmik. Hier war bei der unübersehbaren Masse der in Frage kommenden MusikKompositionen eine durchgreifende Beschränkung nöthig. Die antike Poesie ist im Ganzen nur so karg uns zugekommen, dass man hier die vorhandenen Beispiele fast erschöpfend beibringen durfte. Und von den griechischen Dichtern liegt für Pindar, der nun einmal den historischen Ausgangspunkt der antiken Metrik bildet, seit der Boeckh'schen Ausgabe ein im Ganzen durchaus mit der richtigen Kolotomie versehener Text vor, und durch G. Hermann ist auch dem Aeschylus, neben Pindar der wichtigsten metrischen Quelle, eine Textausgabe zu Theil geworden, durch welche die Aeschyleische Kolotomie zwar minder sicher steht als die Pindar'sche, immerhin aber doch von der Art ist, dass sie ohne viele Abweichungen einer griechischen Metrik zu Grunde gelegt werden konnte. Aber wo giebt es Ausgaben unserer grossen Komponisten, in denen dasselbe bezüglich der Rhythmik geleistet wäre, wie für Pindar durch Boeckh oder auch nur wie für Aeschylus durch Hermann? Hat man doch die Nothwendigkeit einer Kolotomie für die Werke der Komponisten bis jetzt überhaupt noch nicht empfunden, so nothwendig die Abtheilung in Kola, Perioden und Systeme oder Strophen für

die Vortragenden behufs richtiger, geschmackvoller Ausführung auch sein würde! Wenn die Gedichte der Alten nicht in Kola u. s. w. abgetheilt wären, wie würde der Leser sie rhythmisch vortragen können? Denken wir uns Pindarische Gedichte ohne jene Abtheilung, würde man sie anders als Prosa, im besten Falle anders als unendliche Poesie recitiren können? Nun steht die Sache für die musikalische Komposition zwar anders, bei Beethoven und Mozart kann der Vortragende rhythmische Grenzen auch ohne phrasirte Editionen bald herausfühlen und sie durch seinen Vortrag zu Gehör bringen, aber viel, viel schwerer ist dies z. B. bei Bach, der nicht eine einzige Andeutung der rhythmischen Gliederung, nicht durch Legatozeichen, noch auf andere Weise zu geben pflegt, denn selbst die Taktstriche sind in den meisten Fällen keine rhythmischen Grenzbestimmungen. So hört man denn die Bach'sche Musik fast durchweg als eine unendliche, rhythmuslose. Und wie häufig kommt das auch für die Werke anderer Komponisten vor? Ist doch Lussy eigentlich der erste, der die Nothwendigkeit, die Kolagrenzen eines Musikstückes durch bestimmte Zeichen anzudeuten, erkannt und ausgesprochen hat.

In einer rationelleren Weise als der Lussy's sind in meiner und Melgunow's rhythmischer Ausgabe Bach'scher Fugen die Kola-, Perioden- und Strophengrenzen angegeben, wodurch jene Fugen nun auf denselben Standpunkt wie etwa die Pindarischen Gedichte durch Boeckh's Ausgabe gestellt sind. Was Lussy will und für einige wenige Melodien ausführt, würde etwa der Hermann'schen Aeschylus-Ausgabe entsprechen, in welcher nur die Kolagrenzen angegeben sind, die Zusammengehörigkeit mehrerer Kola zu der höheren rhythmischen Einheit, welche wir mit dem alten Pindar-Scholiasten Periode nennen, unbemerkt geblieben ist.

Nicht bloss die Kola-Grenzen, sondern auch die PeriodenGrenzen ausfindig zu machen und anzuzeigen, hat für ein Musikstück ungleich mehr praktische Bedeutung als für die blosse Poesie, da, wie das vorliegende Buch zeigen wird, die PeriodenGrenzen das Crescendo und Diminuendo des musikalischen Vortrages bestimmen.

