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Die wohlausgedachte realistische Art unseres Dichters lässt sich, um nur eins anzuführen, daran erkennen, dass er die Personen erst schildert, sobald sie handelnd auftreten und uns die Möglichkeit gegeben ist sie zu sehen. Nicolete erscheint auf der Bühne, indem sie hinter dem Fenster des Gefängnisses ihre Klagen anhebt. Aber das kleine Turmfenster zeigt uns nur Nicoletens Kopf (5,7-10), während wir die ganze Gestalt erst erblicken dürfen, als sie aus dem Gefängniss entronnen ist und durch das bethaute Gras des Gartens schreitet (12,19-29).

Sainte-Palaye (Les amours du bon vieux tems S. 5) versetzte den Dichter in die Zeit des hl. Ludwig; nach Roquefort (De l'état 259) gehörte er noch dem 12. Jahrhundert an. Vielleicht gewinnen wir das Richtige, wenn wir einen Mittelweg einschlagen und ihn in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts setzen. Seine Jugend mag noch in das 12. Jahrhundert fallen, da ihm die Wirkungen des im Jahre 1191 abgeschafften Strandrechts (lagan) noch geläufig sind.1) Auch lässt unser Gedicht eine Reife der Lebenserfahrung und eine Handhabung der Form erkennen, welche weder auf einen Jüngling noch auf einen Anfänger schliessen lassen. Es ist gewiss kein Zufall dass Nicolete aus Lilien und Stechpalmzweigen (erbe du garris 19,13) die Hütte errichtet, darin sie den Geliebten erwarten will. Die Stechpalme überwuchert noch heute die Steppen der Provence, welche ihr den Namen garrigo verdanken, wie jedem Leser von Mistrals Mirèio geläufig ist. Obgleich in Frankreichs hohem Norden zu Hause, wird unser Dichter die heitern Provencer Thale aus eigner Anschauung gekannt haben, und sicher waren es Erinnerungen der freundlichsten Art, die ihn veranlassten, gerade diese Gegend zum Schauplatz seiner Geschichte auszuersehen.

Ueber den Ursprung der Geschichte ist mir ebensowenig

1) In Texten aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, z. B. in Mouskets Chronik, ist das Wort lagan nicht selten, steht aber fast immer in allgemeinerer Bedeutung (Plünderung überhaupt). Doch scheint die alte Bedeutung noch im Renart le nouvel (Lille 1288) vorzuliegen (dont ira lor nave a lagan 5301).

etwas sicheres bekannt geworden als über den des Namens Aucassin. Ob der Name des Helden mit dem Namen seiner Freundin gleicher Heimat entstammt? Vielleicht. Auch bei der Entstehung der Fabel haben, wie Du Méril mit Recht hervorhob (Floire et Blanceflor S. CXCIII), unverkennbar Byzantinische Einflüsse mitgewirkt.1) Ja ich möchte glauben dass unser Dichter als einzige Quelle die Geschichte von Floire und Blanceflor benutzt hat, die er vielen wesentlichen, aber wohlgelungenen Aenderungen unterzog und im einzelnen feiner und kunstvoller ausgestaltete, ohne dabei den zarten, frischen Hauch, der auf dem Stoffe liegt, ohne das Schwärmerische und Innige, das ihm eigen ist, davon abzustreifen.

Meines Wissens wurde der Aucassin schon sechs Mal herausgegeben: zuerst von Méon (Fabliaux et contes. 1, 380. 1808), darauf an Renouards Ausgabe der Fabliaux ou contes, fables et romans du XIIe et du XIIIe siècle, traduits ou extraits par Legrand d'Aussy (Troisième édition. Anhang zum 3. Bande S. 9. 1829), sodann von Ideler (Geschichte der Altfranzösischen National-Literatur S. 317. 1842), ferner von Charles Malo (Livre mignard ou La fleur des fabliaux. Avec gravures. Paris, Janet. 120. S. 10. wann erschienen?), endlich in den Nouvelles françoises en prose du XIIIe siècle publiées d'après les manuscrits avec une introduction et des notes par LMoland et Cd'Héricault S. 231 (1856) und von Delvau (Aucassin et Nicolette, roman de chevalerie provençal-picard, publié avec introduction et traduit par Alfred Delvau. 1866). Delvau hat nach der Angabe der Revue critique 1867 N. 1 - ich bekam seine Ausgabe nie zu Gesichte nur den Text der Nouvelles françoises wiedergegeben. Die übrigen Ausgaben reproducieren nur Méons Text. Die Handschrift selbst haben, wie es scheint, nach Méon nur die Herausgeber der Nouvelles françoises zu Rathe gezogen. Zu nennen ist auch das Bruchstück, welches Karl Bartsch in seine Chrestomathie de l'ancien français (1866 Sp. 255, 1872 Sp. 279, 1875 Sp. 279) aufnahm, nachdem es von Meyer mit der Handschrift verglichen worden.

