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Geschichte

der

chriftlichen Ethik.

Bweite Hälfte:

Geschichte der chriftlichen Ethik seit der
Reformation.

Don

D. Chr. Ernst Luthardt.

V. II, 2

Leipzig,

Dörffling & Franke.

1893.

RVARD

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693
L941
v. II, 2

§ 29. Mystik und Pietismus auf dem Boden der reformirten Kirche 2c.

249

Enthusiasmus, und haben von da aus mannigfache Einwirkung auch auf deutsche Gebiete ausgeübt, nach beiden Seiten hin die Gesundheit der reformatorischen Lebensanschauung gefährdend.

1. Mystik und Pietismus in ihrem Recht und Unrecht. Wenn der Apostel die Christen erinnert, daß ihr Leben ein mit Christo in Gott verborgenes sei (Kol. 3, 3), und daß sie sich nicht dieser Welt gleichstellen sollen (Röm. 12, 2), so wendet sich jenes erste Wort gegen die Veräußerlichung des Christenlebens, welche in den Dingen und Aufgaben, auch den Berufsaufgaben dieser Welt so aufgeht, daß sie vergißt, daß das Leben des Christen ein Leben der Innerlichkeit ist, während das andere sich gegen die Weltförmigkeit des Christenlebens wendet, welche die Widergöttlichkeit dieser vergänglichen Welt, welcher wir von Geburt angehören, verkennt und daher vergißt, daß der Christ sich auch in seiner Lebensführung als einen nicht ihr Zugehörigen darstellen soll. Jenes ist das unveräußerliche Recht der Mystik, dieses das unveräußerliche Recht des Pietismus. Aber das Recht kann zum Unrecht werden und ist dazu geworden. In das Unrecht setzt sich die Mystik, wenn sie jene Innerlichkeit ver= steht als ein Zurückziehen der einzelnen Seele auf das Innenleben auf Kosten der kirchlichen Gemeinschaft und mit Verkennung der Aufgaben, welche das gottgeordnete Leben in der Welt der Schöpfung stellt, und wenn sie das jenseitige Leben im diesseitigen genießend vorausnehmen will, in vermeintlichen gewaltsamen Erhebungen der Seele über die Grenzen des leiblichen Lebens nach der Methode des Neuplatonismus, verkennend, daß in der Glaubens- und Gnadengemeinschaft Gottes das verborgene Leben in Christo gegenwärtiger Besiz des Gläubigen geworden ist und unter allen den Aufgaben, welche dem Christen in seinem äußeren Gemeinschafts- und Berufsleben ge= stellt sind, sich zu bewähren hat; und endlich, daß bei aller Jnnigkeit des Gottesverhältnisses doch der persönliche Charakter desselben gewahrt bleiben will und nicht einem Untergehen des Einzelnen im Ozean der Alheit Gottes weichen soll. Und in das Unrecht seßt sich der Pietismus, wenn er das Leben der Heiligung und seinen Unterschied vom sündigen Weltleben in äußere gesetzliche Regelung der Lebensführung sezt, statt in die naturgemäße Erscheinung und Geltendmachung des inneren Lebens der Heiligung in den geordneten Formen und Aufgaben des Gemeinschaftslebens.

mus.

2. Unterschied und Verbindung von Mystik und Pietis.

Mystik und Pietismus find an sich so verschieden, wie Leben

der Innerlichkeit und gesetzliche Regelung des äußeren Lebens. Aber fie treffen beide vielfach geschichtlich zusammen in der Richtung auf Naturverneinung und in der Zurückziehung auf das Einzelleben oder auf abgesonderte kleinere Gemeinschaftskreise. Denn wie jene mystische Innerlichkeit nur Sache der einzelnen Seele oder kleiner Kreise von Gleichgestimmten sein kann, so kann auch die pietistische Unterstellung der äußeren Lebensführung unter besondere gesetzliche Regelung derselben der Natur der Sache nach nicht allgemeine Lebensweise sein. So treten an die Stelle der gemeinsamen Volkskirche die engeren Kreise der einzelnen vollkommeneren Gläubigen, welche die Wirklichkeit ihres Christenstandes dann durch jene besondere Weise der Lebensführung zu bewähren suchen. Diese pietistische Entnehmung aus der sonst gültigen Weise des Lebens in der Welt steigerte sich leicht zum Streben nach völliger Weltverneinung, wie sie in der Mystik in der Regel zu Hause war oder erstrebt wurde. So finden wir denn beide in naher Beziehung zu einander und in einzelnen Vertretern mit einander verbunden.

