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welches sie früher innegehabt. Unter der Verwaltung des Herzogs von Bourbon wurde die Verfolgungssucht durch die unseligsten Maßregeln gesteigert. Im Jahr 1724 wurde ein Religionsedict erlassen, welches gegen die zurückgebliebenen Protestanten die bei der Widerrufung des Edictes von Nantes angewendete Strenge noch weit übertraf. Der Cardinal Fleury, welcher sodann an das Ruder kam, war pfåffisch und engherzig. Jene gehässige Bulle wurde bindendes Staatsgesetz. Die Jesuiten bemächtigten sich der Kanzeln, Beichtstühle, Schulen und Universitåten ganz ausschließlich. Das Parlament erlangte zwar für die vertriebenen Geistlichen einige Milderungen; aber die Uebermacht der Jesuiten blieb nach wie vor ungefährdet und furchtbar. Und leider verloren auch die Jansenisten immer mehr ihre frühere Reinheit. Ihre einst so warme und gefühlvolle Frömmigkeit entartete in phantastische Schwärmerei, in Verzückung, Wunderthun und Kasteiung. Alle Orgien und Wüstheiten des ungesundesten Muckerthums schossen in wuchernder Saat auf und erkalteten und entfremdeten alle Besonnenen. Ein ruhiger und verständiger Sinn konnte sich weder für die Jesuiten noch die Jansenisten begeistern. Die schlichte Einfalt des Glaubens wurde auch im Volk aufs tiefste erschüttert.

Zuletzt die sogenannten Philosophen. Waren schon unter Ludwig XIV., als Gegengewicht gegen den unerquicklichen Zwist und Hader der kirchlichen Richtungen und Parteiungen, die Regungen einer freieren und unabhängigeren Denkart laut gewor= den, so wurden diese jest gesteigert und vertieft durch die gewaltigen Bewegungen, welche als folgerichtige Nachwirkung Newton's inzwischen in dem benachbarten England vor sich gegangen. Locke und die Freidenker waren nunmehr dort die unbestrittenen Heerführer der herrschenden Bildung. Maupertuis, Voltaire und Montesquieu werden die begeisterten Priester der neuen Lehre. Nicht blos die Werke Newton's, sondern ebensosehr die Werke

Locke's, Pope's, Collin's, und Swift's Märchen von der Tonne werden überseht, erläutert, ergänzt, fortgebildet; ja 1725 ziehen sogar schon die Freimaurer in Paris ein, damals noch in der ersten Frische und Reinheit ihres deistischen Propagandaeifers, vergl. Lemontey's Histoire de la Régence Th. 2, S. 476. Wir erkennen die Breite und Behendigkeit dieser Einwirkungen lebhaft aus den Schilderungen, welche Schlosser in seiner Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts (Dritte Aufl. Th. 1, S. 557) aus den noch ungedruckten Denkwürdigkeiten des Cardinals Fleury mitgetheilt hat. Dort beklagt sich der Cardinal bitter über jene Unzahl anstößiger englischer Bücher, welche zur Zeit der Regentschaft über das Meer gekommen. »Von diesen Büchern,« sagt der Cardinal, »wurden Alle vergiftet, welche unter uns Anspruch auf Geist und umfassenden Blick machten.« So ist es von tiefer Bedeutung, daß schon im Jahre 1718 der junge Voltaire in seinem Oedipe gegen die Geistlichkeit die berühmten Verse schleudern konnte:

Ces organes du ciel sont ils donc infaillibles?

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Pensez vous, qu'en effet au gré de leur demande
Du vol de leurs oiseaux la vérité dépende?

Non, non; cherchez ainsi l'auguste vérité

C'est usurper les droits de la divinité!

Nos prêtres ne sont pas ce qu'un vain peuple pense,

Notre crédulité fait toute leur science

--

Traitre, au pied des autels il faudrait t'immoler
A l'aspect de tes dieux que la voix fait parler!

Und schon schreibt derselbe Voltaire in dieser Zeit den ersten Entwurf der Henriade, welche in ihrem innersten Kern eine dringende Mahnung zur religiösen Duldsamkeit ist, und Montesquieu schreibt die Lettres persanes, deren religiöse Ausführungen von demselben Geist durchglüht sind.

Blicken wir zurück auf das bewegte, bunte, vielgestaltige Leben dieses merkwürdigen Zeitalters, so läßt sich erwarten, daß

auch die Kunst und Literatur sehr mannichfaltig und von den lebendigsten Gegensätzen bewegt sein wird. Man behandelt diese Literaturepoche gewöhnlich nur sehr flüchtig und beiläufig; und wohl ist sie unbedeutend, wenn wir sie mit der Glanzzeit unter Ludwig XIV. und mit der in den nächsten Jahrzehnten hervortretenden Blüthe und Reife der französischen Aufklärungsliteratur vergleichen. Aber sie ist wichtig und nachhaltig als das Ringen und Streben einer tiefeingreifenden Uebergangsepoche. Bereits schreiben in dieser Zeit Voltaire und Montesquieu ihre ersten Schriften, und Diderot und Rousseau empfangen in ihr ihre Jugendbildung.

