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Zweiter Theil.

Die Einzelvorstellung oder Anschauung in ihrer Beziehung zu der objectiven Einzelexistenz.

§ 45. Die Einzelvorstellung oder die Anschauung (repraesentatio singularis, conceptus singularis) ist das psychische Bild der objectiven (oder doch mindestens als objectiv fingirten) Einzelexistenz.

Die äussere oder räumliche und zeitliche Ordnung, welche sich in der Wahrnehmung darstellt, soll durch das Denken überhaupt auf die innere Ordnung, deren Ausfluss sie ist, gedeutet werden. Der erste Schritt zur Lösung dieser Aufgabe ist naturgemäss die Unterscheidung der Individuen vermittelst der Einzelvorstellungen.

Das Wort Vorstellung wird hier nicht in der Bedeutung: reproducirte Wahrnehmung, aber auch nicht in der Bedeutung: psychisches Gebilde überhaupt, sondern in dem Sinne: psychisches Bild individueller Existenz gebraucht, und zwar sowohl von dem bereits in der Wahrnehmung liegenden, als auch von dem durch Erinnerung reproducirten Bilde. Die Vorstellung ist theils Einzelvorstellung oder Anschauung, die auf Ein Individuum (oder auch auf an Einem Individuum Befindliches) geht, theils allgemeine Vorstellung, welche letztere, auf eine zusammengehörige Gruppe von Individuen (oder doch von solchem, was an Individuen sich findet) bezüglich die nächste psychische Grundlage des Begriffes ausmacht. Was von beiden Arten der Vorstellung gleichmässig gilt, soll schon in diesem Abschnitte zur Erörterung kommen.

§ 46. Die einzelnen Anschauungen heben sich aus dem ursprünglich ungeschiedenen Gesammtbilde der Wahrnehmung allmählich hervor, indem der Mensch zunächst sich. selbst im Gegensatze gegen die Aussenwelt als ein Einzelwesen erkennt, danach dieselbe Form der Einzelexistenz oder Individuität auch auf ein jedes äussere Sein überträgt, dessen Erscheinung sich gegen andere Erscheinungen

als isolirbar erweist. Was die logische Berechtigung der Anwendung dieser Erkenntniss form betrifft, so stuft sich dieselbe im Allgemeinen nach den nämlichen Kriterien ab, wie (nach § 42) die Wahrheit der aus unserem Inneren stammenden und die sinnliche Wahrnehmung ergänzenden Erkenntnisselemente überhaupt. Denn a. in Bezug auf die eigene Person verbürgt uns das Selbstbewusstsein unmittelbar die Realität der individuellen Existenz (vgl. § 40); b. allen anderen persönlichen Wesen muss eben so gewiss, wie (nach § 41) eine unserer eigenen analoge Existenz überhaupt, auch die Existenzform als Einzelwesen zuerkannt werden; c. da (nach § 42) die Analogie der Dinge ausser uns mit unserem eigenen Wesen zwar stufenweise abnimmt, aber an keinem Puncte gänzlich verschwindet, so dürfen wir uns mit Recht überzeugt halten, dass die Gliederung in relativ selbständige Individuen auch der Gesammtheit des nicht persönlichen Seins in Wirklichkeit zukommt und nicht bloss von uns vermöge einer subjectiven Nothwendigkeit hineingelegt wird; doch beweisen auch die sinnlichen Erscheinungen im Verein mit den analogen Abstufungen auf dem Gebiete des geistigen Lebens, dass die Grenze zwischen dem individuellen Dasein und dem Aufgehen in ein grösseres Ganzes um so unbestimmter und schwankender wird, je tiefer ein jedes Object in der Stufenreihe der Wesen steht; d. nach der anderen Seite hin wird bei der grössten geistigen Höhe die vollste individuelle Selbständigkeit zugleich mit der ausgedehntesten und innigsten Gemeinschaft des Lebens und Wirkens gefunden. Die Anschauung oder Einzelvorstellung ist, gleich wie die Wahrnehmung (§ 41-42), um so zutreffender, je mehr jedesmal die angegebenen Abstufungen richtig beobachtet worden sind.

Unter den positiven Wissenschaften sind besonders die Botanik und die Zoologie vielfach im Einzelnen auf die hier behandelten Probleme geführt worden, deren volle Lösung jedoch nicht durch die eigenthümlichen Mittel dieser Wissenschaften allein, sondern nur durch Hinzunahme der allgemeinen logischen (erkenntnisstheoretischen) Betrachtungen gewonnen werden kann. Aristoteles geht weder in seinen physischen, noch in seinen logischen und metaphysischen Schriften tiefer auf dieselben ein. Er erklärt die Einzelwesen für die ersten Substanzen (лgāra ovσía), ohne jedoch die Erkennbarkeit, das Wesen und die

