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her Unbehilflichkeit dazwischenfahren. Wahr bleibt es: Mangel an mathematischer Bildung läßt sich durch nichts ersehen. Dennoch ist es zunächst dieser Mangel, der nicht bloß über mathematische Psychologie in Staunen geräth, sondern sogar seine Beschränktheit und Unwissenheit als Grenzpfeiler für die Wissenschaft aufstellen möchte. Daher die Meinung oder das Vorgeben, als gehe die Mathematik darauf aus, den Geist zu materialifiren, ihm seinen unendlichen Flug, seine Idealität und das Anundfürsichsein, seine poetische Kraft, seine Freiheitsbegriffe und dergl. zu rauben. Aber man übersicht, oder weiß es nicht, daß alle Unendlichkeits- und Idealbegriffe von der Mathematik entlehnt, geschaffen und unterstüßt werden; daß die Mathematik, als Wissenschaft, die durchgreifendste, Himmel und Erde in ihren Tiefen, so weit fie dem leiblichen und geistigen Auge sich eröffnen, musternde, in ihren Ergebnissen die sicherste, unter allen Wissenschaften die beredteste und gewandteste Wissenschaft ist, deren Begriffe und Sprache unendlich reich und sich in gewöhnlicher sterblichen Rede nicht gut wiedergeben lassen; daß die Mathematik hundert Wege kennt, auf welchen sie zum Ziel gelangt, wie ein geschickter Poet denselben Gedanken in den verschiedensten Weisen und Wendungen auszudrücken vermag; daß sie auch da Gesetz, Fortschritt, Zusammenhang sieht, wo der Nichtmathematiker dumpf staunt und seinen wüsten Illufionen nachgeht; daß sie bei aller ihrer Freiheit und Beweglichkeit keinen Schritt thut, der ihr gefährlich werden könnte; daß sie überall wohlbewußt und stets bei sich, und doch unendlich frei und schöpferisch und die höchste Poesie selber ist. Den wahren Begriff der Idealität und des Anundfürsichseins des Geistes schafft erst die mathematische Psychologie. Nichtmathematiker klagen über den Mangel einer Maaßeinheit für die psychologischen Rechnungen. Freilich wissen sie wieder nicht, daß die Mathematit keine absolute Maaßeinheiten befißt, und daß der Begriff des Maaßes, genau genommen, gar kein mathematischer Begriff ist; daß die Mathematik sich vielmehr aus Summen und Differenzen willkührlich angenommener Einheiten sammt deren Verhältnissen und Beziehungen, construirt,

und dennoch für die formalen Bestimmungen der Dinge geseßgebend ist. So geschieht es auch in der Psychologie. Die Veränderlichkeit psychologischer Phänomene, wie sie Jedermann durch sein Selbstbewußtsein gegeben sind, ist der völlig zureichende Grund zur Einführung der Rechnung in die Psychologie: es kommt nur darauf an, daß jene Veränderungen genau elementarisch und in allen ihren Beziehungen scharf aufgefaßt und richtig benugt werden. Eben dahin führt die Metaphysik, durch welche die Psychologie noch über die Mathematik hinausgeht: denn sie besigt, was diese nicht hat, absolute Einheiten. Die Psychologie hat die absolute Einheit der Seelensubstanz, ohne welche es kein Anundfürfichsein des Geistes giebt; fie hat die absolute Einheit der einfachen Vorstellung als solcher, die absolute Einheit des vollen Gegensages, die absoluten Einheiten des ungehemmten und des gehemmten Zustandes; sie hat den metaphyfischen =Begriff des unvollkommenen Zusammen, als Quell des Begriffs einer verminderten Stärke und eines verminderten Gegensages, woraus erst für die Psychologie der Quantitäts= begriff hervorgeht. Ohne den Begriff des metaphysischen #Aneinander und des unvollkommenen Zusammen find keine 5 Größenbegriffe denkbar (§. 407). Unkundige haben sogar

