Page images
PDF
EPUB

ein gleiches Recht wie für den Anfang hat. Am klarsten ist dies in der Vokalmusik. Denn so oft der Auftakt im poetischen Texte steht, so oft auch der Regel nach in der Melodisirung :

In diesen heil'gen Hallen

kennt man die Rache nicht,
und ist der Mensch gefallen,

führt Liebe ihn zur Pflicht.

Jedes poetische Kolon beginnt hier mit der Anakrusis, und ebenso viele Anakrusen hat auch die Musik, auch wenn man bisher dem Auftakte des zweiten, dritten und vierten Kolons diesen Namen verweigert.

§ 104.

Die verschiedenen Formen der Anakrusis abhängig von der Cäsur.

Ist die Musik wie hier mit einem Worttexte verbunden, so ist die Frage, welche Senkungen Auftakte sind, recht müssig, der Text giebt hier die massgebende Entscheidung. Aber auch die blosse Instrumentalmusik hat Auftakte. Es geht dies aus demjenigen hervor, was wir oben § 97 über die Cäsur daktylischer Rhythmen gesagt haben. Die Cäsur ist nämlich das Ende eines Kolons, die auf die Cäsur folgenden Töne sind der Anfang eines neuen Kolons. Fällt im daktylischen Rhythmus die Cäsur des Kolons hinter den ersten Chronos protos des Versfusses (Cäsur No. 1 § 97), so beginnt das folgende Kolon mit drei Chronoi protoi, welche die rhythmische Geltung der Senkung, also der Anakrusis haben, da man die anlautende Senkung eines Kolons Anakrusis nennt. Wir haben hier also ein daktylisches Kolon, welches eine Anakrusis in der Form eine tribrachische Anakrusis hat. Befindet sich die Grenzscheide des Kolons hinter dem zweiten Chronos protos des daktylischen Versfusses (Cäsur No. 2), so beginnt das folgende Kolon mit einem Auftakte, welcher die Form hat. Befindet sich die Cäsur des Kolons hinter dem dritten Chronos protos des daktylischen Versfusses (Cäsur No. 3), so beginnt das folgende Kolon mit einer Anakrusis, welche die Form

hat. Nur dann, wenn die Cäsur hinter dem vierten Chronos probeginnt das folgende Kolon mit

am Ende des daktylischen Versfusses, tos desselben eintritt (Cäsur No. 4), der Hebung, mit dem vollen daktylischen Versfusse, nicht mit der Anakrusis.

No. 1

[merged small][merged small][merged small][ocr errors][ocr errors][merged small][ocr errors][merged small]

Also bei den Cäsuren No. 1, No. 2, No. 3 entstehen im daktylischen Rhythmus Kola mit der Anakrusis, bei der Cäsur No. 4 Kola mit vollem daktylischen Versfuss im Anlaute. Bei den Alten heissen im daktylischen Rhythmus Kola, welche mit der Senkung oder der Anakrusis beginnen, anapästische Kola, und so sollen sie auch in der modernen Instrumentalmusik genannt werden, obwohl der antike Anapäst, soviel wir wissen, nicht mit der Form und auch nicht mit der Form anlautet.

sondern nur mit der Form

Analog wird auch im trochäischen Rhythmus und im ionischen die anakrusische Form eines Kolons durch die Beschaffenheit der Cäsur bestimmt werden, welche die Grenze des vorausgehenden Kolons ausmacht. Im trochäischen Rhythmus kann die Anakrusis die Form

oder

haben, kann einen Chronos protos oder einen disemos enthalten. Analog auch im ionischen Rhythmengeschlechte, welches auch in Beziehung auf Cäsur und Anakrusis weiterhin näher zu erörtern sein wird. Es ergiebt sich, dass in Musikstücken jedweden Rhythmengeschlechtes anakrusische Kola sehr wohl auch dann vorkommen können, wenn der erste Anfang derselben mit einer Hebung, mit einem vollen Versfusse beginnt, denn alle Auftakte im weiteren Verlaufe des Stückes werden durch die Cäsuren am Ende der Kola bestimmt. So beginnt im Wohlt. Klav. die Fuge 1,18 Gis moll mit einer Hebung, aber schon das zweite Kolon beginnt mit der Anakrusis, also das erste Kolon ist ein daktylisches, das zweite ein anapästisches.