Grenzen der Individuität einer genaueren Untersuchung zu unterwerfen. Erst in der neueren Zeit sind solche Fragen, wie: ob die Pflanze oder der einzelne Spross (Auge, Knospe etc.; »gemmae totidem herbae« Linné; vgl. Roeper, Linnaea, S. 434, J. V. Carus, Generationswechsel, S. 30, und andere neuere botanische Schriften), und ebenso, ob der Korallenstock oder das einzelne Korallenthier das wahre Individuum sei, ferner, inwiefern das Leben des Embryo ein individuelles und selbständiges und inwiefern es ein Theil des mütterlichen Lebens sei und dergl. mehr, in ihrer vollen Bedeutung als wissenschaftliche Probleme erkannt worden. Von der Einzelforschung aus sind auch Naturkundige zu der Ansicht gelangt, dass das Individuum nicht in anderem Sinne für real gelten dürfe, als auch die Species, das Genus etc.; dass nicht die Einheit der sinnlichen Erscheinung, sondern die Einheit der Entwickelungsreihe das Individuum charakterisire; dass das Pflanzenindividuum an innerer Einheit weit hinter dem thierischen zurückstehe etc. S. Braun, die Verjüngung in der Natur, 1850, S. 26; 344; Jürgen Bona Meyer, des Aristoteles Thierkunde, 1855; Carl Nägeli, die Individualität in der Natur, in: Akad. Vorträge, Zürich 1856; Rud. Virchow, Atome und Individuen, Vortrag, gehalten 1859, gedruckt in: 4 Reden über Leben und Kranksein, Berlin 1862, S. 35—76, der S. 45 das Individuum definirt als »eine einheitliche Gemeinschaft, in der alle Theile zu einem gleichartigen Zwecke zusammenwirken oder nach einem bestimmten Plane thätig sind«<. Auch auf anderen Gebieten ist das Bewusstsein von den Abstufungen der Individuität eine wesentliche wissenschaftliche Anforderung und eine Bedingung, ohne welche sich die Lösung vieler wichtigen Streitfragen nicht gewinnen lässt. So kann z. B. in der Homerischen Frage der schroffe Gegensatz der Unitarier und der Chorizonten nicht ohne die wissenschaftliche (schon von Aristoteles gewonnene) Einsicht überwunden werden, dass das Epos seiner Natur nach als eine frühere und minder hohe Entwickelungsstufe der Dichtung nicht der streng geschlossenen Einheit des Dramas fähig ist, wiewohl es eine gewisse poëtische Einheit nicht ausschliesst; dass ebenso der einzelne epische Dichter jener ältesten Zeit innerhalb der Gemeinschaft der Sängerfamilie, der er angehört, nur in geringerem Maasse selbständige Eigenthümlichkeit besitzt, als der Dramatiker innerhalb seines Kreises, und dass demgemäss nicht sowohl zu fragen ist, ob dem Einen oder den Vielen das Gedicht, sondern welcher Antheil dem Einen und den Vielen zuzuschreiben ist, insbesondere: was als vorhomerische Grundlage vorauszusetzen sein möge, welches das Werk des Einen Meisters sei, der, vorgebildet durch Vertrautheit mit den kleineren Dichtungen der auf Geschichte und Volkssagen fussenden früheren Sänger, den Gedanken des grösseren Epos fasste und realisirte, was Zuthat der nachhomerischen Dichter sei, und worin das Verdienst oder die Schuld der Rhapsoden, der Sammler und endlich der ordnenden, prüfenden und erläuternden Grammatiker bestehe.

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Die Spinozistische Lehre von der Einen Substanz setzt mit Unrecht alle individuelle Existenz auf das gleiche Maass der Bedeutungs

losigkeit herab. Die Leibnitzische und Herbart'sche Monadenlehre überträgt mit gleichem Unrecht die volle geschlossene Individuität, welche dem persönlichen Menschengeiste zukommt, auch auf die letzten Elemente der organischen und unorganischen Natur, die ihr als raumlose selbständige Einzelwesen gelten. Der Kantische Kriticismus glaubt die richtige Mitte zwischen diesen beiden Extremen in der Lehre von der theoretischen Unentscheidbarkeit der betreffenden Probleme zu finden, indem er die Kategorien: Einheit, Vielheit und Allheit zu den subjectiven Erkenntnisselementen rechnet, die, in der Einrichtung unseres Erkenntnissvermögens begründet, von uns zwar mit Nothwendigkeit auf die Erscheinungswelt übertragen werden, aber auf die realen Wesen oder die Dinge an sich keine Anwendung finden. Schelling, Hegel und Schleiermacher erkennen diesen Formen wiederum reale Gültigkeit zu, suchen aber zugleich auch die verschiedenen Stufengrade der Individualisation zu bestimmen, so zwar, dass Schelling und Hegel der von Spinoza begründeten Einheitslehre, Schleiermacher dagegen in gewissem Betracht dem Leibnitzisch-Herbart'schen Individualismus näher steht.

