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6-19-52 MFP

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Vorrede

zu dieser vierten Ausgabe.

Geneigter Leser!

nd meine Dichtkunst lebet noch! Sie les bet, sage ich, und hat alle die Anfälle überstanden, die man die Zeit her auf fie gethan; und denen ich sie bloß gestel let gelassen, ohne ihr im geringsten zu Hülfe zu kommen. Es ist allen bekannt, was seit etlichen Jahren, für oft wiederholte Feindseligkeiten wider sie ausges übet worden. Jedes Meßverzeichniß neuer Bücher kündigte ihr einen neuen Angriff an; und man schien nicht ermüden oder aufhören zu wollen, bis man meine arme Dichtkunst mit Strumpf und Stiel ausges rottet hätte. Es ist wahr, diese Schriften waren klein: allein, wer weis nicht, daß auch kleine Tropfen endlich einen Stein aushölen, und durchlöchern können?

Bey allen diesen vielfältigen Antastungen eines meiner ersten und liebsten Bücher, saß ich, zu großer Verwunderung vieler meiner Freunde, ganz still und

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unbeweglich. Ich ließ meinem Gegner und seiner kritischen Feder freyen Lauf, ohne mich im geringften zu regen, oder nur das mindeste Zeichen des Lebens oder einiger Empfindung zu geben. Ich spielte die Rolle eines Stummen, der keine Wiederrede in sei= nem Munde hat; oder eines ganz Unwissenden, der nicht das geringste, zur Vertheidigung seiner Lehren und Meynungen, vorzubringen weis. So wenig dieses der Sitte der Gelehrten gemäß ist, die insgemein nicht den geringsten Widerspruch erdulden können; ja sich wohl aufs heftigste regen, wenn man gleich ohne alle Nennung ihres Namens, eine von der ihrigen abgehende Meynung behauptet: so wenig habe ich es für rathsam gehalten, dieses mitzumachen. Meine Ursa chen will ich hier kürzlich entdecken.

Zuförderst muß ich meinen Lesern, den ersten Grund und Anlaß, solcher Feindseligkeit meines Widersachers, entdecken, und sie zu Richtern darüber machen. Es hatte derselbe, ich weis nicht mehr bey welcher Veranlassung, die Gelegenheits-Gedichte gänzlich verworfen. Ich las solches in einer Zeitung; und wunderte mich, daß solche Meynung von einem geLehrten Manne hatte behauptet werden können. Als mir nun bey einigem Nachdenken vorkam, daß ich die Vertheidigung vieler großen Dichter alter und neuer Zeiten übernehmen würde, wenn ich die Gelegens heitsgedichte beschüßen möchte: so machte ich einen kleinen Aufsah davon, den ich in den neuen Büchersaal der schönen Wissenschaften und Fr. K. drucken ließ. Ich zeigte darinn, daß die meisten griechischen und römischen; ja auch unter den Neuern die meisten wälschen, französischen und englischen Dichter,

eine Menge solcher kleinen Gelegenheitsgedichte verfertiget; und gleichwohl ihren Nationen dadurch kei ne Schande, großentheils aber viel Ehre gemachet. Ich handelte also diesen Sah ganz allgemein ab, ohne mit einem Worte an den Vertheidiger der obigen neuen Meynung zu denken, viel weniger etwas zu sagen, das ihm anzüglich dunken könnte. Zulegt erläuterte ich meinen Lehrsaß, mit einem neuern Beyspiele eines schönen Hochzeitgedichtes, von dem berühmten Hrn. Prof. Richey, welches damals ganz neu in meine Hånde gefallen war, und welches vieleicht einige Wahrheiten in sich hielt, die einer gewissen neuern Dichter- und Kunstrichtersecte nicht gefallen mochten.

Anstatt nun, daß mein Gegner seine Meynung weiter hätte behaupten, und meine Gründe widerlegen können, schwur er meiner Dichtkunst den Untergang; gleichsam, als ob diese sich an ihm versündiget hätte. Sie war unschuldig; aber das half nichts: seine Rachgier rief ihm unaufhörlich ins Ohr: Carthaginem effe delendam! die kritische Dichtkunst müßte ausgerottet werden. Hinc illæ lacrumæ! Was daraus erfolget sey, habe ich oben erwähnet: und meine Leser mögen selber urtheilen,ob diel:sache zum Zome rechtmäßig gewesen?

Sobald der erste Pfeil auf meine Dichtkunst abgedrucket worden, kam mir derselbe zu Gesichte. Ich sah ihn mit begierigen Augen an, und hielt es nicht für unmöglich, daß doch etwas Gutes darinn seyn könnte. Es war mir nur gar zu bekannt, daß ich nicht unfehlbar wåre: denn wer ist es wohl in der Welt? Ich kannte auch den großen Umfang der kritischen Wahrheiten, die zur Dichtkunst gehören,oder einigen Einfluß darein has ben. Wie leicht konnten mir nun unter denselben etlia 3.

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che entwischet seyn? Viele Augen sehen mehr, als zwey: und ich habe mich niemals für allwissend gehalten. Zwar wollten mich einige gute Freunde versichern, daß mein Gegner der Mann nicht wäre, der mich eines besfern belehren könnte. Sie hätten ihn genau gekannt, als er vor wenigen Jahren, die ersten Begriffe von der Dichtkunst, aus meinem Buche selbst geschöpfet hätte; er würde also schwerlich im Stande seyn, seinen Lehrer zu hofmeistern. Allein dieses störte mich nicht, in dem Lesen seiner ersten Schrift: weil ich wohl wußte, daß Lente von außerordentlicher Fähigkeit, in wenigen Jahren auch ihre Lehrer übersehen, und alle ihre Vorgänger übertreffen können.

Allein, was geschah ? Anstatt daß mich das Durchblåttern dieser Schrift hätte beunruhigen sollen: so legte ich sie weit ruhiger aus der Hand, als ich sie genommen hatte. Ich will und kann mich hier nicht ausführlicher erklären: nur so viel kann ich sagen; daß ich wegen meiner Dichtkunst eben nicht furchtsamer und vèrzagier ward, als vorhin; sondern vielmehr fest beschloß, sie ihrem Schicksale, und allen Pfeilen ihres Gegners zu überlassen, ohne ihr im geringsten beyzustehen.

Denn, sprach ich bey mir selbst: sind die Regeln und Lehrfäße des griechischen und römischen Alters thums, die du in deiner Dichtkunst vorgetragen hast, wohl gegründet : so werden sie gewiß auch diese Angriffe überstehen; wie sie sich so viel Jahrhunderte in der Hochachtung aller Verständigen erhalten haben. Du hast dir nämlich keine neue Kunstgriffe in der Poesie ers dacht; die vieleicht auf einem so seichten und lockern Grunde stehen möchten, daß sie der geringste Gegner über einen Haufen stoßen könnte. Wäre dieses, so hättest

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