Die wissenschaftliche Literatur dieser Zeit bewegt sich vorwiegend in politischen Reformideen und in naturwissenschaftlichen und philosophischen Bestrebungen, welche Denkart und Sitte von den alten kirchlichen Ueberlieferungen loszureißen suchen. Kunst und Dichtung aber entsagen vollends dem höfischen Gepråge, das ihr die Herrschergewalt Ludwigs XIV. aufgedrückt hatte. Wie in der Zeitstimmung selbst, so können wir auch hier, in dem treuen Spiegel der Kunst und Dichtung, zwei widerstrebende Richtungen genau unterscheiden. Eines Theils verliert sich diese Kunst in jene blasirte Leichtfertigkeit, welche die Krankheit der vornehmen Welt ist; anderen Theils aber wird sie das schlichte und rührende Sittengemålde des erstarkenden Volksthums und erobert Stoffe und Formen, welche kurz zuvor in Frankreich noch völlig unmöglich gewesen.

Zweites Capitel.

Die ersten Einwirkungen Englands auf Politik und Naturwissenschaft.

1.

Massillon. Der Abbé von Saint Pierre. d'Argenson.

Die Denkwürdigkeiten des Herzogs von Saint Simon enthüllen deutlich, mit welchen gewaltigen Umwälzungsplånen sich ein großer Theil des Adels nach dem Tode Ludwigs XIV. trug. Die Errungenschaft des Königthums sollte gestürzt, der Adel wieder in seine verlorene Unabhängigkeit eingesetzt werden. Das offenste Glaubensbekenntniß dieser feudalistischen Partei ist das leidenschaftliche Buch des Grafen Boulainvilliers, „Histoire de l'ancien gouvernement de France, avec 14 lettres sur les Parlemens ou Etats généraux", welches 1727 in drei Bånden im Haag erschien, aber schon lange vorher in allen vornehmen Kreisen handschriftlich bekannt war. Den Adel von den frånkischen Eroberern, die unteren Stånde von den leibeigenen Galliern ableitend, ist dies Buch ebenso erbittert gegen die Uebergriffe der königlichen Gewalt, welche den Adel in seinem våterlichen Erbe der unbedingtesten Macht, Freiheit und Unabhängigkeit immer mehr und mehr einschränkte, wie verlegend und hochmüthig gegen das Volk, das aus seiner Leibeigenschaft zu staatlichen Aemtern und gesellschaftlicher Stellung und Wohlhabenheit vordrang. Es er

scheint die gesammte neuere Staatsentwicklung als völlig rechtswidrig. Die rückhaltslose Umkehr zu der nach oben und unten unumschränkten Adelsherrschaft wird als unabweisliche Folge hingestellt.

Es fehlte nicht an heftigen Widerlegungen dieser ungeschichtlichen Faseleien. Das Wichtigste aber war, daß sich dieser Rückschrittspartei eine ebenso thåtige Fortschrittspartei entgegenstellte. Im handelnden Leben gilt einzig das Goethe'sche Wort: »Und wenn sie die Bewegung leugnen, so tanze ihnen vor der Nase herum.<< Angesichts jener Gefahren drångten tapfere und einsichtige Månner nur um so fester auf die Herstellung und Sicherung geseßlicher und freier Zustånde.

Immer wird es eine denkwürdige That bleiben, daß Massillon, der gefeierte Kanzelredner, die Kanzel benußte, dem König ins Gewissen zu reden. Schon Ludwig XIV. hatte von ihm hören müssen, daß die schmeichelnde Welt ihn zwar preise ob seiner Eroberungen und Siege, daß das Evangelium aber unbestechlicher urtheile. Um so unumwundener sprach er, als er vom Regenten berufen wurde, dem neunjährigen König Ludwig XV. die Fastenpredigten zu halten. Diese Predigten sind unter dem Namen des Petit-Carême veröffentlicht. Es ist bekannt, welche ftrafende Rückblicke Massillon auf den Gestorbenen warf, dessen Ruhm er mit einer Eiterbeule verglich, die nur Ansteckung und Schande verbreite; doch großartiger sind die Mahnungen, durch welche er dem Land eine bessere Zukunft zu sichern suchte. Lehren, die von Milton, Algernon Sidney und Locke stammen, erschallen unmittelbar vor dem Throne. »Sire,« sagte Massillon, »die Freiheit, welche die Fürsten ihren Völkern schuldig sind, ist die Freiheit der Gesetze. Ihr habt keinen anderen Richter über Euch als Gott, aber die Gesetze müssen mehr Macht haben als Ihr selbst; Ihr herrscht nicht über Sklaven, Ihr herrscht über ein freies und tapferes Volk, das auf seine Freiheit ebenso eifer

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