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mische Gliederung aus den antiken Dichtern und aus Aristoxenus kennen gelernt, nur wem diese antiken Formen gewissermassen plastisch vor der Seele stehen, der wird dieselben in Bach's Fugen, auch ohne dass der Komponist die rhythmische Gliederung durch Phrasirung angezeigt, leicht wieder erkennen und dem Zuhörer zu Gehör bringen können. Als vorläufiges Beispiel möge die zweite Cis moll-Fuge des Wohltemperirten Klaviers 2,4 dienen. Wie Tausig sie phrasirt:

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werden wir die natürlichen harmonischen Schlüsse nicht zu Gehör bekommen, wohl aber wird uns gleich im zweiten, dritten und vierten Takte der von Fuchs gerügte Uebelstand unangenehm berühren, dass, bevor die anfangende Stimme ihren rhythmischen Abschnitt vollendet hat, schon vorher in der Mitte dieses Abschnittes eine andere Stimme mit demselben Thema einfällt und die frühere Stimme nicht ausreden, »nicht zu Worte kommen << lässt. Dieser Uebelstand kommt aber in Wahrheit in den Bach'schen Fugen nie und nimmer vor, Bach lässt durchaus dasjenige, was eine Stimme zu sagen hat, ohne Unterbrechung des Rhythmus zu Ende führen. Nur muss man anders als Tausig phraWestphal, Musikalische Rhythmik.

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siren. Wer den jambischen Trimeter der griechischen Dichter kennt (den ungeraden 18 zeitigen Takt nach Aristoxenus) und seinen Gebrauch in den jambischen Strophen des Aeschylus, wo er mit dem jambischen Dimetron (dem geraden 12zeitigen Takte des Aristoxenus) gemischt wird, dem wird nach einiger Arbeit klar werden, dass die in Rede stehende Cis moll-Fuge das Bild der jambischen Strophen des Aeschylus wiedergiebt (vgl. die Joh. Seb. Bach'schen Fugen für Piano. Rhythmische Ausgabe von R. Westphal und Julius von Melgunow, Moskau 1878, S. 23). Man wird das Anfangs-Sechzehntel der Fuge als Epiphonema fassen und dann nach jedem 18ten und jedem 12ten Sechzehntel das Ende eines Kolons (des Aristoxenischen ungeraden 18 zeitigen und des geraden 12 zeitigen Taktes) empfinden und die Fuge nach dieser rhythmischen Gliederung zu Gehör bringen. Und dann wird sie wahrlich nicht bloss den Fachmusiker durch die >> ausserordentliche Gewandtheit des Komponisten in künstlicher, kontrapunktischer und kanonischer Kombination «< interessiren, sondern auch jeden Laien, der irgendwie schöne Musik empfinden kann und dessen Herz gegen die erhabene Gewalt Bach'scher Mystik nicht verhärtet genug ist, bis zum letzten Tone mit Entzücken erfüllen. Von Trockenheit, Reizlosigkeit, Steifheit und Ungelenkigkeit und ähnlichen Bezeichnungen, wie sie Lobe für die Musik »jener Zeit« erfunden hat, kann da wahrlich bei einem Zuhörer von >> gebildetem Ohre und Geschmacke unserer Zeit<< nicht die Rede sein. Geradezu als frevler Leichtsinn aber erscheint Lobe's Aussage, dass wenn dieser musikalische Stil Bach's für den rechten und einzig wahren erklärt und seine Wiedereinführung verlangt werde, dass dann auch der neue poetische Stil, wie ihn Goethe und Schiller geschaffen, verworfen und der des Bach'schen Zeitalters für besser erklärt und wieder eingeführt werden müsse.

Wenn wir von Goethe eine Gedichtsammlung besässen, in welcher jedes Gedicht an Schönheit etwa seinem »>Troste in Thränen«< gleich stände, alle von gleich vollendeter Schönheit der Sprache und der Gedanken wären, so hätten wir in der Poesie dieselbe Sammlung kleiner lyrischer Kunstwerke, wie sie die Welt auf musikalischem Kunstgebiete in Bach's Wohl

temperirtem Klaviere bereits seit langer Zeit zu besitzen das Glück hat *).

Wie nun Bach dazu komme, so entlegene rhythmische Formen, wie die jambischen Trimeter der Cis moll-Fuge anzuwenden? Ich habe früher bei Gelegenheit der griechischen Metra und Rhythmen mehrfach darauf hinweisen zu müssen geglaubt, dass der jambische Trimeter, so geläufig er auch den Alten ist, doch in der modernen Musik Mozart's und Beethoven's und der Späteren niemals angewandt wird. Man kann ihn zwar, wenn man will, auch in der modernen Musik nachbilden, doch wird dann nur allzu leicht das Beabsichtigte, Künstliche und Gezwungene gemerkt werden. Bei Bach aber, bei dem das Trimetron in der strengsten Eigenthümlichkeit der antiken Bildung, d. h. mit gesetzmässiger Wahrung der legitimen Penthemimeres-Căsur vorliegt, erscheint dasselbe für die betreffende Komposition so natürlich, dass wir dabei unmöglich etwas Gezwungenes, etwas Fremdes fühlen können. Selbst den modernen Dichtern liegt der jambische Trimeter fern, sie haben statt seiner für das Drama durchgängig eine andere Form des jambischen Verses angewandt; bei Schiller und Goethe findet der Trimeter sich nur in der Schlussscene der Braut von Messina, in der Montgomery-Scene der Jungfrau von Orleans und im zweiten Theile des Faust,

*) Dass das Wohlt. Klav. im recht eigentlichen Sinne als ein Werk der Zukunftsmusik geschrieben ist, behandelt ausführlich Philipp Spitta. Weder die Fähigkeit des Kunstgenusses der damaligen Zeit, noch auch die Möglichkeit der Ausführung auf den damaligen Instrumenten entsprach jenen Kompositionen; die allervollkommensten und besten Instrumente, welche die jetzige Zeit herstellen kann, sind für die Ausführung von Bach's Fugen und Präludien des Wohltemperirten Klaviers gerade gut genug.