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an der Benennung einer Statit und Mechanik des #Geistes Anstoß genommen: als ob die Wissenschaft veri antwortlich wäre für die Mangelhaftigkeit der Sprache, die, I wo es ihr an den Begriffen fehlt, auch keine ganz entsprechende Bezeichnungen dafür befigt, und als wenn man völlig vergäße, daß die Sprache durchweg nichts Besseres, denn eine mehr und weniger unvollkommene Symbolik der Begriffe sein könne! Nicht Mangel an mathematischen - Studien allein ist es, was den Philosophen heutiger Zeit den • Zugang zu einer wissenschaftlichen Psychologie sperrt, sondern in einem höheren Maaße der gegenwärtige Zustand der SpeE culation selbst. Roher Empirismus und transscendenter Dogmatismus, oder ein Gemisch beider, find einer ächten Psychologie gleich unfähig: dazu gehört Übung im idealistischen Gedankengang. Aber die heutige Philosophie hat den idea#listischen Standpunct eingebüßt (§§. 292. 365). Spricht man

gleichwol so gern von Geistesflügen, Gedankenblihen, Freiheitsschwüngen, von der unendlichen Macht der Intelligenz, von Gemüthsruhe, Gemüthsbewegung und dergl.; so wird doch Niemand meinen, daß der Geist oder der Gedanke wirklich in den Himmel fliege, sich auf den Mont Blanc, nach Paris und Neapel, oder sonstwohin, wo er eben jezt nicht ist, thatsächlich versche, oder daß es in der Seele in Wahrheit blize, oder daß die Macht der Intelligenz wie eine Dampfmaschine wirke, wie ein physischer Hebel ruhe, drücke und sich bewege, und dergl. In allen Reden dieser Art liegt bloß eine mannigfaltig bestimmte Evolution von Vorstellungsreihen (§. 446 fl.). Die Reihenbildung unter den Vorstellungen und deren Wirksamkeit, dieser Brennpunct psychologischer Thätigkeiten, ist indessen auf unidealistische Weise gar nicht zu begreifen (S. 460). Quantitative Psychologie liegt als ein ungekannter und ungenugter Schaß in der ganzen vorgängigen Psychologie (§. 420); nur der Schaßgräber hatte gefehlt, um den Hort zu heben. Ohne Mathematik, deren Gesche die umfassendsten find, war das nicht möglich. Mathematik, wird sie personificirt, ist der umsichtigste Staatsmann, der feinste Weltmann, der kühnste Poet, die freieste Intelligenz, für die es keine, weder materielle, noch geistige, unbewegliche Massen giebt, daher denn auch der geschickteste und zuverläßigste Gewährsmann höherer Jnteressen, und allein fähig, die Welt und Menschheit den Weg der Ordnung, der Wissenschaft, der Sittlichkeit und Religion felgerecht zu führen. Denn allerdings giebt es höhere Begriffe, zu denen sich die Mathematik nur dienend verhält und welche auf ihre Dienste warten, die sittlichen und die religiösen.

Drittes Capitel.

Praktische Grundlage der Religion.

§. 481. Die größte Macht im Himmel und auf Erden, in der Zeit und Ewigkeit, ist das Sittliche. Leise sprechend oder laut und mit Nachdruck; in der verborgenen

