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pothesenbildung nicht sofort auf das Ganze zu richten, sondern es sind zunächst inductiv und vermittelst speciellerer Hypothesen und deren Verification möglichst viele feste Anhaltspuncte zu gewinnen, um darnach erst über die Principienfrage selbst zu entscheiden. Da jedes Princip, sofern es hypothetische Elemente in sich enthält, sich an seinen Folgen bewähren muss, so wird die Entscheidung zwischen entgegengesetzten Principien dadurch möglich, dass sich ein jedes in seine theoretischen und praktischen Consequenzen ausgestaltet. Der Satz: "contra negantem principia non est disputandum« ist falsch und inhuman. Bei normaler Entwickelung wird in der Erkenntniss, wie im Leben, das niedere Princip durch das höhere überwunden, und finden gleichberechtigte entgegengesetzte Principien in einem gemeinsamen höheren Princip ihre wahre Vermittelung.

Es bedarf nicht (wie im Anschluss an Leibnitz, Christian Wolff und andere Logiker gewollt haben) einer eigenen »ars inveniendi oder einer »Topik« neben der Logik als der »ars iudicandi«; sondern die analytische Methode, deren Mittel eben die früher im Einzelnen erörterten Erkenntnissweisen: die Bildung von Wahrnehmungen, Anschauungen, Begriffen, Urtheilen, Inductionen etc. sind, wie andererseits an ihrem Theile auch die synthetische Methode, ist die wahre Erfindungskunst. Isolirt kann die Topik nur etwa rhetorischen Zwecken dienen. Mit Recht sagt Trendelenburg (Erläut. zu den Elem. der Arist. Log. S. VIII): »Die alte Logik pflegte ein Capitel de inventione hinzuzufügen. Wenn die logischen Gesetze an dem Substrat der einzelnen Wissenschaften erscheinen, so werden sie dadurch viel wirksamer die Erfindung anregen, als es durch eine frühere abstracte Behandlung, sei es im rhetorischen oder wissenschaftlichen Interesse, geschehen konnte«. Neuerdings hat wiederum J. Hoppe »das Entdecken und Finden << (Ein Beitrag zur Lehre von der empirischen Forschung 1870) zum Gegenstand einer besonderen Untersuchung gemacht.

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Die treue, von individuell-subjectiven Beimischungen freie Auffassung der Thatsachen ist ein Werk der Bildung. Wie wenig die Menschen gewöhnlich die Thatsachen rein wiedergeben, wie sehr sie ihre Meinungen und Interessen (schon unbewusst und unwillkürlich) dem Referat einzumischen pflegen, hat der Pädagog, der Arzt, der Richter, der Historiker alltäglich zu beobachten Anlass. »Es ist«, sagt Schiller bei Caroline von Wolzogen, Schillers Leben, 1830, II, S. 206 f., »unglaublich schwer und beinahe möchte ich sagen unmöglich, etwas Geschehenes oder Erzähltes ganz und gerade so wieder zu geben, als man es gesehen oder gehört hat. Mit der schönsten reinsten Wahrheitsliebe überlassen wir uns öfters, ohne es zu ahnen, un

serem eigenen Gefühl«. Heinr. von Sybel, über die Gesetze des historischen Wissens, Bonn 1864, S. 12 f.: »Wir sehen in den Erzählungen nicht die Dinge selbst, sondern nur die Eindrücke, die sie in der Seele unserer Berichterstatter gemacht haben, und wir wissen, dass die Erzählung dieser Eindrücke niemals den Dingen völlig genau entspricht. Aus der Erzählung nun auf die erste Form des Eindrucks und aus diesem auf die Gestalt der Thatsache zurückzuschliessen, die Zuthaten und Aenderungen der subjectiven Einwirkung zu beseitigen und dadurch den objectiven Thatbestand wiederherzustellen, das ist das Geschäft der historischen Kritik«. Vgl. Wilh. Maurenbrecher, über Methode und Aufgabe der histor. Forschung, ein Vortrag, Bonn 1868; Joh. Gust. Droysen, Grundriss der Historik, Leipzig 1868.

Die Aufgabe der regressiven (a potiori inductiven) Forschung besteht darin, von gesicherten Einzelheiten auszugehen, jedes daraus zu Folgernde da zu erörtern, wo für den möglichst strengen Erweis desselben die zureichenden Prämissen gewonnen sind und es selbst als Prämisse zu ferneren Argumentationen dienen kann, so dass für die Anordnung alle anderen Gesichtspuncte nur insofern mitbestimmend seien, als der oberste Zweck, der in der Erlangung möglichster Gewissheit liegt, ihnen einen freien Spielraum lässt; nachdem auf diesem Wege eine Reihe von Einzelnheiten für sich festgestellt worden ist, ist daraus erst die Entscheidung über die Principien zu entnehmen; soweit aber die volle Gewissheit sich nicht erreichen lässt, sind die Grade der Wahrscheinlichkeit mit möglichster Genauigkeit zu ermitteln und zu bezeichnen (vgl. die methodologischen Bemerkungen in m. Plat. Untersuchungen, Wien 1861, S. 99, 112 und 268).

