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Das I. Hauptstück.

Vom Ursprunge und Wachsthume der Poesie überhaupt.

I. S.

Und

Wenn das Alterthum einer Sache ein Ansehen geben, oder ihr einen besondern Werth beylegen kann: so ist gewiß die Poesie eine von den wichtigsten freyen Künsten, ja der vor-' nehmste Theil der Gelehrsamkeit. Sie ist so alt, daß sie auch vor der Sternwissenschaft hierinn den Vorzug behaupten kann; die doch von den uralten Chaldåern, bald nach der Sündfluth, oder wie andre meynen, erst von den Aegyptern, eifrig getrieben worden. das ist kein Wunder. Die Ustronomie hat ihren Ursprung außer dem Menschen, in der sehr weit entlegenen Schönheit des Himmels: die Poesie hergegen hat ihren Grund im Menschen selbst, und geht ihn also weit nåher an. Sie hat ih re erste Quelle in den Gemüthsneigungen des Menschen. So alt also diese sind, so alt ist auch die Poesie: und wenn sie ja noch einer andern freyen Kunst weichen soll, so wird sie bloß die Musik, so zu reden, für ihre ältere Schwester erkennen.

2. §. Einige mollen behaupten, daß die allerersten Menschen das Singen von den Vögeln gelernet haben. Es kann solches freylich wohl nicht ganz und gar geleugnet werden; vielmehr hat es eine ziemliche Wahrscheinlichkeit für sich.

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Leute, die im Anfange der Welt mehr in Gårten oder angenehmen Lustwåldern, als in Häusern wohneten, mußten ja tåglich das Gezwitscher so vieler Vögel hören, und den vielfältigen Unterscheid ihres Gesanges wahrnehmen. Von Natur waren sie, sowohl als die kleinesten Kinder, uns Erwachsene selbst nicht ausgenommen, zum Nachahmen geneigt: daher konnten sie leicht Lust bekommen, den Gesang desjenigen Vogels, der ihnen am besten gefallen hatte, durch ihre eigene Stimme nachzumachen; und ihre Kehle zu allerley Ubwechselungen der Toné zu gewöhnen. Diejenigen, welche vor ane dern glücklich darinn waren, erhielten den Beyfall der andern: und weil man sie gern hörete, so legten sie sich desto eifriger auf dergleichen Melodeyen, die gut ins Gehör fielen; bis endlich diese vormaligen Schüler des wilden Gevögels, bald ihre Meister im Singen übertrafen.

3. §. Allein es ist nicht nöthig, auf solche Muthmaßungen zu verfallen. Der Mensch würde, meines Erachtens, gefungen haben, wenn er gleich keine Vögel in der Welt gefun= den hätte. Lehret uns nicht die Natur, alle unsere Gemüthsbewegungen, durch einen gewissen Ton der Sprache, ausdrüden? Was ist das Weinen der Kinder anders, als ein Klagelied, ein Ausdruck des Schmerzes, der ihnen eine unange= nehine Empfindung verursachet? Was ist das Lachen und Frohlocken anders, als eine Art freudiger Gefänge, die einen vergnügten Zustand des Gemüthes ausdrücken? Eine jede Leidenschaft hat ihren eigenen Ton, womit sie sich an den Tag leget. Seufzen, Uechzen, Dråuen, Klagen, Bitten, Schelten, Bewundern, loben, u. s. w. alles fällt anders ins Ohr; weil es mit einer besondern Veränderung der Stimme zu geschehen pflegt. Weil man nun angemerket hatte, daß die natürlich ausgedrückten Leidenschaften, auch bey andern, eben derglei= chen zu erwecken geschickt wåren: so ließen sichs die Freudigen, Traurigen, Zürnenden, Verliebten u. f. w. destomehr angele gen seyn, ihre Gemüthsbeschaffenheit auf eine bewegliche Art an den Tag zu legen; um dadurch auch andre, die ihnen zu höreten, zu rühren, das ist, ihnen etwas vorzusingen.

4.§. Wie nun, bisher erwähnter maßen, auch bloße Stimmen die innerlichen Bewegungen des Herzens ausdrücken; indem z. E. die geschwinde Abwechselung wohl zusammen stimmender scharfer Töne lustig, die langfame Abänderung gezoge ner und zuweilen übellautender Töne traurig klingt, u.f.f: so ist es doch leicht zu vermuthen, daß man nicht lange bey bloßen Stimmen, oder Tönen im Singen geblieben seyn, sondern auch bald gewisse Worte dabey wird ausgesprochen haben. Man höret es freylich auch auf musikalischen Instrumenten schon, ob es munter oder kläglich, troßig oder zärtlich, rasend oder schläfrig klingen soll: und geschickte Virtuosen wissen ih, re Zuhörer, bloß durch ihre künstliche Vermischung der Tone, zu allen Leidenschaften zu zwingen. Allein es ist kein Zweifel, daß Worte, die nach einer geschickten Melodey gesungen werden, noch viel kräftiger in die Gemüther wirken.

5. §. Sonderlich muß man dieses damals wahrgenommen haben, als die Gesangweisen so vollkommen noch nicht waren, als iho, da die Musik aufs höchste gestiegen ist. Es war also sehr natürlich, daß die ersten Sånger den Anfang macheten, anstatt unvernehmlicher Töne, verständliche Sylben und deutliche Wörter zu singen. Dadurch konnten sie dasjenige, was sie bey sich empfunden hatten, desto lebhafter ausdrücken, ihre Gedanken ausführlicher an den Tag geben, und bey ihren Zuhörern den gewünschten Endzweck erreichen, Abgesungene Worte, die einen Verstand in sich haben, oder gar einen Affect ausdrücken, nennen wir Lieder; oder, welches gleich viel ist: ein Lied ist ein Text, der nach einer gewissen Melodie abgesungen werden kann. Die Gefänge sind dergestalt die älteste Gattung der Gedichte, und die ersten Poeten find Liederdichter gewesen.