3. Der Zusammenhang mit der reformirten Denkweise. Beide Richtungen gehen durch die ganze Geschichte der Kirche herab und treten uns in einzelnen Kreisen und Richtungen der vorreformatorischen Kirche charakteristisch entgegen. So in den Erscheinungen der mittelalterlichen Mystik und in den Bestrebungen, „das apostolische Leben“ zu erneuern. An sich ein berechtigter Protest gegen die Veräußerlichung des kirchlichen Wesens wie gegen die Verweltlichung des chriftlichen Lebens, sind sie beide, wie wir sahen, in falsche Bahnen gerathen. In der Reformationszeit wiederholen sie sich und fassen sich zusammen vor allem in den wiedertäuferischen Bewegungen und Gemeinden. Aber auch in den Grundanschauungen des reformirten Protestantismus selbst haben sie ihre Wurzeln. So energisch dieser sich des wilden Wiedertäuferthums zu erwehren suchte, so ist der Zusammenhang mit jener doppelten Denkweise doch nicht zu verkennen. Und wenn auch am Anfang vielleicht nicht bewußt, ist er später doch auch mit Bewußtsein ausgesprochen und geltend gemacht worden. Zwei eigenthümliche Gedanken sind für den reformirten Protestantismus, wie wir sahen, im Unterschied vom lutherischen charakteristisch: die Betonung der Absolutheit Gottes und der Gedanke der Theokratie. Jene bildet die Ueberleitung zu dem Sah, welcher der stets wiederholte Grundsaß der Mystik ist: Gott ist alles und der Mensch ist nichts. Der Gedanke der Theokratie aber hatte eine gesetzliche Regelung

der äußeren christlichen Lebensführung zur Folge. Das aber ist be= zeichnend für den Pietismus. Jener Sag kann zunächst Ausdruck der religiösen Demuth sein, aber es lag nur zu nahe, ihn beim Wort zu nehmen und metaphysisch zu fassen im Sinne des Akosmismus, wenn auch mehr oder weniger unbewußt. Dann will er sagen, daß Gott, das unendliche Sein, die einzige Realität ist, in welcher unterzugehen für das Nichts, d. h. den Menschen, die wahre Seligkeit ist. Das aber ist der Irrthum der mystischen Ethik. Diese gesetzliche Regelung des äußern Christenlebens aber, geschehe sie nun im Namen des Staats oder in dem der Kirche, muß, da sie sich für die Gesammtheit mit der Zeit als undurchführbar erweist, zu separatistischer Neigung und Bestrebung führen. Und so begegnen wir denn auch beiden Erscheinungen zunächst auf dem Boden der reformirten Kirche.

4. In England hatte sich im Gegensaß gegen die anglikanische Reform der Puritanismus 1 entwickelt, welcher den Kalvinismus Genfs und die ordre de discipline der reformirten Kirche Frankreichs auf das kirchliche Leben Englands übertrug 2 und in Folge der Verfolgung, die er erfuhr, nur um so schärfere und schroffere gesetzliche Gestalt annahm. In dieser puritanischen Disziplinirung der christlichen Lebensführung (besonders auch in strenger Sabbathfeier), wie sie als Konsequenz des Kalvinismus erscheint, haben wir eine Analogie zum späteren Pietismus zu sehen, nur eben hier mit der reformirten und speziell puritanischen Besonderheit der Vermischung des Kirchlichen und Politischen, wie sie sich aus dem maßgebenden alttestamentlichen Vorbild auf Grund des unvermittelten reformirten Schriftprinzips ergab, und auch dem Verhalten Cromwell's dann sein eigenthümliches Gepräge gab und seine Rechtfertigung bildet. Die Universität Cambridge, deren Zierde Whitaker 1547-1595 war, hatte den Herd dieser puritanischen Bewegung gebildet, William Perkins, 4 1558-1602, aber gilt als der Vater dieses puritanischen Kalvinismus, wie er zugleich im kalvinistischen Sinn die mystische Vereinigung der Person des Gläubigen durch den Geist Gottes mit der Person Christi, zunächst mit seiner menschlichen, von da aus mit seiner göttlichen Natur

1) Der Name nachweisbar seit 1564 (nach Heppe, Gesch. des Pietism. u. der Mystik in der reformirten Kirche 1879 S. 18 auch dem Folgenden zu Grunde liegend). Außerdem vgl. den ausführlichen Artikel Puritaner" von Schoell in P. R.-E.2 XII, 393–425.

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2) In der Disciplina ecclesiae sacra, ex Dei verbo descripta. 3) Vgl. z. B. Schoell, a. a. D. S. 421.

4) Vgl. oben § 21, 3.

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