Tiefe des eigenen Bewußtseins die Stimme erhebend, oder in den weiten Räumen der Gesellschaft und Geschichte wiederhallend; stets frisch und allgegenwärtig; erdichtete Intelligenzen nicht minder, sobald sie als wollend und handelnd fich darstellen, oder solche Personen, die unserem Erfahrungskreise fernstehen und niemals demselben angehören können, wie uns selbst und Andere, in deren Verbindungen wir uns verflochten finden, auf gleiche Weise treffend; die höchsten Verhältnisse des Staats und der Menschheit, ja eines allgemeinen Gottesreichs überhaupt, eben so streng, wie die geringsten Regungen der Einzelnen, musternd, mögen auch jene und diese sich wechselnd gestalten und ineinander eingreifen, wie sie wollen; nie verstummend, allumfassend, das Abgeschlossene und in der Zeit Zurückliegende immer wieder vor Gericht fodernd, sogar dem Künftigen die Bahnen vorzeichnend, die es zu wandeln hat; sodaß keine Art von Geschäftigkeit sich dagegen absperren, keine Klugheit seinem Urtheil entgehen kann; tritt das Sittliche mit einer Almacht und Allgegenwart hervor, die überall gefühlt, von Jedermann anerkannt wird, und nur die Wissenschaft ist hier, wie anderwärts, hinter dem Thatsächlichen zurückgeblieben, das, wie es scheint, dem Begriff sich als undurchdringlich erweist. Dennoch scheidet das Sittliche sich in zwei auffallend große Sphären. Gutes und Böses sind seine beide Gestalten, von denen keine, wie oft es auch darauf angelegt worden, mit der anderen etwas gemein haben, keine in die andere sich will einschieben lassen. Das Gute thun, weil es Gut ist, das Böse meiden, weil es Bös ist, diese beide Bestimmungen drücken einen unbedingten Vorzug des einen vor dem anderen aus. Vom Guten anders sprechen, als daß es das Absolut-Vortreffliche, vom Bösen anders, als daß es das Absolut-Verwerfliche heißt die Natur des Sittlichen von Vornherein ver

sei, kennen.

§. 482. Kant hat, wie für die theoretische Philofophie durch seinen Erfahrungsbegriff (§§. 16. 140 fl.), so für die praktische Philosophie durch den Formbegriff des Sittlichen den allein richtigen Standpunet aller Specu

lation befestigt. Alle praktische Principien, sagt Kant, die ein Object (Materie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens vorausseßen, sind insgesammt empirisch, und können, weil es ihnen an objectiver Nothwendigkeit, welche a priori erkannt werden muß, mangelt, keine praktische Geseze abgeben: wenn also ein vernünftiges Wesen sich seine Marimen als praktische allgemeine Geseze denken soll; so kann es sich dieselben nur als solche Principien denken, die nicht der Materie, sondern bloß der Form nach, inwiefern sie sich zu einer allgemeinen Gesezgebung schicken, den Bestimmungsgrund des Willens enthalten 1). — Dadurch war Zweierlei zugleich entschieden: einmal, daß theoretische und praktische Philosophie, von denen es jene mit dem Sein und Nichtsein der Dinge und den dahin einschlagenden Erfahrungsformen, diese mit den praktischen Formen des handelnden Willens, die der leßtere nicht von Haus aus ursprünglich besigt, sondern welche er selbstthätig herausbilden soll, zu thun hat, wesentlich verschiedene, das heißt, disparate Wissenschaften seien 2); zweitens, daß der Doppelbegriff des Guten, demzufolge dasselbe theils als Object, theils als idealer Bestimmungsgrund des Willens gedacht wird, für die praktische Philosophie nur die lettere Bedeutung habe 3). So wurde, schien es, der sittlich verwerflichen Heteronomie des Willens dauernd vorgebaut. Als aber Kant sich einer genaueren Auseinanderseßung der Formen des Sittlich - Guten, sowie der gleich unerläßlichen Darlegung der verschiedenen Formen des Bösen durch seinen kategorischen Imperativ: Handle so, daß die Marime Deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesezgebung gelten könne, überhoben glaubte, in der Vorausseßung, daß, welche Form der Marime sich zu einer allgemeinen Geseßgebung schicke, der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden werde 4), verfiel er in den von ihm selbst verpönten Fehler. Davon zeugen seine eigene Beispiele. Gälte z. B., sagt Kant, die Marime, daß man ein Depofitum ableugnen dürfe; so würde fie, als Gesetz genommen, machen, daß es gar kein Depofitum gäbe 5). —

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