§ 47. Wie die Einzelvorstellung überhaupt der Einzelexistenz, so entsprechen die verschiedenen Arten oder Formen derselben den verschiedenen Arten oder Formen der Einzelexistenz. Die Einzelexistenz wird nämlich zuerst an selbständigen Objecten erkannt. Wenn aber das Object einer Vorstellung ein Ganzes ausmacht, an welchem sich verschiedene Theile, Thätigkeiten, Attribute und Verhältnisse unterscheiden lassen, so dürfen auch in entsprechender Weise die verschiedenen Elemente einer solchen Vorstellung wiederum einzeln als Vorstellungen betrachtet werden. Hierbei sind zwei Fälle zu unterscheiden. Entweder wird den Objecten dieser Vorstellungen die Form der gegenständlichen Selbständigkeit geliehen, jedoch mit dem Bewusstsein, dass dieselbe nur eine fingirte, nicht eine reale ist, oder diese Objecte werden schlechthin als unselbständige angeschaut. Auf diese Verhältnisse gründen sich die Formen der substantivischen concreten, der substantivischen abstracten, und der verbalen, attributiven und Relations-Vorstellung. Die Formen der Einzelvorstellungen und des sprachlichen Ausdrucks derselben in ihrer Beziehung zu den entsprechenden Existenzformen (und metaphorisch die letzteren selbst) sind die Kategorien im Aristotelischen Sinne des Wortes. Alle diese Kategorien werden von den objectiv gültigen Vorstellungen aus auch auf solche übertragen,

deren Objecte (wie z. B. die mythologischen Wesen) blosse Fictionen sind.

Wie die (logischen) Vorstellungsformen den (metaphysischen) Formen der Einzelexistenz entsprechen, so entsprechen ihnen wiederum die (grammatischen) Formen oder Arten der Worte. Das Wort ist der Ausdruck der Vorstellung in der Sprache. Die Vorstellung eines selbständig existirenden Gegenstandes wird durch das Substantivum concretum ausgedrückt, woran sich das Pronomen substantivum als Bezeichnung der Person oder Sache durch ihr Verhältniss zu dem Redenden anschliesst. Die Vorstellung dessen, was unselbständig existirt, aber unter der entlehnten Form selbständiger Existenz angeschaut wird, wird durch das Substantivum abstractum bezeichnet, die Vorstellung des unselbständig Existirenden als solchen, je nachdem dasselbe eine Thätigkeit oder eine Eigenschaft (oder Beschaffenheit) oder ein Verhältniss ist, durch das Verbum, das Adjectivum nebst dem adjectivischen Pronomen und Adverb und durch die Präposition nebst den Flexionsformen. Nur auf Grund der Begriffsbildung können die Numeralia verstanden werden, welche die Subsumtion gleichartiger Objecte unter den nämlichen Begriff voraussetzen, und nur auf Grund der Urtheils- und Schlussbildung die Conjunctionen, welche Sätze und Satztheile mit einander verknüpfen, in deren gegenseitigen Beziehungen sich die entsprechenden Verhältnisse von Vorstellungsverbindungen zu einander bekunden, die ihrerseits wiederum auf Verhältnissen zwischen realen Verbindungen beruhen müssen (wogegen die Präpositionen mittelst der Beziehungen zwischen einzelnen Worten und Wortcomplexen, welche die entsprechenden Beziehungen zwischen einzelnen Vorstellungen zum Ausdruck bringen, die Verhältnisse einzelner Dinge, Thätigkeiten etc. zu einander bezeichnen). Die Interjectionen sind nicht eigentliche Worte, sondern nur der unmittelbare Ausdruck der nicht in Vorstellungen und Gedanken entwickelten Empfindungen.

>> Der Bau aller Sprachen weist darauf hin, dass seine älteste Form im Wesentlichen dieselbe war, die sich bei einigen Sprachen einfachsten Baues (z. B. beim Chinesischen) erhalten hat. Das, wovon alle Sprachen ihren Ausgang genommen haben, waren Bedeutungslaute, einfache Lautbilder für Anschauungen, Vorstellungen, Begriffe, die in jeder Beziehung, d. h. als jede grammatische Form fungiren konnten, ohne dass für diese Functionen ein lautlicher Ausdruck so zu sagen ein Organ vorhanden war. Auf dieser urältesten Stufe sprachlichen Lebens giebt es also, lautlich unterschieden, weder Verba noch Nomina, weder Conjugation noch Declination. Die älteste Form für die Worte, die jetzt im Deutschen That, gethan, thue, Thäter, thätig lauten, war zur Entstehungszeit der indogermanischen Ursprache dha, denn dieses dha (setzen, thun bedeutend; altindisch dha, altbaktrisch dha, griechisch 98, litauisch und slavisch de, gotisch da, hochdeutsch ta) ergiebt sich als die gemeinsame Wurzel aller jener Worte. In etwas späterer

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