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herzige Ausmalung auch des Einzelnften und Kleinsten Alles, selbst die plößlichsten und überraschendsten Uebergånge, so tåuschend und glaubhaft zu machen, daß wir trok aller Abenteuerlichkeit und Leichtfertigkeit dem Helden unsere tiefste Theilnahme schenken. Man hat dem Roman vorgeworfen, daß wir es immer nur mit angefressenen, nirgends mit reinen und erhebenden Charakteren zu thun haben; aber in unzerstörbarer Fröhlichkeit des Herzens steht Gil Blas mit heiterer Ironie stets über sich selbst. Freilich beschäftigt uns mehr nur der Wiß der Situation als die Innerlichkeit der Charakteristik, mehr nur der Esprit als der Humor. In dieser Beziehung erreicht er weder den Don Quirote noch selbst den Tom Jones.

Gil Blas ist eine sehr entscheidende Wendung. Bisher war die französische Dichtung nur die Verherrlichung des bestehenden Staats gewesen; hier ist sie dessen satirische Geißelung. Bisher war der Bürgerliche nur zugelassen worden, um verlacht zu werden; hier ist er der siegende Held. Bisher war die dichterische Charakterzeichnung in bestimmte, feste, der idealen Großheit der Antike nachgeäffte Begriffsallgemeinheiten eingezwångt; hier ist der Weg nach dem Wirklichen und Naturwahren eingeschlagen. Im Inhalt ist Lesage der erste oppositionelle, in der Form der erste realistische Dichter.

Als Boileau eines Tages feinen Diener mit dem Roman des hinkenden Teufel in der Hand traf, bedrohte er ihn sofort mit Entlassung. Dieser Zug, sei er wahr oder erfunden, bezeichnet den Gegensatz zweier Weltalter. An die Stelle der höfischen Literatur ist eine Literatur getreten, in welcher ein frischer, freier, volksthümlicher Hauch weht. Gil Blas ist der Vorläufer Figaro's.

3weiter Abschnitt.

Die Regentschaft des Herzogs von Orleans und das Ministerium des Cardinal Fleury.

Erstes Capitel.

Die Sittenverwilderung des Adels und das Erstarken des Bürgerthums.

Die Regentschaft des Herzogs von Orleans von 1715-1723 ist eine der wichtigsten Epochen der französischen Geschichte. Man pflegt mit dem Namen dieser Regentschaft immer nur das Bild der schamlosesten Ausschweifung zu verbinden; und leider ist dies Urtheil nur allzu gegründet. Aber wir dürfen dabei nicht übersehen, daß in Staat, Gesellschaft und Denkart die bedeutendsten Umgestaltungen vorgehen, welche diese Zeit recht eigentlich zur Vorgeschichte der französischen Revolution machen.

Ein einziger Sak spricht den innersten Nerv der Zeit aus. Der Adel verfållt und verwildert; das Bürgerthum erstarkt und erhålt eine vorher noch nie geahnte Macht und Bedeutung.

Philipp, Herzog von Orleans, war eine begabte, aber verzerrte Natur. Seine Mutter, die wackere Pfalzgråfin Elisabeth Charlotte, hat mit Anspielung auf eine bekannte Fabel von

ihm gesagt, daß alle guten Feen bei seiner Taufe zugegen ge= wesen und ihn mit ihren holdesten Gaben beschenkt håtten; eine alte håßliche Fee aber, welche man aus Mißachtung vergessen, habe aus Rache den Fluch hinzugefügt, daß alle diese Vorzüge durch ebenso starke Laster wieder verdunkelt und aufgehoben werden sollten. Diese Fabel hatte sich fast wörtlich an ihm erfüllt. In früher Jugend hatte er sich glänzend als Feldherr bewährt; aber der König wollte nicht, daß einer der Prinzen ihn selbst an kriegerischem Ruhm überstrahle. Der aufstrebende junge Held, zu thatenlosem Müßiggang verdammt, suchte die Befriedigung seines Ehrgeizes in prahlerisch wildem Sinnenleben. Der Leichtfinn führte zur Schlechtigkeit. Seine Ruchlosigkeit war so weltbekannt, daß die öffentliche Meinung ihm sogar die plößlichen Todesfälle des Dauphins und des Herzogs von Burgund ins Gewissen schob. Und in demselben wüsten Leben beharrte er, auch nachdem er die Zügel der Regierung ergriffen. Gegen die Abendstunden schloß er sich mit seinen Maitressen, mit Sångerinnen und Tänzerinnen und zehn oder zwölf seiner Vertrauten, welche er seine Roués, d. h. seine Galgenvögel nannte, in seine Gemächer. Jeder Abend war eine freche Orgie. Die abscheulichsten Zoten und Gotteslåsterungen waren der Grund und die Spike aller Witworte. Zuleht regelmäßig die allgemeinste Trunkenheit. In diesen tobenden Strudel wurde auch die Verwaltung des Staa= tes hineingezogen. Frankreich wurde der Spielball und der Tummelplak jener unseligen Menschenklasse, für welche die französische Sprache damals den treffenden Namen der Chevaliers d'industrie erfand. Dubois, der Lehrer und sodann der allgewaltige Minister des Regenten, war nichts als ein solch niedriger Abenteurer, durch das Lafter emporgekommen und durch das Laster sich behauptend, immer nur eigensüchtig und landesverrätherischer Käuflichkeit offen. Law, der berüchtigte Finanzmann, voll tiefer Blicke in das Wesen des Geldmarkts und von unzweifelhaft genialen Plånen,