Diese Forderungen gelten gleichmässig für die Wissenschaften der Natur und des geistigen Lebens. Als methodische Elemente, die der Geschichte mit der Naturforschung gemeinsam seien, bezeichnet K. O. Müller mit Recht: »scharfe Beobachtung des Erfahrungsmässigen, Sammlung so vieler einzelnen Puncte, als aufzufinden möglich ist, Erforschung des gesetzmässigen Zusammenhangs derselben nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen und Zurückbeziehung auf die gegebenen Grundlagen der allgemeinen Natur«.

Die Forschung des Einzelnen gewinnt in dem Maasse an Bedeutung, als sie sich der wissenschaftlichen Gesammtarbeit als Moment einzuordnen vermag. Weder eine rohe Selbständigkeit, die, auf den natürlichen gesunden Sinn (common sense) vertrauend, oder in dem eitelu Wahne persönlicher Genialität befangen, um einer vermeintlichen » Unbefangenheit« willen welche oft nur ein unwissenschaftliches Verharren bei den oberflächlichsten Ansichten und unreifsten Einfällen ist das Studium fremder Leistungen verschmäht oder sich ohne eindringendes Nachdenken und kritische Genauigkeit mit halben und schiefen Auffassungen derselben begnügt, noch auch eine unfreie, selbstlose Hingabe, die, ganz in Gelehrsamkeit aufgehend, über der emsigen Sorge um sichere Aneignung und treue Reproduction der von den schöpferischen Geistern errungenen Schätze die Kraft zu

eigener Production unbethätigt lässt, sondern nur die Erhebung zu selbständiger Einsicht auf dem Grunde der genauesten Vertrautheit mit der gesammten bisherigen Entwickelung der Wissenschaft begründet den Fortschritt zu höheren Erkenntnissstufen. Auch in der Wissenschaft soll der Mensch, aus dem Naturzustande der Ungebundenheit austretend, durch die unfreie Hingebung hindurch zur wahren Freiheit gelangen.

Der speculative Trieb ist auf die allgemeinsten Principien gerichtet, und pflegt dieselben in poetischen oder halbpoetischen Formen zu antecipiren, ehe die strenge Wissenschaft sie zu erkennen vermag. Die exacte Forschung begnügt sich mit der inductiven Constatirung der mehr empirischen Gesetze, so lange die obersten Principien sich noch nicht auf Grund der Thatsachen mit strenger Gewissheit ermitteln lassen, ist aber oft allzubereit, der Sicherheit die Tiefe zu opfern. Die höchste Aufgabe ist die Erreichung der von der Speculation angestrebten Ziele auf den Wegen der exacten Forschung. Bunsen (Hippol. I, S. 276) bezeichnet dieselbe zunächst in Bezug auf die Philosophie der Geschichte als Vereinigung des Geistes des Bacoschen Systems mit den Kategorien der deutschen speculativen Philosophie des Geistes«. Vgl. die Abhandlung des Verfassers über Idealismus, Realismus und Idealrealismus in Fichte's Zeitschrift für Philos. Bd. XXXIV, 1859, S. 63-80.

Das Geschichtliche über die Lehren des Empirismus Rationalismus, Kriticismus etc. fällt, da es sich um den allgemeinen erkenntnisstheoretischen Standpunct handelt, fast zusammen mit der gesammten Geschichte der Logik als Erkenntnisslehre; es muss desshalb hier auf die historische Uebersicht (s. oben §§ 10-35) verwiesen werden. Vgl. auch die Ausführungen zu §§ 37; 40; 44; 46 f.; 51; 56 f.; 67; 73; 74 ff.; 83; 127; 129; 131; 134 ff.; 138 f.

§ 141. Die methodischen Mittel der constructiven oder synthetischen Erkenntnissbildung sind: die Definition, die Eintheilung und die Deduction. Die Definition fixirt das Resultat des Abstractionsprocesses, und dient ihrerseits als Fundament der Division und Deduction; dann aber führen auch wiederum diese Processe zu neuen Definitionen. Die Eintheilung gliedert die Gesammtheit des wissenschaftlichen Stoffes nach den Verhältnissen der Ueber-, Unter- und Beiordnung in der Absicht, dass die Disposition desselben ein getreues Abbild der realen Beziehungen gewähre, indem nicht zu einem fertigen Schema der Stoff gesucht werden, sondern der Schematismus bis zu den letzten Unterabtheilungen hin gleich der Form eines natürlichen Organismus aus dem Wesen des Inhalts sich hervorbilden soll. Die (Kan

tischen) Principien der Homogeneität, Specification und Continuität sind bei der Eintheilung nicht nach subjectiven Maximen, sondern der Natur der Sache gemäss anzuwenden. Die Deduction, auf den Resultaten des Abstractions- und Inductionsprocesses fussend, begründet vermittelst des Allgemeinen das Besondere und Einzelne, indem sie in syllogistischer Gedankenform vermöge sachgemässer Verknüpfung von Argumentationsreihen seine genetische oder teleologische Nothwendigkeit nachweist (Methode der genetischen Erklärung; - der teleologischen Speculation, s. o. S. 54). Die Deduction vermag niemals ohne das Allgemeine, aber auch niemals aus dem Allgemeinen allein die Realität des Besonderen und Einzelnen abzuleiten.