Die Hauptaufgabe dieses Buches ist es, in dem Musiker von

Fach das Bewusstsein der rhythmischen Gliederung nach Kola, Perioden und Systemen, und dass eben hierin der gesammte Rhythmus bestehe, zu erwecken und lebendig zu machen und ihm zu zeigen, wie er diese Gliederung zum Ausdruck bringe. Die Beispiele, die ich für meine Darstellung des Rhythmus nöthig hatte, konnte ich nur so vorbringen, dass ich selber sie hier zum ersten Male mit den rhythmischen Grenzzeichen versah oder, mich philologisch auszudrücken, dass ich selber die Kolotomie vornahm. Wollte ich den Umfang des Buches nicht allzusehr ausdehnen, so musste ich mich in Beziehung auf das herbeigezogene Material in engen Grenzen halten und es musste hierdurch diese musikalische Rhythmik ein anderes Aussehen erhalten als die griechische Metrik. Da habe ich nun freilich bezüglich des Materials einen anderen Standpunkt als das Lussy'sche Buch anlegen müssen. Beliebte Klavier-Kompositionen aus der Kategorie der sogenannten Salon-Musik und beliebte OpernMelodien und Lieder konnten mir hier wenig helfen. Ich musste in erster Instanz auf Bach zurückgehen, als denjenigen, welcher in der gesammten modernen Musik die grösste rhythmische Fülle vertritt, und ihn als solchen den Musik-Studirenden zum Bewusstsein bringen. Wenn ich vorwiegend die Bach'schen Instrumentalfugen herbeigezogen habe und nicht die Suitensätze, wie Philipp Spitta I, 784 anräth, so werde ich für die vorliegende Arbeit auf seine Zustimmung hoffen dürfen. Die verschiedenen Gründe, welche gerade das Studium der Instrumentalfuge, um Einsicht in unsere moderne Rhythmik zu gewinnen, so ausserordentlich geeignet machen, werden zum grössten Theile aus diesem Buche selber zu ersehen sein. Hier nur dies Eine, dass Bach in seinen Fugen dieselbe rhythmische Massbestimmung wie Aristoxenus, nämlich den untheilbaren Chronos protos, zu Grunde gelegt hat, wogegen er in den Suiten und sonstigen Musikstücken sich ebenso wenig wie Haydn, Mozart und Beethoven den Chronos protos zu zertheilen scheut.

[ocr errors]

Wir dürfen uns nicht scheuen auszusprechen, dass die Bach'schen Instrumentalfugen für die Wissenschaft der modernen Rhythmik dieselbe grundlegende Bedeutung haben, die für die Doktrin der griechischen Metrik nach dem Urtheile aller philologischen

Fachmänner den Pindarischen Gedichten zukommt. Nebenbei war es freilich auch meine Absicht, den Musik-Studirenden ein wenig das Interesse an der Schönheit Bach'scher Musik zu erwecken. Es handelte sich bei mir nicht bloss um das, was man aus den Werken des grossen Meisters in rhythmischer Beziehung lernen kann, sondern fast noch mehr war mir die Bach'sche Musik Selbstzweck.

Vielleicht bin ich ungerecht gewesen, dass ich neben den Bach'schen Fugen den Klavier-Sonaten Beethoven's die meiste Bedeutung geschenkt habe. Das war aber nicht etwa bloss individuelle Sympathie, sondern ich glaubte damit den billigen Wünschen derer, die mein Buch lesen und studiren wollen, entgegenkommen zu müssen. Dürfen wir in rhythmischer Beziehung dem grossen Bach etwa die Stellung Pindar's anweisen (ich bemerke, dass ich niemals Horazens Urtheil über Pindar habe beistimmen können), so wird der Kunst Beethoven's für die moderne Welt dieselbe Stellung zu vindiciren sein, wie innerhalb der antiken Welt der Kunst des Aeschylus, ein Vergleich, bei welchem ich nicht weiss, ob Aeschylus oder Beethoven mehr durch denselben geehrt wird.

