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Versuch

einer

Kritischen Dichtkunst.

Zweyter

Besonderer Theil.

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Von den Gedichten, die von den Alten erfunden worden.

Das 1. Hauptstück.
Von Oden, oder Liedern.

I. §.

Wir folgen der Ordnung der Natur. Oben ist erwiesen worden, daß die Musik zur Erfindung der Poesie den ersten Anlaß gegeben. Die ersten Dichter, Kumolpus, Musåus, Orpheus, Arion, Amphion und Linus, haben lauter musikalische Verse gemacht, und dieselben den Leuten vorgefungen. Die Alten haben ihre Gefeße gesungen, und Aristoteles meynet gar, daß dieselben darum voμos genennet worden: weil die Strophen der Lieder so hießen, darinn sie vor Alters abgesungen worden. Die Geschichte und Thaten der Helden wurden auch schon vor Erfindung der Schriften in Liedern aufbchalten. Alles, was vor dem Radmus von Milet und dem Pherecydes von Scyros in Griechenland gemacht worden, das waren Lieder, und Gesänge. Auch in der Odyssee finden wir, DD 2

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daß Phemius den Liebhabern der Penelope ein Lied von der schweren Rückfahrt der Helden vor Troja finget. Aga. memnon hat seiner Gemahlinn einen Sänger zu Hause gelassen, sie in seiner Abwesenheit zu belustigen und zu erbauen. Menelas giebt im IV. B. ein Fest, wobey man singet und tanzet. Im VIII. B. singt Demodokus bey den Phẳaciern, von der Liebe des Mars und der Venus. Jm XII. singen die Sirenen. Im XXI. sang Phemius, von den Liebhabern der Penelope gezwungen, abermal. Anderer Tisch- und Trinklieder zu geschweigen, davon de la Nauze in den Memoires de l'Acad. des belles Lettres. T. XIII p. 501. u. f. nachzusehen ist. Die lieder sind also die älteste Gattung der Gedichte, und wir können mit gutem Grunde von denselben den Anfang machen.

2. §. Weil ein Lied muß gesungen werden können, so gehört eine Melodie dazu: und weil der Tert und die Musik sich zu einander schicken sollen, so muß sich eins nach dem andern richten. Es versteht sich aber leicht, daß sich zuweilen die Pocfie nach der Singweise; zuweilen aber die Singweise nach der Poesie bequemen wird, nachdem entweder jenes, oder dieses am ersten fertig gewesen ist. Zwar die alten Poeten, weil sie zugleich auch Sänger waren, und weder in einem, noch in dem andern Stücke, gar zu viel Regeln wußten, mógen wohl zuweilen aus dem Stegreife ganz neue Lieder ge- . sungen haben; davon vorher weder die Melodie, noch der Tert bekannt gewesen. Sie nahmen es weder in der Långe der Zeilen, noch in dem Sylbenmaaße so genau; und konn. ten auch leicht so viel Tóne dazu finden, daß es einem Gesange ähnlich ward. Ich habe selbst einen alten Singmeister, der ein Sånger und Poet zugleich seyn wollte, in großen Gesellschaften, zur Luft, auf jeden insbesondere, ein ganz neues Lied singen hören. Er dichtete und componirte also aus dem Stegreife; wie man theils aus den Knittelversen, theils aus der Melodie leicht hören konnte. So kann und muß man sich denn auch die ältesten Poeten einbilden. Ihre Texte waren so ungebunden, als ihre Melodien; und wenn

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wir in Kirchen den Lobgesang Marià, die Litancy, oder das Lied Simeots fingen; so können wir uns leicht vorstellen, wie solches mag geklungen haben.

3. §. Doch von diesen ersten Liedern ist hier nicht mehr die Frage. Man hat sie allmählich regelmäßiger zu machen angefangen, und theils die Terte, theils die Melodien gebef. sert. Man erfand gewisse Gesangweisen, die sehr schön ins Geher fielen, und bemühte sich, dieselben nicht wieder zu vergessen. Der Text ward darnach eingerichtet; und das war ein Lied von einer Strophe. Wollte der Poet noch mehr Einfälle und Gedanken ausdrücken, so hub er seine Melodie von vorne wieder an: und weil seine Verse sich auch darnach richten mußten, so entstund abermal eine Strophe, die der ersten ungefähr ähnlich war. Und damit fuhr man so lange fort, bis das Lied lang genug schien, oder bis der Dichter nichts mehr zu sagen hatte. Anakreon scheint indessen von Strophen oder abgetheilten Versen seiner Oden nichts ge= wußt zu haben. Alle seine Liederchen gehen in einem fort, bis sie zum Ende sind, und man könnte sie also nach unsrer Art eher Arien, als den nennen: es wäre denn, daß er bey jeder dritten, vierten oder fünften Zeile die alte Melodie wiederholet hatte; wozu es aber wenig Anscheinung hat. 3. E. die IV. Anakreontische Ode auf sich selbst, habe ich in eben so viel Zeilen und Sylben so überschet:

Auf den jungen Myrtenzweigen, '
Auf den zarten Lotosblättern,
Will ich liegen und eins trinken.
Amor soll mit nackter Schulter,
Und halb aufgeschlagnem Kleide,
Mich aufs artigste bedienen.
Denn kein flüchtig Rad am Wagen

Läuft so schnell, als unser Leben:

Und da bleibt von unsern Beinen
Nur ein wenig Staub im Grabe.

Drum was hilfts, den Grabstein salben,
Und den schnöden Wust der Grüfte?
Salbt mich selber, weil ich lebe,
Krönet mich mit frischen Rosen ;

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