6. §. Man kann sich aber leicht einbilden, wie diese ersten Oden mögen geklungen haben. Alle Dinge find anfänglich rauh und grob, oder doch voller Einfalt. Die Zeit bessert alles aus; die lange Uebung in einer Kunst bringt sie endlich zu größerer Vollkommenheit: nur findet sich der Auspuh oft sehr spåt, wenn gleich die Sache längst

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erfunden gewesen. Ich stelle mir die neuerfundenen Lieder nicht anders vor, als die Evangelien, das Vater Unser, und andre in ungebundner Rede abgefaßte Lieder, die man noch iso an vielen Orten singt; nämlich die Litaney, den Lobgefang Marià, die Collecten u. d. m. Säße von ungleicher Größe, ohne eine regelmäßige Abwechselung langer und kurzer Sylben; ja so gar ohne alle Reime, waren bey den ersten Sângern schon eine Poesie. Die Psalmen der Hebräer, das Lied Mosis, der Gesang, den Mirjam beym Durchgange durchs rothe Meer angestimmet; u. a. m, können uns davon sattsam überzeugen. So mühsam sich einige Gelehrte, mit dem Hieronymus, haben angelegen seyn lassen, in diesen alten hebräischen Liedern ein gewisses Sylbenmaaß zu finden: so leicht wird doch ein jeder Unparteyischer sehen, daß alle ihre Arbeit vergebens gewesen. Sie haben es mehr hinein gezwungen, als darinn gefunden; und es ist weder wahrscheinlich noch nöthig, daß die Poesie der ältesten Nationen eben die Zierde und Vollkommenheit gehabt haben muß, als sie nachmals bey den Griechen und Römern erlanget. Man hålt es also billig mit Jos. Scaligern, der in seinen Unmerkungen über den Eusebius schreibt:,,Die hebräische „Sprache ist durchaus nicht auf die Regeln des griechischen ,, oder lateinischen Sylbenmaaßes zu bringen; wenn man ,, gleich Himmel und Erde durch einander mischen wollte. Man weis, daß der Englånder, der kürzlich von dem Sylbenmaaße der Psalmen neue Entdeckungen gemacht zu haben, vorgegeben, nichts besonders geleistet. Zum wenigsten hat ers nicht erweislich gemacht, daß es so sorgfältig, als bey den Lateinern und Griechen eingerichtet gewesen.

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7. §. Selbst die ersten Poeten unsrer Vorfahren habens nicht besser zu machen gewußt. Im Norden hat man in der Edda folche Ueberbleibsel alter Lieder, wo weder Sylbenmaaß noch Reime gefunden werden. Morhof im Unterrichte von der deutschen Sprache auf der 294. Seite führet folgendes an:

Latur

Latur sa er baton heitir
Han rakir lid bannat
Jord kan frelsa findum
Fridroß kongar oßa
Sialfur rådr alt och Elfar
Eira ftilliz amilli
Gramur ofgifft að fremri
Gandwikz Jofur Landi

d. i. Facit ille qui Haquinus vocatur,

Ille populum regit prohibere
Patriam poteft,defendere provincias
Pacis rupturæ rex infolentiam
Ipfemet adminiftrat omnia et Goth-
Solus repit inter
(albim
Rex valde virtuofus et præ aliis
Gandwicum Terræ Dominus pro-
vinciam.

Imgleichen hat Schilter in der Vorrede zu Ottfrieds Evangelio 10. S. T. 1. Thef. Antiqu. Germ. diese Probe gegeben:

Se oc fierwi
Ränsi firtbakind

Sa himm grimmi Greppur
Rfe tha Gautu

Er ban warthathi

Mathi einginn kwikur komast.

d. i. Pecunia et vita

Spoliavit hominum prolem
Sæva illa Mors

Trans illam femitam

Quam ipfa cuftodivit,
Potuit nemo vivens venire.

Daß diese alte Schwedische Sprache wo nicht eine Mutter, wie Rudbek in seiner Atlantica, nebst andern Schweden behaupten wollen, doch zum wenigsten eben so wohl eine Tochter der scythischen, und alten celtischen gewesen sen, als unsre deutsche, die daher ihren Ursprung hat; das zeigen so viele Wörter, die in diesen beyden Proben, an Verstand und Buchstaben mit unsern heutigen übereinkommen: wenn man nur die lateinische Uebersehung zu Hülfe nimmt, und sonderlich der plattdeutschen Mundart mächtig ist. Z. E. heitir, ist heißet; lid heißt leiten, bannat verbannet, Jord, Erde; kan ist völlig kann; Fridroß Friedensbruch oder Riß; Rongar, König; sialfur, selber; alt, alles; och, auch; ad, und; landi, land. Und in dem andern heißt ok auch; firthakind, Menschenkind, grimmi, grimmige, yfr, über, tha, die, warthathi, wartete, einginn, einiger, komast, kommest. Doch dieses nur beyläufig.

8. §. Fragen wir also, worinn die damalige Poesie der Alten denn eigentlich bestanden? so müssen wir sie, im Absehen auf das Aeußerliche, bloß in der ohngefähr getroffenen Gleichheit der Zeilen suchen. Es traf sich irgend so, daß die kurzen Abschnitte der Rede, oder die kleinen Theile der Lieder,

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