Wenn das vorliegende Buch auch hauptsächlich im musikalischen Interesse geschrieben ist, so wird es leicht begreiflich sein, dass ich manches Ergebnis dieser meiner Studien, welches von reinem philologischen Interesse ist, nicht unterdrücken mochte. Dahin gehört, was über die sekundären RhythmenGeschlechter der Alten, den Logos epitritos und triplasios, über die von G. Hermann sogenannte Basis und über den irrationalen Takt des Aristoxenus gesagt ist. So lange es mir nicht verstattet war, die Bach'schen Fugen für die Disciplin der Rhythmik herbeizuziehen, so lange blieb mir eine Analogie der modernen Musik für dasjenige, was Aristoxenus irrationalen Takttheil nennt, unbekannt. Dasselbe ist auch von der metrischen Thatsache zu sagen, welche Hermann als Basis bezeichnet. Wie weit freilich die Musiker bei Bach und sonst die Irrationalität in Haupt- und Binnen - Căsuren zum vernehmbaren Ausdruck bringen wollen, muss billiger Weise ihrem Ermessen überlassen bleiben: ich habe mich über diesen Punkt so masshaltig und bescheiden wie nur möglich ausdrücken zu müssen geglaubt.

Wir haben in dem Vorausgehenden die thatsächliche Beziehung angedeutet, in welcher Bach, ihm selber unbewusst, für seine Rhythmik zur klassischen Griechenzeit steht, mehr oder weniger auch alle übrigen Komponisten. Die Rhythmik ist bei allen Kunst- und Kulturvölkern aller Zeiten wesentlich dieselbe. Der grosse Meister des 18ten Jahrhunderts war aber deutscher Künstler, neben Beethoven, Weber, Wagner ist er der deutscheste aller grossen deutschen Komponisten. Es wäre unerhört, wenn er nicht als Rhythmiker auch zugleich ein Sohn seiner Zeit und seines Volkes sein sollte. Ein altes Erbgut der deutschen Kunst bis auf unsere Tage, zu dem es bei den Griechen keine oder nur geringe Analogie giebt, ist die Stollen- und Abgesangs-Strophe, welche sich aus der Zeit der Kreuzzüge im lebendigen Flusse des deutschen Volksliedes erhalten und namentlich der Choralstrophe des protestantischen Kirchengesanges eine feste typische Form gegeben hat. Es kann bei Goethe's Vorliebe für national-deutsche Kunst und Poesie nicht auffallen, dass sich in seiner Lyrik eine entschiedene Hinneigung zu national-deutscher Strophe und -deutschem Verse zeigt, viel mehr als z. B. bei Schiller. Noch entschiedener fast als in der Goethe'schen Lyrik tritt in der Bach'schen Instrumental-Fuge das Wesen der deutschen Minnelieds- und Kirchenlieds - Strophe zu Tage. Es darf getrost gesagt werden, dass die Konstruktion der Bach'schen Instrumental - Fuge ohne ein Rekurriren auf jene deutsche Strophenform nicht zu verstehen ist. Nur derjenige Vortrag Bach'scher Fugen wird der Komposition genügen können, wird wirklich poetische Kunstwerke allerersten Ranges zur Anschauung bringen, welcher in ihnen die rhythmischen Abschnitte zu finden. und dem Zuhörer fühlbar zu machen versteht, wie sie im protestantischen Kirchenliede durch die Perioden des Stollens, Gegenstollens und Abgesanges markirt werden. Die alten Fugenregeln über Dux, Comes, Thema, Antithema, Zwischensatz, Reperkussion werden zwar fortdauernd ihre Gültigkeit behalten, aber sie sind zunächst nur der äusserlichen Erscheinung entnommen. Auch nach den todten Regeln des alten Fuxischen Gradus ad Parnassum kann man Instrumental-Fugen komponiren. Aber Bach'sche Fugen werden das nicht werden. Bach hat die todten und star

« PreviousContinue »