Nach dem Vorwiegen der Begriffsbestimmung und Eintheilung, oder der Deduction in der synthetischen Erkenntniss lassen sich (mit Trendelenburg, Log. Unters. II, S. 335, 2. A. II, S. 411, 3. A. II, S. 446) Systeme der Anordnung (Classificationen) und Systeme der Entwickelung« (erklärende Theorien) unterscheiden; jene bilden die Form der beschreibenden, diese die der erklärenden Wissenschaften der Natur und des Geistes. Indem sich aber die Anordnung ebensowohl auf den inneren, deductiv erkennbaren Zusammenhang stützen muss, wie andererseits die Möglichkeit der Deduction auf sachgemässer Anordnung beruht: so darf das eine dieser Elemente nie ganz von dem andern getrennt sein; beide können nur mit und durch einander zur wissenschaftlichen Vollendung gelangen. Insbesondere bedürfen die Mathematik (vgl. oben zu § 135, S. 407 f.) und die Philosophie des Gleichmaasses dieser beiden methodischen Formen.

Auf dem Vorherrschen der regressiven oder analytischen Methode, sofern dieselbe, möglichst an das Gegebene sich haltend, nicht bis zu den schlechthin höchsten Principien aufsteigt, beruht der mehr empirische, auf dem Vorherrschen der constructiven oder synthetischen Methode, sofern dieselbe, von den obersten Principien ausgehend, die Wirklichkeit vermittelst frei erzeugter Gedankengebilde zu erkennen sucht, so dass der Weg des Denkens bei aller Entfernung von dem Gegebenen durch das Erkenntnissziel bedingt bleibt, der mehr speculative Charakter eines wissenschaftlichen Systems. Doch ist dieser Gegensatz nur ein relativer. Die sogenannten empirischen Wissenschaften würden, wenn sie alle Gedanken, die über die unmittelbare Erfahrung hinausgehen, von sich abzuthun versuchen wollten, auf den wissenschaftlichen Charakter selbst Verzicht leisten; die Philosophie aber muss, will sie anders nicht in luftige Phantastik aufgehen, zum Behuf der regressiven Erkenntniss der Principien die sämmtlichen positiven Wissenschaften voraussetzen; wie das Dach oder die Kuppel

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nicht unmittelbar auf dem Boden ruht, aber durch die Vermittlung der übrigen Theile des Gebäudes doch von demselben getragen wird, so ruht die Philosophie auf dem empirischen Fundament durch die Vermittlung der positiven Wissenschaften; die jedesmaligen Entwickelungsstufen jener und dieser stehen zu einander in dem Verhältniss wechselseitiger Bedingtheit. (Vgl. des Verfassers Abhandlung über den Begriff der Philosophie, in Fichte's Zeitschrift für Philosophie, Bd. XLII, 1863, S. 185-199.) In allen Wissenschaften ohne Ausnahme (vgl. über die Mathematik oben S. 380 f., 389 f., 415 und 429) bedarf die Speculation des empirisch gegebenen Stoffes, und die Empirie der speculativen Beseelung. Nur das Verhältniss dieser Elemente zu einander ist ein verschiedenes in den verschiedenen Wissenschaften.

Jedoch die Modificationen der allgemeinen logischen Gesetze in ihrer Anwendung je nach der Verschiedenheit des Inhalts der einzelnen Wissenschaften zu betrachten, ist nicht mehr Sache der allgemeinen oder reinen, sondern der besonderen oder angewandten Logik (s. oben § 8, S. 13 f.). Nachdem wir, von den an sich gewissen Thatsachen des Selbstbewusstseins ausgehend, in der nach Maassgabe der sinnlichen Wahrnehmung mittelst des Deukens vollzogenen, sachgemäss abgestuften Uebertragung des Inhalts und der Formen des Psychischen auf die Aussenwelt den Gang der menschlichen Erkenntniss gefunden, und aus dem Erkenntnisszwecke, der materialen Wahrheit, die in dem erreichbaren Maasse der Uebereinstimmung des subjectiven Bildes mit der objectiven Realität liegt, die Erkenntnissformen und die allgemeinen normativen Gesetze ihrer Bildung und Anwendung begriffen haben, stehen wir hier an der Grenze unserer Aufgabe.

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