[blocks in formation]

Charakter der Anakrusis und des thetischen Anlautes, erläutert an
Beethov. Klav.- Sonate No. 12 As dur, Andante.

Wenn im Inlaute einer Komposition in den Grenzscheiden der Kola keine Pausen stattfinden, so wird an allen Stellen, wo eine männliche

Cäsur vorkommt, das darauf folgende Kolon mit einer Anakrusis beginnen, bei einer weiblichen Cäsur No. 4 wird dagegen ein voller mit der Hebung anlautender Versfuss den Anfang des folgenden Kolons bilden. Ein Blick auf die kleine Tafel § 104 macht dies anschaulich. So wird ein fast fortwährender Zusammenhang zwischen männlicher Cäsur und anakrusischem Anfang des Kolons stattfinden, ebenso zwischen weiblicher Cäsur und Anfang mit der Hebung. Es wird daher, was oben über den Charakter, welcher durch die männliche Cäsur der Komposition gegeben wird, ebenso auch als Eigenthümlichkeit anakrusischer Kompositionen zu sagen sein. Die griechische Rhythmik spricht den Satz aus: >> von den Rhythmen sind die mit der Hebung anlautenden die ruhigeren, indem sie eine Gemüthsstimmung mit gelassenem, ruhigem Ausgangspunkte hervorrufen; die mit der Anakrusis anlautenden sind bewegt, indem sie der Stimme einen Aufschwung gewähren «. Wie richtig hier die Alten empfunden, können wir nachfühlen, z. B. beim ionischen Rhythmus des Andante der Beethoven'schen As dur - Sonate für Klav. Op. 26.

[merged small][merged small][ocr errors][merged small]

Jede der vorstehenden Zeilen bildet ein ionisches Metron, die 5 ersten und die 2 letzten je ein Tetrametron (aus 4), die sechste

ein Trimetron (aus 6 Ionici a minore). Das letzte Kolon der sechsten Zeile ist ein verkürztes katalektisches Dimetron, genannt Päon epibatus § 85:

33

das erste Kolon der siebenten Zeile ein durch Vortakt (in Absch. IV) erweitertes Dimetron, genannt 14 zeitiges Epitriton § 86:

[ocr errors][merged small][ocr errors][merged small][ocr errors]

Dem Anfange der Zeile giebt man in dem Beethoven'schen Andante bei der gewöhnlichen Art des Vortrages den Auftakt, im Inlaute der Zeile (des Tetrametrons) lässt man keinen Auftakt hören. Das ist gerade so, wie wenn in dem ionischen Tetrametron des Horaz auf Ionici a minore ein Dimetron ionicum a majore folgen würde:

[blocks in formation]

oder wie wenn sich innerhalb eines anapästischen Tetrametron der Rhythmus für das zweite Kolon in den daktylischen verwandeln würde. Die Koncinnität erfordert es jedenfalls, dass in den Zeilen des Beethoven'schen Andantes nicht bloss das erste, sondern auch das zweite Kolon mit einer Anakrusis beginnt. Zudem ist im ersten Kolon als der Protasis nach allgemeiner Analogie (vgl. § 100) auch eine das Dimetron in zwei Monometra sondernde Binnencäsur wünschenswerth. Nach diesen Grundsätzen ist unsere Phrasirung der Beethoven'schen Zeilen gemacht worden. Wir haben dadurch überall anakrusische Kola gewonnen. Dass Beethoven selber so gefühlt hat, zeigt sich aus der Variation IV, die schwerlich anders als mit Einhaltung der entsprechenden Cäsuren und Anakrusen vorgetragen werden kann:

« PreviousContinue »