stürzt das Land in die furchtbarste Erschütterung und unterwühlt alle Besitzverhältnisse, blos weil er die Welt immer nur mit dem Auge eines am Abgrund stehenden, tolldreisten Spielers zu betrachten gewohnt ist. Selbst ernste und erfahrene Månner glauben, nachdem alle üblichen Finanzkunststücke erschöpft sind, zu einem allgemeinen Staatsbankerott rathen zu dürfen. So ausschließlich dachte man mit Verhöhnung aller Pflicht und Redlichkeit nur an den nächsten und augenblicklichen Genuß und Vortheil.

Lesen wir die Romane und Denkwürdigkeiten jenes Zeitalters, so sehen wir mit Schrecken, wie entseßlich diese wüsten Zustände besonders auf die höheren Schichten einwirkten. Jene wilde Lust und Zerstreuungssucht, welche in den Räumen des Palais Royal hauste, ergoß sich über die ganze vornehme Gesellschaft. Der Adel Ludwigs XIV. sticht besonders durch die liebenswürdige und anziehende Mischung von alter Ritterlichkeit und jener feinen Galanterie hervor, welche mit der italienischen Kunst und Bildung nach Frankreich gekommen war. An Ausschweifung und Sinnenlust fehlte es schon damals nicht; die frömmelnde Strenge der lezten Jahre hatte diesen Hang nur verdeckt, nicht unterdrückt; aber die anstrengenden Wechselfälle unausgesetzter Kriege und der Zwang einer steifen und festgeregelten Etikette hatten ein heilsames Gegengewicht geboten. Nun aber war der Krieg, welchen der Adel noch immer als seinen ausschließlichen Beruf betrachtete, seit einer Reihe von Jahren endlich verstummt. Die alten adligen Ueberlieferungen von Ehre und Ritterlichkeit erblichen. Die Law'schen Geldunternehmungen lockten aus der Ruhe des festen Besitzes zu schwindelnden Wagnissen. Man suchte fortan die Aufregung und die Beutesucht des Krieges in der Aufregung und in dem Gewinn des Spiels, wie das Ritterliche überhaupt in den noblen Passionen und in lårmenden Vergnügungen. Der Udel lebte fast nie auf seinen Gütern, so wenig wie

die höheren Offiziere in ihren Garnisonen und die höhere Geistlichkeit in ihren Bisthümern. Die ganze vornehme Welt sammelte sich in Paris an. Auch die Frauen folgen demselben Taumel. Das Beispiel der Herzogin von Berry, welche ihre Liederlichkeit so schamlos zur Schau stellte, daß sie sogar im Verdacht stand, mit ihrem Vater, dem Regenten, in strafbarem Verhältniß zu leben, war nicht vereinzelt. Es giebt Heirathsvertråge aus jener Zeit, in welchen die Frau den ståndigen Winteraufenthalt in Paris zur ausdrücklichen Bedingung machte. Die Palåste der vornehmsten Familien, der Carignan, der Nassau, der Armagnac, der Listenc und Anderer wurden die allgemein bekannten Freiståtten der Spieler und Bankhalter; im Jahre 1722 wurden sogar acht öffentliche Spielhäuser (Académies de jeux) errichtet. Im Jahre 1716 wurden die öffentlichen Maskenbålle eingeführt; der Chevalier von Bouillon, ein Neffe des alten Türenne, erhielt eine jährliche Pension von sechstausend Livres für den geistreichen Gedanken, die Theater zugleich als Ballsåle zu benußen. Oper und Ballet wurde die wichtigste Tagesfrage. Mule Pelissier, Mule Salé, Mue Camargo, ihre Reize und ihre Verführungskünste beschäftigten die lüsterne Unterhaltung der Salons und die schlüpfrigen Madrigale der Dichter. Was noch von Heiligkeit der Ehe und von friedlichem Familienglück vorhanden war, verschwand bis auf den lehten Rest. Gegenseitige Liebe und Treue galt als spießbürgerlich und beschränkt. Der Mann lebte mit den freudespendenden Töchtern der Oper und des Ballets, die Frau mit vertrauten Hausfreunden. Das merkwürdige Tagebuch, welches der Advocat Barbier von 1718-62 führte, (Journal historique et anecdotique du règne de Louis XV, Paris 1847-52) ist in dieser Hinsicht von sehr bedeutsamer Unbefangenheit. „De vingt seigneurs de la cour," sagt Barbier, „il y en a quinze, qui ne vivent point avec leur femmes; rien n'est plus commun, même entre particuliers." Und rühmt

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