1) Auf die Erwähnung der Löwen 17, 9, 18. 18, 27 möchte ich hierbei kein Gewicht legen.

Von neuern Bearbeitungen sei nur eine erwähnt, was Verständniss, Genauigkeit und Gewandtheit des Ausdrucks betrifft weitaus die beste, ja die einzige, welche sich rühmen kann, den Ton des Originals vollkommen getroffen zu haben. Sie ist Mussafia gewidmet und erschien zuerst 1865, dann in zweiter Auflage ohne Jahreszahl unter dem Titel: 'Aucassin und Nicolette. Altfranzösischer Roman aus dem 13. Jahrhundert übersetzt von Dr. Wilhelm Hertz (Troppau, Kolck). Schade dass noch kein Französischer Dichter verstanden hat den anziehenden Stoff mit gleicher Kunst zu erneuern!

An den Anfänger wenden sich die Paradigmen und das Glossar, weniger die Darstellung der Mundart. Für die letztere habe ich die Arbeiten von ATobler (Dit dou vrai aniel S. XIX) und GParis (Vie de saint Alexis S. 267) sowie WFoersters Bemerkungen (in seinen Ausgaben) verwerthet, doch darf ich vieles als Ergebniss eigner Untersuchung bezeichnen. - Einen Aufsatz über die Aussprache der im Aucassin vorkommenden Laute des Altfranzösischen gedenke ich in der Zeitschrift für Romanische Philologie zu veröffentlichen. Von Mittheilung der Musiknoten habe ich abgesehen, da ich die Nachricht bekam, dass die Veröffentlichung einer Pracht-Ausgabe des Aucassin von Gaston Paris nahe bevorsteht, welche auch von den Noten der Handschrift einen berichtigten Abdruck bringen wird.

Schliesslich habe ich Worte des Dankes an verschiedene Adressen zu richten: an die Verwaltung der Pariser NationalBibliothek, welche mit ihrer bekannten Liberalität die Hersendung der Handschrift gestattete; an unser hohes Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, welches diese Hersendung gütigst vermittelte; endlich an Prof. Tobler, der mir über einige Worte des Textes (escole esvertin forni nimpole puïe) die erbetene Auskunft gab.

HALLE, den 1. Mai 1878.1)

Hermann Suchier.

1) An diesem Tage wurde das Msc. der Ausgabe abgeschlossen. Die Vollendung des Druckes wurde durch äussere Umstände bis zum 20. August verzögert.

Aucassin und Nicolete.

Er welte úz allen eine

und diente der vil manegen tac.

Suchier, Aucassin u. Nicolete.

1

Handschrift: in Paris B. N. fr. 2168, anc. 79892.

Wo die Schreibung der Handschrift verlassen wurde, ist ein Stern gesetzt, welcher auf die handschriftliche Lesung am Fuss der Seite verweist.

Der Accent ist nur verwendet worden, um damit die Betonung des damit versehenen Vocales zu bezeichnen; nicht aber zur Bezeichnung der Klangfarbe, wie bisher in Altfranzösischen Ausgaben oft geschah. Daher fand nur der Acutus, nicht der Gravis Verwendung.

c mit Accent (c) ist = TSH zu sprechen; c mit Cédille steht nur unmittelbar hinter s (sc) und lautet wie scharfes S; c mit dem Laute K ist unbezeichnet geblieben (c).

Die Zahlen rechts vom Texte beziehen sich auf die Seiten der in den Nouvelles françoises en prose du XIIIe siècle erschienenen Ausgabe.

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