Es wird immer allgemeiner anerkannt werden, dass Joh. Seb. Bach der erste Meister der subjektiven Lyrik für alle Zeiten und Völker ist. In der Darstellung des bewegten Pathos sind wohl Beethoven und der Komponist des Don Juan reicher als Bach; aber dasjenige, was wir mit den Griechen das >> Ethos<< nennen, hat von allen früheren und nachfolgenden bis auf den heutigen Tag kein Musiker, kein Dichter, kein Pindar, kein Sophokles, kein Schiller so sehr in voller, unbeschränkter Gewalt als Bach. Dieser subjektivethischen Lyrik hat der grosse Tondichter einen vollendeteren Ausdruck gegeben als es jemals in der Poesie der Worte möglich sein wird. Seine Musik hat in der That eine bessernde und läuternde Kraft; Bach klärt und reinigt die Stimmung der Seele.

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zu konstatiren, dass das rhythmische Gefühl des modernen kers, wie wir früher sagten, feiner und reicher ist als das modernen Dichters; wo Goethe und Schiller in der Poesi rhythmische Form der Alten in reflektirter Nachbildung errei da schafft die Bach'sche Instrumentalmusik dieselben Former griechischen Rhythmik aus dem ihm angeborenen Gefühle rhythmische Ordnung und Schönheit; wir treffen eben bei dieselbe künstlerische Genialität in der Rhythmopöie, die bei den alten Dichter-Komponisten bewundern und zu we auch diese in eigener, künstlerischer Freiheit gerade wie s Joh. Seb. Bach sich emporgeschwungen haben. Ein und selbe Geist der rhythmischen Formen ist Bach und den Griechen immanent. Das Auffallende kann höchstens nur bestehen, dass die rhythmische Kunst der Griechen erst in langen Entwickelung durch verschiedene Stufen hindurch zu Vollendung gelangt ist, dass sich dagegen für die rhythm Kunst Bach's bis jetzt wenigstens keine ähnliche historische mittelung ergeben hat, welche in einem Nacheinander der S zu der von Bach vertretenen höchsten Vollendung geführt h

Eben deshalb aber passen nun auch die rhythmischen setze, welche Aristoxenus den musischen Künstlern seines V abgelauscht hat, nicht bloss für diese, sondern auch für die strumentalmusik Bach's und mehr und weniger auch für Kunstleistungen aller übrigen Meister der modernen Musik. I daher kommt es auch, dass uns für mehrfache der von Arist nus dargestellten rhythmischen Thatsachen, für welche in musischen Kunst der Alten die Belege fehlen, die moderne strumentalmusik, insbesondere die Bach'sche, zur Ergän herbeigezogen werden kann, dass sogar vieles, was uns in Rhythmik des Aristoxenus unverständlich erscheint, mit Hilfe

und der Modernen und Aristoxenus ihr grösster Exeget. Er will nicht zeigen, wie der Dichter oder Musiker rhythmisiren soll, er will vielmehr den Rhythmus und seine Formen, welche der schöpferische Geist der Künstler zur Anwendung brachte, im treuen Anschlusse an die klassische Periode der Musik und Poesie wissenschaftlich darstellen und begründen. Für ähnliche Versuche der modernen Wissenschaft kann nur er der Führer sein. Er war ein italischer Grieche aus Tarent, sein Vater ein berühmter ausübender Musiker, der viele Kunstreisen nach dem griechischen Mutterlande unternahm und hier mit den berühmtesten Zeitgenossen in Verkehr trat. So war er namentlich mit Sokrates und Epaminondas wohlbekannt. Der Sohn Aristoxenus gilt den Späteren als der grösste griechische Musik-Theoretiker; er war aber noch mehr als bloss Musiker, er war ein Mann von der allerumfassendsten Bildung. In Athen war er ein Schüler des grossen Aristoteles, er selber hat dort wissenschaftliche Vorlesungen gehalten, seine Aussicht der Nachfolger des berühmten Meisters im Lyceum zu werden, wurde durch Theophrast vereitelt. In allem, was wir von Aristoxenus besitzen, erkennen wir die Methode des grossen Peripatetikers, vor allem die scharfe Beobachtungsgabe und den gewissenhaften Sinn für die gegebenen Thatsachen; in der Kunst der Darstellung ist er seinem Lehrer vielleicht noch überlegen. Nichts als die Lückenhaftigkeit seiner überlieferten Schriften ist der Grund, dass manches seiner Darstellung ungemein schwer zu verstehen ist. Das Alterthum kannte eine grosse Menge Aristoxenischer Schriften historischen, philosophischethischen und kunstgeschichtlichen Inhalts. Nur aus der Klasse der letzteren, unter denen es von ihm auch Bücher über die Tragiker, über die Auleten, über die Instrumente, über den tragischen Tanz gab, haben sich ansehnliche Reste erhalten*). Viel genannt ist seine Harmonik nicht eine Harmonik im Sinne der Modernen, sondern ein wissenschaftlicher Versuch einer Kon

* Aus den Fragmenten seiner nicht-musikalischen Schriften ist uns Deutschen die Anekdote aus dem Leben des Syrakuser Tyrannen Dionysius, die Schiller zn einer Ballade bearbeitet hat, am bekanntesten. Aristoxenus selber hatte sie sich von dem Extyrannen, als derselbe zu Korinth schulmeisterte (ein antiker Louis Philipp in der Umkehrung), erzählen lassen.

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